Internationale Presse

01. Jan. 2016

Zerstörte Hoffnungen

Die Ukraine schwankt zwischen Reformen und Stagnation

Am 21. November 2013 schrieb der Journalist Mustafa Najem auf seiner Facebook-Seite: „Es wird ernst. Ist hier jemand wirklich bereit, heute um Mitternacht auf den Maidan zu gehen?“ Dieser Aufruf entwickelte sich zum Lauffeuer. Anfang Dezember protestierten eine halbe Million Ukrainer auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, der bereits 2004 im Zuge der „orangenen Revolution“ die Hoffnung auf eine neue politische Kultur geweckt hatte.

Auslöser für die neuerlichen Proteste war die Ankündigung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Was folgte, ist bekannt: Demonstrationen, Proteste, Gewalt, Tote, die Flucht Janukowitschs, die Annexion der Krim durch Russland, ein von der russischen Regierung gefütterter Krieg in der Ost­ukraine, der bis heute andauert, nach UN-Angaben auf beiden Seiten bisher mehr als 8000 Opfer gefordert hat und der trotz des Waffenstillstandsabkommens Minsk II gerade im November 2015 wieder zu verstärkten Kampfhandlungen geführt hat.

Diese dramatische Entwicklung veränderte nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa. Die europäische Friedensordnung wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Die Ukraine befindet sich in einem komplexen, schwierigen Selbstfindungs- und Reformprozess, dessen Ausgang alles andere als absehbar ist.

Die Macht der Oligarchen

Der Jahrestag des Beginns der Maidan-Proteste wurde natürlich auch in der ukrