Zielloses Missvergnügen
Über das Elend deutscher Politik
Der „dröhnende, pausbäckige, gedankenlose Pragmatismus der neunziger Jahre“ hat die beiden
großen Volksparteien, die SPD wie die Union, in eine tiefe Sinnkrise geführt, auch wenn das bei
der Union gegenwärtig noch nicht so sichtbar ist. Die notwendigen Reformen, die auch Verzicht
auf viele Annehmlichkeiten bedeuten, lassen sich aber, so der Göttinger Politikprofessor Franz
Walter, nur durchsetzen, wenn der Bevölkerung ein einleuchtendes und richtungweisendes Konzept
präsentiert, wenn die Politik mit Sinn erfüllt werden kann.
Hier soll über das „Elend deutscher Politik“ geschrieben werden. So jedenfalls lautete die provisorische Überschrift, die die Redaktion dieser Zeitschrift dem Verfasser bei ihrer Anfrage mit auf den Weg gab. Besonders motivierend schien das zunächst nicht.
Warum eigentlich schrieb kaum jemand, fragte man sich vielmehr, dass die alte, nachgerade verrufene bundesdeutsche Konsensrepublik in ihrem letzten Jahr, nämlich 1989, weit mehr Wachstum und Arbeitsplätze, aber erheblich weniger Erwerbslosigkeit und Inflation aufwies als das Großbritannien von Margaret Thatcher im damals immerhin schon zehnten Jahr der nach wie vor von den deutschen Eliten wollüstig gepriesenen „Revolution“ jener Eisernen Lady?1 Warum liest man kaum einmal, dass seither die Zahl der Arbeitsplätze im Westen Deutschlands um mehr als 1,5 Millionen angestiegen ist, dass es mit der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Unternehmen hier weiterhin keineswegs schlechter gestellt ist als in Großbritannien oder auch in den USA, trotz aller vermeintlichen Überregulationen und Etatisierungen der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft?2
Nun sollte die Ökonomie nicht das Thema des Verfassers sein. Aber sind für die Politik die schrillen Unheilsprophetien nicht ebenso verfehlt, in ihren Negativurteilen über die Leistungen der Regierenden nicht geradezu maßlos? Schließlich sind diejenigen Minister, die im Jahre 2004 an der Spitze klassischer Ressorts stehen, keineswegs schlechter als ihre Vorgänger in den, sagen wir, fünfziger, siebziger oder neunziger Jahren. Und auch der Kanzler selbst übertrifft an Energie, Härte, Reaktionsschnelligkeit, winkelzügiger Schlitzohrigkeit – alles wichtige Tugenden und Fähigkeiten für einen Politiker ganz vorn – gewiss gleich mehrere aus der Galerie bisheriger Regierungschefs. Und Regierungspannen sind keineswegs eine besonders beklagenswerte Eigentümlichkeit des gegenwärtigen Kabinetts, sie sind eine ganz gewöhnliche, völlig unvermeidliche Konstante von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, mit Höhepunkten vermutlich unter dem nur vermeintlichen „Macher“ Helmut Schmidt in seinen letzten beiden Jahren und dem großen Patriarchen Konrad Adenauer in seinen letzten vier Jahren, die von den Zeitzeugen gewiss als nicht weniger quälend empfunden wurden als die handwerklichen Fehler derzeit.3 Es ist also in der Tat alles viel weniger erstmalig, aufregend, katastrophisch, dramatisch, wie es im mitunter hysterischen Konzert der Medien- und Meinungseliten in diesen Wochen und Monaten klingt.
Implosion der Volksparteien
Einerseits jedenfalls. Doch andererseits gibt es zugegebenermaßen einige Indikatoren für veritable Probleme im politischen System der deutschen Bundesrepublik. Man hat diese Demokratie oft als eine Parteiendemokratie beschrieben. Und ohne Zweifel hing die Stabilität der Republik an der Stabilität besonders der beiden Volksparteien. Die Stabilität der beiden Volksparteien wiederum wurzelte in der Loyalität spezifischer Gruppen, in der Bindekraft besonderer Weltanschauungen, die gewissermaßen vorvolksparteilichen Ursprungs waren: bei der CDU/CSU waren das kirchengebundene Bundesbürger mit dezidiert christlich-bürgerlichen Einstellungen; bei der Sozialdemokratie war das die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse mit einem sozialistisch-solidargemeinschaftlichen Ethos.
Doch ganz offenkundig versiegen nunmehr diese Quellen traditionsgestifteter Integration der Volksparteien. Am härtesten und frühesten hat der Verschleiß des Integrationskerns bislang die Sozialdemokraten getroffen. Seit 1990 hat die Partei rund 300000 Mitglieder verloren, etwa ein Drittel ihres damaligen Bestands.4 Bei einigen der letzten Regionalwahlen dezimierte sich ihr Wähleranteil um mehr als zehn Prozentpunkte, was man in dieser Bündelung allein aus den Kinderjahren der Bundesrepublik kannte. In einigen Bundesländern (Bayern, Sachsen) und bei den bundesweiten Umfragen im Frühjahr 2004 erreicht die SPD im Prinzip schon kein volksparteiliches Niveau mehr.5
Alarmierend für die Partei ist, dass ihr gerade die klassischen Kernschichten von der Fahne gehen. 130 Jahre lang war die industrielle Arbeiterklasse die soziale Basis und der ideologische Fokus schlechthin für die SPD. Auch in den übelsten Weimarer Jahren blieb dieses industrieproletarische Fundament stabil, trug die Partei durch alle politischen Turbulenzen und sozialen Erschütterungen. Die SPD hatte im Sommer 1932 nicht weniger Mitglieder als im Sommer 1928, nach vier Jahren härtester Krise also.6 Doch jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist die Arbeiterschaft in einem Umfang und einem Tempo auf der politischen Flucht wie vergleichbar nur die gewerblichen Mittelschichten von 1924 und 1930. Die Volatilität der deutschen Mittelschichten hat in den Weimarer Jahren die republikanische Mitte unterminiert. Der Exodus der Arbeiter und Unterschichten gefährdet nun, wie seit Monaten zu beobachten, zumindest die Mehrheitsfähigkeit, aber mehr noch: die Stabilität und Identität der Sozialdemokratie. In gewisser Weise implodiert die Partei. Doch ist das nicht allein eine innersozialdemokratische Angelegenheit. Denn nochmals: Die jahrzehntelange Stabilität der Republik beruhte auf der Konsolidität beider Volksparteien, auf ihrer Fähigkeit und Überzeugungskraft zur politisch und sozial weit ausgreifenden Integration.
Bricht der eine Stützpfeiler weg, dann halten über kurz oder lang auch die anderen nicht mehr. Die Union profitiert zwar derzeit demoskopisch von den Einbrüchen der Sozialdemokraten. Doch im Grunde müsste sie sich über den Verfall der anderen Volkspartei ernsthaft Sorgen machen. Aber auch in der CDU/CSU werden in den nächsten Jahren die Traditionskerne mächtig bröckeln, die Stammwählerschaften massiv zerbröseln. Denn der Anteil der kirchengebundenen oder kirchennahen Menschen in Deutschland ist in der Generationenfolge zuletzt erdrutschartig abgesunken. Bei den bundesrepublikanischen Katholiken, die das 30. Lebensjahr noch nicht überschritten haben, ordnen sich nur noch 18% dem Lager der mindestens mittelbar Kirchenverbundenen zu. Bislang aber liegt in der Gesamtbevölkerung der Durchschnitt bei ca. 55% – was ziemlich exakt dem Wähleranteil der Christlichen Union in diesem Teil des Wahlvolks entspricht.7 Die praktizierte Kirchlichkeit war über Jahrzehnte der alles entscheidende Stoff für die Loyalität zur Union; dieser Stoff wird bis zum Ende des Jahrzehnts kursorisch zur Neige gehen. Insofern könnte die sozialdemokratische Implosion bald eine christdemokratische Parallele finden.
Unheilsszenarien
Nun wirkt ein solches Unheilsszenarium aus der Perspektive dieser Tage weit übertrieben, geradezu neben der Realität liegend. Die Union steht schließlich in den aktuellen Umfragen eher vor der absoluten Mehrheit der Regierungsmacht als vor dem Abgrund einer in sich zusammenfallenden Partei. Doch eine kraftvolle, kohärente Partei, die zielstrebig eine neue Ära und Agenda bürgerlicher Reformen anstrebt und dabei auf der Welle aktiver und mehrheitlicher Unterstützung der bundesdeutschen Bevölkerung reitet, ist die CDU nicht. Sie reüssiert augenblicklich vielmehr als ein hochfragiles Sammelbündnis der Frustrierten aller Lager. Es sind die aus ganz verschiedenen Motiven gespeiste Wut und Verbitterung über Rot-Grün, die die Werte für die Union in die Höhe treiben, nicht der entschlossene Impetus für eine radikale Reform der altsozialstaatlichen Institutionen und Regelwerke.
Auf der einen Seite des christdemokratischen Sammel- und Frustrationsbündnisses stehen kleine, aber ökonomisch bedeutsame, artikulationsmächtige Gruppen des gewerblichen Bürgertums, denen Schröders Reformen nicht schnell genug gehen, nicht tief genug ansetzen, nicht rigide genug in ihrer Reichweite und Begründung sind. Ein großer Teil der CDU-Führung würde sich diese politische Interpretation wohl zu eigen machen.
Aber so recht traut er sich dann doch nicht. Denn in der neuen Wählerschaft der Christlichen Union überwiegt eine andere Mentalität und Erwartungshaltung. Die Union ist in den letzten Jahren, fast flächendeckend von Nord bis Süd, zur Mehrheitspartei der Arbeiter und auch der (formal) Ungebildeten geworden, also von vielen Verlierern und Verlorenen des ökonomischen Wandels. Dieses Wählersegment verspricht sich von der CDU Schutz und Sicherung – wie es ihm von der CDU in den alten Zeiten von Adenauer bis Helmut Kohl stets auch instinktsicher zugesichert wurde.8 Man erinnert sich an den typisch christdemokratischen Slogan: „Keine Experimente“. Auch ist die Mehrheit der christdemokratischen Wähler älter als 60 Jahre, wie es sich zuletzt in Hamburg bei den Bürgerschaftswahlen zeigte, die insofern für die CDU keineswegs ein Zeichen juveniler oder neumittiger metropoler Zustimmung bedeuteten.9
Insgesamt ist das Vertrauen in die Kompetenz der Union bemerkenswert dünn. Ökonomisch und gouvernemental traut ihr eine klare Zweidrittelmehrheit der Deutschen nicht mehr zu als der gegenwärtigen Regierung. Die christdemokratischen Vorschläge zur Gesundheitsreform werden von drei Vierteln der Bundesbürger schroff abgelehnt. In der Rentenpolitik ist es nicht anders.10 Und selbst die von allen ökonomischen Eliten besonders angefeindete Paradeforderung der SPD-Linken nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer stößt auf eine mehrheitliche Zustimmung – nicht nur bei den Bürgern insgesamt, sondern auch innerhalb der Wählerschaft der Christlich-Demokratischen Union selbst.11
Mit der Union als Regierungspartei wird die Republik nicht den Aufbruch in eine wirtschaftsliberale Radikalreform erleben. Andernfalls würde die Union unmittelbar ihren Charakter als Volkspartei verlieren (wofür im Übrigen die rigoroser gewordenen wirtschaftlichen Eliten seit den neunziger Jahren kaum mehr Sensibilität und Blick haben). Entscheidend aber ist die Ziel- und Richtungslosigkeit der christdemokratischen Oppositionssammlung. Parteieliten und Wähler(-mehrheit) weichen weit voneinander ab, was die Intentionen der Politik angeht. Doch sie eint der Antieffekt gegen die Regierung.
Man kannte das schon, aus dem anderen Lager, 1998, als die Wahl von Rot-Grün im Grunde ebenfalls seismographisch blass blieb, ebenfalls kein scharfer Ausdruck einer pointierten Neuausrichtung war. Diese Unschärfe des Machtwechsels begründete dann die erratischen Pendelausschläge seither, die vielen, oft unvermittelten, unerklärten Policywechsel, aber eben auch das fragmentierte, unstrukturierte und ziellose Unbehagen daran. Die Kritik an der Regierung verliert an sozialmoralischer und normativer Voraussetzung, Substanz und Perspektive, aber auch die alternativen Erwartungen an die Opposition laufen auseinander, sind ohne innere Ordnung und Kohärenz.
Sinnverlust der Politik
Wahrscheinlich liegt hier der Kern der Krise von Politik und Parteien in Deutschland (und etlichen anderen Demokratien ebenso): die Sicherheit von Sinn und Ziel, die den politischen Alternativen früher kontrastscharf zugrunde lag, ist verloren gegangen. Doch Sinn ist neben dem Drang nach Macht der primäre Treibstoff für den politischen Einsatz. Sinn ist die elementare Ressource für Engagement, Anstrengung, Leistung, Altruismus, Leidensfähigkeit, Solidarität, Ehrgeiz, Kreativität. Das alles wissen wir hinlänglich aus der Religionsgeschichte, der Philosophie, der modernen psychologischen Forschung.12 Die klassischen Parteien – gerade die sozialdemokratischen und christlichen Parteifamilien – haben es ebenfalls, nahezu naturwüchsig, gewusst und daher rund 150 Jahre alle Zäsuren der Politik- und Gesellschaftsgeschichte unbeschadet überstanden. Denn sie hatten den Mörtel des die Gegenwart weit transzendentierenden Sinnes, der aus Individuen überhaupt erst handlungsfähige und verbindlich organisierte Assoziationen machte, die auch dann noch beieinander blieben, als die unmittelbaren (materiellen) Interessen schon realisiert waren.
Doch damit scheint es jetzt vorbei zu sein. Die großen Sinnperspektiven von Sozialdemokraten und Christdemokraten (Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie hier; Heimat, Nation und Christentum dort) haben sich entweder erledigt oder sind trivialisiert, gar diskreditiert. Und neuer Sinn, der die Mitglieder wieder beflügelt, steht nicht bereit. Dazu fehlen die großen homogenen Soziallagen, aus denen holistische Weltanschauungen überhaupt nur entstehen können. Dazu fehlt es unter dem Diktat flüchtiger sozialer Beziehungen auch an „Gleichheit und Kontinuität in der Zeit“ (Erik Erikson), die Identität und Sinn schaffen.13 Und der Sinnverlust ist gewiss ebenfalls Folge jenes dröhnenden, pausbäckigen, gedankenlosen Pragmatismus der neunziger Jahre, der von großen Utopien wohl zu Recht nichts wissen wollte, dabei aber, gewissermaßen in einem großen Ausverkauf, alles programmatische Denken, jeden konzeptionellen Entwurf gleich mit entsorgte.
Der sinnentleerte Pragmatismus hat der Politik und den Parteien die normativen Fluchtpunkte genommen. Nicht zuletzt deshalb ist die „Reformpolitik“ beider Volksparteien so unpopulär, so gering an Unterstützung. Denn die Parteien können nicht angeben, wohin die Reise gehen soll, wo sich das „gelobte Land“ am Ende der Wüste aus Sparsamkeit, Einschränkungen, Verzicht und Abbau befindet, wie es dort aussieht oder auch nur aussehen sollte. Doch gibt es in der Geschichte wenig Beispiele, dass ohne Positivbotschaften und faszinierende Leitideen, ohne ein Credo des Besseren reformerische Energien und kreative Kräfte freigesetzt worden wären.14 Aber selbst unter den Protagonisten der Agenda 2010 ist unklar, ob diese Politik mit dem Ziel einer Sanierung und Stärkung des Sozialstaats umgesetzt wurde; oder ob der Sozialstaat reduziert, eingeschränkt, zurückgeschnitten werden soll, weil er Freiheit behindert, Eigenverantwortung erstickt, Investitionsneigungen lähmt, wie es bei den „Reformern“ oft heißt. Innerhalb der SPD-Elite werden, zumindest in Vieraugengesprächen, beide Ansichten kolportiert. Aber eben diese Sinnindifferenz, diese Zielunschärfe hat die sozialdemokratischen Mitglieder deaktiviert, die Multiplikatoren verstummen lassen, die Parteiorganisation ermattet und erschöpft. Der Sinnverlust ist der Ausgangspunkt für die Implosion der Parteien.
Defizite und Probleme
Die Volksparteien hatten nicht nur ihren früheren Sinnstoff verloren, sondern auch – vielleicht gerade dadurch – viel an kraftvoller Repräsentation verschiedener Lebensbereiche. Aber mit diesem Verlust an Repräsentationsfähigkeit stellen sie sich, stellen sie jedenfalls ihren Anspruch, Volksparteien zu sein, zunehmend in Frage. In ihren Glanzzeiten aggregierten und verklammerten die Volksparteien ganz verschiedene Generationen, Lebenserfahrungen, Biografien, auch Soziallagen und Wertebegründungen. Sie holten exponierte Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen in ihre Führungsmannschaften, ebenso hervorragende Gewerkschaftler und erfolgreiche Unternehmer; es gab einige glänzende Intellektuelle, mehrere Vordenker neuer außenpolitischer Wege. Viel ist davon nicht übrig geblieben; der soziale und kulturelle Zuschnitt der Volksparteien hat sich enorm verengt und vereinseitigt. Der Typus des Parteiintellektuellen ist rar geworden. Profilierte Sozialpolitiker, aber auch Ökonomen existieren, hier wie dort, kaum noch. Außenpolitische Strategen und Konzeptionalisten, die sich früher in übergroßer Zahl in der Politik tummelten, lassen sich in den beiden Volksparteien nur noch unzureichend auftreiben.
Die Parteien sind nicht nur an Profil und Köpfen ärmer geworden, sondern auch an Strömungen und Flügeln, die früher kraftvoll und vital die Einstellungen und Lebensformen unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebensbereiche in die Arena der Politik hineinvermittelten. Der Niedergang innerparteilicher Strömungen hat allerdings auch etwas mit dem Siegeszug der modernen Mediengesellschaft zu tun, die einen neoautoritären, planierenden Zug in die Politik gebracht hat. Denn Parteien fürchten die dramatisierende Schlagzeile im Gefolge von Flügelstreitigkeiten, als Reaktion auf ernste und lange innerparteiliche Kontroversen. Eine Partei, die heftig disputiert, gilt in der Mediengesellschaft als heillos zerstritten, dadurch als regierungs- und politikunfähig. Also hegen Parteien den Streit ein, fesseln Richtungen und Strömungen und reduzieren somit gesellschaftliche Realität.
Überdies beschädigen sie dadurch wohl auch die Sozialisation des Führungsnachwuchses. Die großen politischen Anführer kamen oft genug aus dem Chaos, aus der unerbittlichen Rivalität, dem ätzenden Säurebad von Kontroversen, Intrigen und Auseinandersetzungen. Die Intrige mag in den Volksparteien übrig geblieben sein, die scharfen Diskussionen, der ambitiöse Streit um Themen und Positionen indessen hat an Bedeutung erheblich verloren. Gehärteter Führungsnachwuchs, der sich irgendwann im brutalen Haifischbecken der großen Politik behaupten muss, geht aus solchen stillgelegten Parteien nicht hervor.15 Hinzu kommt: Die Kraftnaturen einer Generation zieht es nur dann in die Parteien, wenn Politik als Hebel, als archimedischer Punkt für Einfluss und Veränderungen gilt. In diesem Ruf stand die Politik noch bis in die achtziger Jahre. Im Jahrzehnt danach aber überwogen die Enttäuschungen über die mittlerweile frühen Grenzen der Politik, stattdessen dominierten nun die hohen Erwartungen an die Möglichkeiten einer neuen Ökonomie. Die Politik verlor also an Macht und Potenz, infolgedessen an ehrgeizigen vorwärtsdrängenden Begabungen. Auch das hat die Parteien weiter geschwächt.
Fragmentierung der Macht
Politische Kommentatoren lamentieren in gefälligen Statements gerne über die Machtfülle und Machtverliebtheit der Politik. Doch leidet Deutschland keineswegs an einem Übermaß an politischer Macht, sondern im Gegenteil an einem Defizit politischer Handlungs-, Gestaltungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten. Es ist der schleichende Machtverlust der Politik während der letzten zehn bis zwanzig Jahre, der die politische Klasse allmählich ausgedörrt, die Parteien entleert hat. Nochmals: Parteien brauchen, um kräftig, zielstrebig, massenhaft in die Kampagne gehen zu können, scharf geschnittene Konzepte, deutlich abgegrenzte Alternativen, weit ausgeworfene Orientierungen – und den festen Glauben, dies dann mit den Hebeln der Macht auch umsetzen zu können. All das macht politische Formationen kohäsiv, selbstbewusst und vital. Und in Wahlkampfzeiten simulieren Parteien auch gleichsam, als würden sie über dergleichen noch verfügen.
Doch nach dem Wahltag ist es schnell damit vorbei. Denn für das politische System Deutschlands sind kontrastscharfe politische Entwürfe und Gegenentwürfe geradezu kontraproduktiv. Als Regierungspartei in einer kleinen Koalition würde man damit allein Stagnation, ein „rien ne va plus“ auslösen. Denn die eine große Partei braucht in aller Regel die andere große Partei. In keinem anderen Land der Welt ist das machtpolitische Instrumentarium für eine Zentralregierung so begrenzt wie hier zu Lande.16 Es wimmelt bekanntermaßen von institutionell begünstigten Vetomächten, die sich seit der Europäisierung der politischen Entscheidungsprozesse zudem noch weiter vermehrt haben.17 Bund und Länder sind überdies eng verflochten. Und so braucht die Bundestagsmehrheit beinahe zu allen entscheidenden Gesetzen die Mitarbeit und Zustimmung der Bundesratsmehrheit. Die Mehrheiten in den beiden Gesetzgebungskammern sind aber seit den frühen siebziger Jahren überwiegend nicht mehr identisch. Also müssen die Bundesregierung und die große Oppositionspartei – die strukturell in Deutschland in einem Maße exekutiv eingebunden ist wie in keinem anderen politischen System und das nicht nur über den Bundesrat, sondern auch durch ihren Einfluss in weiteren öffentlichen Einrichtungen und halböffentlichen korporatistischen Strukturen – kooperieren. Versucht Regierungspolitik, etwas Anderes auf den Weg zu bringen, riskiert sie die Konfrontation, dann landet sie in aller Regel in der Blockade. Ordnungspolitik per Konfrontation bringt, so wie Deutschland verfasst ist, nicht den erwünschten Befreiungsschlag. Im Gegenteil: Eine Politik des Konflikts aus der Regierung heraus verstärkt noch die Paralyse, die depressive Lage des Nichts-geht-mehr.
Die großen Parteien dürfen also gar nicht mit zu scharf geschnittenen, in sich kohärenten politischen Programmen und Strategien aufeinanderstoßen, da es die systemstrukturell verlangte Kooperation gefährden würde. Eigentlich gibt es sogar den Imperativ zur großen Koalition, die aber gerade bei den Meinungseliten nicht wohlgelitten ist. So finden sich dann die Parteien oft lediglich oder bestenfalls zu einer Art Waffenstillstand zusammen. Doch „Waffenstillstände sind keine Zeiten produktiver, ja kühner Gemeinsamkeiten“.18 Die Fragmentierung von Macht führt in Deutschland infolgedessen häufig zu einer Begrenzung der Politik, wenn es gut geht: zu einem inkohärenten Kompromiss auf kleinem Nenner.
Falsche politische Maßstäbe
Institutionell also ist die deutsche Politik für den großen konzisen Wurf, für den wuchtigen Befreiungsschlag, die generalstabsmäßig verfasste Strategie, auch für die professionell stringente Umsetzung schlecht gerüstet. Doch erwarten die meisten Menschen eben all das von Politik – und sind über die Realität dann chronisch enttäuscht. Das Bild von Politik, das in der deutschen Gesellschaft vorherrscht, hat mit der Wirklichkeit und den Möglichkeiten deutscher Politik wenig zu tun. Die Vorstellung von Politik ist auch in Deutschland „westminsterisch“ gefärbt.19 Denn schon in der Schule erklären ganze Tausendschaften von Sozialkundelehrern den Schülern die Demokratie am Beispiel des britischen Westminster-Modells. Dort gibt es das Mehrheitswahlrecht; da ist die eine in Wahlen erfolgreiche Partei, die an der Spitze des Zentralstaats dann ungestört durch lästige Koalitionszwänge und föderale Beschränkungen über die gesamte Legislaturperiode hinweg die Möglichkeit besitzt, ihr politisches Programm konsistent zu verwirklichen und die Gesellschaft tief zu durchdringen. So konnten Thatcher und Tony Blair agieren; so aber war es für Schröder oder auch Kohl nicht möglich; und so wird es für Edmund Stoiber oder Angela Merkel ebenfalls nicht gehen – und das schafft Verdrossenheit.
Die Mediengesellschaft füttert diese Verdrossenheit noch. Die moderne Mediengesellschaft kreiert und festigt ein Bild von Politik, dass nicht einmal „westminsterisch“ ist, sondern schlicht vormodern, ja unaufgeklärt. In den mediengesellschaftlichen Bildern gibt es stets allein die eine Hauptstadt, die eine Regierungsmacht, den einen Regierungschef. Auf diesen einen Punkt konzentrieren sich alle politischen Kommentare und Erwartungen wie zur Zeit nicht weiter differenzierter Gesellschaften. Der Staat ist in dieser Perspektive immer noch Zentrum und Spitze der Gesellschaft, nicht aber – was die Realität weit mehr trifft – Manager und Koordinator von Interdependenzen hochkomplexer, netzwerkartig verflochtener oder auch unvermittelt koexistierender Subsysteme.
Die Vorstellung von Staat und Regierung als den zentral regelnden, steuernden und prägenden Leitinstanzen der Gesellschaft dominiert den politischen Alltagsdiskurs in Deutschland. Gewiss ist dies die Erwartung der Menschen an Staat, Regierung und Politik seit langen Zeiten. Im Prozess der Modernisierung mit ihrem rasch wachsenden Problemhaushalt hat sich diese Erwartung an den Staat als zügig handelnden und kohärent steuernden Problemlöser noch weiter erhöht. Die Krux allerdings ist, dass im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Steuerungsbedarf moderner Gesellschaften zwar erheblich angewachsen ist, die Steuerungskapazitäten des modernen Staates aber im gleichen Umfang abgenommen haben. Man erinnert sich an den alten Staat der Vormoderne und verlangt, was der moderne Staat gar nicht mehr bieten und leisten kann – besonders nicht in Deutschland.20
Und doch bildet in Deutschland der handlungssouveräne und handlungsautonome Zentralstaat den Maßstab des politischen Kommentars. Zugleich aber denkt keine einflussreiche Kraft in der deutschen Republik ernsthaft daran, die institutionellen Voraussetzungen dafür herzustellen. Niemand tritt in Deutschland für die Abschaffung der vielen Regionalwahlen ein, für die Liquidierung des Föderalismus, für die Beseitigung oder auch nur die Reform des Bundesverfassungsgerichts und der autonomen Notenbank. Oder gar für den Austritt aus dem Gremiengeflecht der Europäischen Union. Für eine solche, fraglos absurde Systemtransformation gibt es nirgendwo einen gesellschaftlichen oder politischen Motor. Das aber macht die Fundamentalkritik in Deutschland an der Kooperations- und Konsenspolitik, an der unvermeidlich langwierigen Verhandlungsdemokratie so richtungs- und wirkungslos. Alle haben sich stillschweigend auf die Voraussetzungen der föderalen Verhandlungs- und Konkordanzdemokratie eingestellt, weil ihre unzweifelhaften Stabilitätsvorteile höchst angenehm sind, aber alle tun rhetorisch trotzdem so, als wünschten sie eigentlich die zentralstaatlich orientierte Wettbewerbsdemokratie, um kraftvolle Innovationen und Reformen zustande zu bringen.
Doch wäre es unter scharfen wettbewerbsdemokratischen Bedingungen – die im Übrigen bei hochkomplexen gesellschaftlichen Problemen wie die der Gesundheitspolitik bislang auch keine besseren oder schnelleren Lösungen hervorgebracht haben – dann vorbei mit der kommoden Stabilität der politischen Kultur.21 Es wäre vorbei mit Konsens, sozialem Frieden, Integration und Ausgleich, was in Wahrheit die Deutschen doch so über alles schätzen. Minderheiten jedenfalls haben in zentralistischen Wettbewerbsdemokratien nichts zu lachen; sie werden politisch chronisch vernachlässigt und benachteiligt, ja untergebuttert. Und oft genug werden in harten Wettbewerbsdemokratien mit starker Zentralmacht eben mangels geduldiger Kooperation und austarierendem Konsens die Gesetze überstürzt und schlampig im wilden Parforceritt durch die Parlamente gepeitscht. Solcherlei Fundamentalreformen – und warum sollten Reformen per se gut und richtig sein? – stiften am Ende mehr Schaden als Nutzen und sind schließlich nur noch schwer zu korrigieren, meist allein nach empörten öffentlichen Massenprotesten, oft gar militant geführten Streiks.
Nichts davon wollen die vorsichtigen und ängstlichen Deutschen natürlich ernsthaft. Und doch ist die zentralstaatliche Wettbewerbsdemokratie Kriterium und Parameter des politischen Diskurses in Deutschland, am Stammtisch so gut wie in den Zeitungsredaktionen. Politik wird hier wie dort an Kriterien gemessen, die sie in Deutschland nicht erfüllen kann und vermutlich nicht einmal soll. So werden auch künftig die Schlauberger der Republik weiter ganz folgenlos schimpfen und nörgeln – und laut nach den großen Reformen schreiben, die sie im tiefsten Innern doch so furchtbar fürchten. Dem wütenden Lamento fehlen demzufolge Maß und Ziel. Zurück kann nur die folgenlose Depression bleiben.
Ambivalente Mentalitäten
Vielleicht ist das überhaupt der Kern der deutschen Malaise: die Ziellosigkeit des kollektiven Missvergnügens. Der Unzufriedenheit fehlen Struktur, Plan und politischer Realismus. Ein ganzes Volk ist übel gelaunt, weiß aber nicht recht, was es eigentlich wirklich will, um aus der Tristesse der Seelendämmerung herauszukommen. Der Souverän der deutschen Republik steckt voller Ambivalenzen. Seit Jahren bekundet eine Mehrheit der Bürger die grundsätzliche Zustimmung zu einer Politik der Reformen. Dem Gros der Bundesdeutschen geht, wird es ganz grundsätzlich befragt, sogar die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung nicht weit genug.22 Nun ist nicht ganz auszuschließen, dass die Mehrheit der Deutschen eine ganz andere Definition von „Reform“ im Kopf trägt als all die Professoren der Betriebswirtschaftslehre, Journalisten, Unternehmensberater, Altbundespräsidenten. Interessanterweise haben dies die Meinungsforschungsinstitute bislang nicht einmal erkundet.
Zumindest lehnt die Mehrheit der Deutschen, die sich grundsätzlich für Reformen ausspricht, nahezu alle präzisen Reformvorschläge und Reformgesetze der Regierungskoalition und der Opposition ab – und das mit Aplomb.23 Die Reform des Gesundheitswesens, ob nun nach rot-grünen oder schwarz-gelben Vorstellungen, wird von rund 70 Prozent der Bevölkerung wütend negiert. Renate Köcher vom Allensbacher Meinungsforschungsinstitut bezeichnet den Lieblingsbegriff sämtlicher „Reformer“, nämlich „Selbstbeteiligung“, als ressentimentbesetztes Reizwort für die Menschen in Deutschland.24 Die Unterstützungsquote für manche Reformen im Gesundheitswesen, etwa die Streichung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherungen, liegt nur knapp oberhalb der parlamentarisch sonst so heiklen Fünf-Prozent-Hürde.
Ähnlich sieht es mit der Resonanz zu einem weiteren, von Reformideologen gern lancierten Vorschlag aus: der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Für Chefredakteure, Universitätsprofessoren, Spitzenpolitiker, Bankenchefs, die allesamt in kreativen, einflussreichen, interessanten Jobs arbeiten, mag es reizvoll sein, noch ein paar Jährchen länger zu arbeiten und dadurch den sonst drohenden Verlust ihrer Führungsposition ein wenig aufschieben zu können; der Rest aber – rund 90% der Bevölkerung – macht in Umfragen unmissverständlich klar, dass er keinen Tag länger als nötig im Büro oder in den Werkhallen auszuhalten gedenkt. Auch hier ist es bemerkenswert, wie wenig im öffentlichen (Reform-)Diskurs dieser eklatante Abstand vieler Menschen zur offensichtlich als qualvoll empfunden täglichen Arbeitswelt eine Rolle spielt. Hingegen bekommt die SPD-Linke, die es als handlungsfähige Struktur schon gar nicht mehr richtig gibt, Zustimmungswerte wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Etwa zwei Drittel der Deutschen unterstützen diejenigen Parlamentarier und Politiker der Linken innerhalb der SPD, die die Agenda 2010 wieder korrigieren wollen.25
Die Kluft zwischen den ökonomisch-politischen Eliten auf der einen und einer großen Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen Seite könnte größer kaum sein. Die Reformagenden im oberen Zehntel der Republik stoßen nun schon seit Jahren auf zähen, kaum geschrumpften Widerstand. Aber diese Obstruktion bleibt ebenfalls ohne Ziel, ohne Repräsentation, ohne Struktur. Es gibt in Deutschland eine verbreitete, tief verwurzelte wohlfahrtsstaatliche Mentalität, die sich der neoliberalen Deutungshegemonie stur verweigert, aber es gibt kein selbstbewusst sozialetatistisches Politikprojekt, keine wohlfahrtsstaatliche Parteienalternative, die aus dieser Mentalität realistische Politik zu machen im Stande wäre.
Unfähig zur Alternative
Aber selbst diese Mentalität ist ambivalent, ja antagonistisch. Und wieder sind wir beim Kern der deutschen Malaise, der Richtungslosigkeit und den Widersprüchlichkeiten. Natürlich wäre eine moderne, robuste Wohlfahrtsstaatlichkeit als Alternative zur Agendapolitik der Regierung, erst recht zu angelsächsischen Modellen auch in Deutschland denkbar. Die Räume dafür haben sich unter den transnationalen Bedingungen der Ökonomie und Politik gewiss verkleinert, aber keinesfalls gänzlich verschlossen. Beispiele für reformierte, aber intakte, zielbewusste Wohlfahrtsstaaten sind die skandinavischen Länder mit beträchtlichen Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssektor und vor allem in der Familienpolitik. In der Summe jedenfalls hat sich das nordische Wohlfahrtsmodell den angelsächsischen Projekten signifikant überlegen gezeigt, erst recht dem deutschen Weg, der gerade im Bereich Inklusion, Qualifikation und Demographie erkennbar nicht weiterführt.26
Nun verlangt das skandinavische Sozialmodell allerdings nach umfangreichen Transfers, nach einer hohen Staats- und Sozialquote – daher auch nach erklecklichen Steuereinkünften. Auch ein deutscher Wohlfahrtsstaat wäre künftig allein durch massive Erhöhungen der Steuerquote zu finanzieren. Im Gegenzug könnte man dann allerdings die investitionshemmenden Beitragssätze in den Sozialversicherungssystemen reduzieren. Spielraum für Steuererhöhungen wären durchaus vorhanden, denn im internationalen Vergleich ist Deutschland ohne Zweifel ein Niedrigsteuerland. Doch im politischen Diskurs der Republik gibt es für eine solche wohlfahrtsstaatliche und steuerpolitische Wende, die in der Tat abrupt vom deutschen Sozialversicherungspfad abweicht, wohl keine ernsthafte Chance. Auch die Mehrheit der im Prinzip wohlfahrtlich gesinnten Bürger hat für Steuern und daraus finanzierte aufwändige staatliche Transfers keine Sympathien. Der einzige Reformvorschlag der Koalitions- oder Oppositionsreformer, der in den letzten Jahren wirklich populär war, zielte schließlich auf steuerliche Entlastung. Hierfür fand sich die Unterstützung von 65% der Bevölkerung. Doch gerade das macht die Mehrheitsmentalität in Deutschland politisch richtungs- und ziellos. Diese Mentalität sträubt und sperrt sich zwar hartnäckig und obstinat gegen die meisten auf Deregulierung und individuelle Eigenverantwortung abzielenden Reformen der deutschen Politik. Aber diese Mehrheitsmentalität findet keinen politisch konstruktiven Sinn von sich selbst; sie bündelt, organisiert und formiert sich nicht zu einer politisch schlagkräftigen Alternative; sie verharrt vielmehr in Ambivalenzen und Aporien.
Und so steht die Bundesrepublik in einem tief greifenden Dilemma. In Skandinavien gibt es in der Bevölkerung eine hohe Sozialstaatserwartung, aber auch eine eben so hohe Abgabebereitschaft zur Sozialstaatsfinanzierung; das geht ersichtlich gut zusammen. In den angelsächsischen Ländern dagegen existiert bei den meisten Menschen eine vergleichsweise geringe Sozialstaatsneigung, aber auch eine niedrige Abgabementalität; das läuft ebenfalls trefflich synchron. Die Deutschen indessen haben sich in einer verhängnisvollen Mitte angesiedelt: sie haben auf der einen Seite außerordentlich hohe Ansprüche an den Sozialstaat und seine Leistungsfähigkeit, besitzen aber auf der anderen Seite eine denkbar unterentwickelte Neigung, dafür Zuwendung über Steuern und Abgaben zu leisten.27
Eben das funktioniert nun begreiflicherweise überhaupt nicht. 1997/98 wurde die CDU dafür abgestraft, dass sie die sozialstaatlichen Standards reduzierte; und die SPD triumphierte damals. Seit Anfang 2003 sank die SPD in ein tiefes Umfrageloch, weil sie ihrerseits an den sozialstaatlichen Bestand ging, nachdem ihre zwischenzeitlichen Steuererhöhungsvorhaben das Volk und das ganze Deutungsestablishment der Republik in helle Wut versetzt und auf die Barrikaden getrieben hatten. Davon profitierte diesmal die CDU. Das mag für die Union auch zum nächsten Regierungswechsel reichen. Dann aber dürfte sich das leidige Spielchen lediglich mit erneut verkehrten Rollen weiter fortsetzen. Die Regierungen können die sozialen Standards reduzieren oder sie müssen sich um zusätzliche, anders organisierte kollektive Finanzierungsstrukturen kümmern. Beides aber wird vom deutschen Wahlvolk derzeit gnadenlos negativ sanktioniert.
Exakt darin liegt die Ziellosigkeit der deutschen Politik. Es ist der Sinnverlust dieser Republik, die Richtungslosigkeit der Politik und Gesellschaft insgesamt. Das ist es, was das Land so missgelaunt macht, so nölig, so folgenlos verdrossen, weil es nicht weiß, wohin es geht und weil es über Alternativen ernsthaft nicht einmal nachdenkt.
Anmerkungen
1Vgl. Klaus von Dohnanyi, Wo steht Deutschland nach der Wahl?, in: Zehntes Gesellschaftspolitisches Forum der Banken. Nach der Wahl: Deutschland im Aufbruch?, o.O. o.J., S. 9 ff.
2Vgl. das Interview mit Peter Bofinger, in: Berliner Zeitung, 3.2.2004; vgl. auch Thomas Fricke, Reformkonzentrat für Deutschland, in: Financial Times Deutschland, 5.3.2004.
3Vgl. Franz Walter/Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 8 ff.
4Vgl. Die SPD verlor seit 1990 jedes dritte Mitglied, in: Rheinische Post, 20.2.2004.
5Vgl. <http://www.wahlrecht.de/umfragen> (Stand 30.3.2004).
6Vgl. Walter, Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002, S. 77 ff.
7Vgl. Vertrauen der Katholiken in ihre Kirche schwindet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 21.2.2003.
8Vgl. hierzu Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart-München 2002, S. 191 ff. Pointiert hat den christdemokratischen Antireformismus Helmut Kohl selbst in seiner Polemik gegen die Reformära der frühen siebziger Jahre auf den Begriff gebracht: „Der Bürger hat ein Recht darauf, nicht ständig politisch gefordert, sondern auch in Ruhe gelassen zu werden, ungestört seinem Leben nachgehen zu können, sich der Ergebnisse seiner Leistungen zu erfreuen.“ Vgl. Kohl, Außerhalb der Reformpolitik blieb nichts mehr, in: FAZ, 2.3.2004.
9Vgl. Richard Hilmer, Die Alten haben die Union zum Sieger gekürt, in: Stuttgarter Zeitung, 2.3.2004; Matthias Krupa, Senioren für Ole, in: Die Zeit, 4.3.2004.
10Vgl. SPD erstmals unter der 30-Prozent-Marke, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 25./26.10.2003.
11Vgl. das Ergebnis des Politbarometers, in: SZ, 7.6.2003; auch die schon früheren Resultate von Infratest dimap in: Frankfurter Rundschau, 5.10.2002.
12Weiterhin konstitutiv Victor E. Frankl, Man’s Search for Meaning, New York 1964.
13Vgl. Ulrich Geuter, Das bin ich! Oder?, in: Psychologie Heute, 10/2003, S. 27.
14Vgl. dazu Eric Hoffer, Der Fanatiker und andere Schriften, Frankfurt/M. 1999, S. 88 ff.
15Vgl. Walter, Stillgelegt und ausgebrannt, in: Vorgänge, 1/2002, S. 11 f.
16Vgl. als Überblick: Gerd Langguth, Machtteilung und Machtverschränkung in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B6/2000, S. 3 ff.
17Vgl. Ludger Helms, Deutschlands „semisouveräner Staat“, in: ebd., B 43/2003, S. 8.
18Peter Graf Kielmansegg, Zukunftsverweigerung, in: FAZ, 23.5.2003.
19Vgl. auch Fritz W. Scharpf, Zur Wiedergewinnung politischer Handlungsfähigkeit, in: Demokratie neu denken. Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit in Deutschland, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1988, S. 55 ff.
20Vgl. Werner Jann, Die beteiligungsorientierte Kanzlerdemokratie – ein neues Politikmodell?, in: Mitbestimmung, 9/2002, S. 12.
21Vgl. Edwin Czerwick, Verhandlungsdemokratie – ein Politikstil zur Überwindung von Politikblockaden, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2/1999, S. 423; Manfred G. Schmidt, Komplexität und Demokratie, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgergesellschaft in Deutschland, Bonn 1997, S.48.
22Vgl. Wachsende Reformbereitschaft in Deutschland, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.9.2003.
23Vgl. hierzu: Angela Merkel auf dem Sprung nach oben, in: SZ, 28./29.6.2003.
24Vgl. Schröders Näschen, in: Rheinische Post, 18.9.2003; vgl. auch Renate Köcher, Die Schimäre Generationengerechtigkeit, in: FAZ, 15.10.2003.
25Vgl. Mehrheit für Korrektur der Reformen, in: Die Welt, 2.11.2003.
26Vgl. Wolfgang Merkel, Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie, 2/2001, S. 3 ff; Jens Alber, Besser als sein Ruf. Der Sozialstaat als erfolgreiches Modell, in: WZB-Mitteilungen, 98/Dez. 2002, S. 24 ff.
27Vgl. Manfred G. Schmidt, Politiksteuerung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Frank Nullmeier/Thomas Saretzki (Hrsg.), Strategiefähigkeit politischer Parteien, Frankfurt/New York 2002, S. 26; ders., Immer noch auf dem „mittleren Weg“? Deutschlands politische Ökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts, in: ZeS-Arbeitspapiere (Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen), 7/1999, S. 5 ff.
Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 11-24
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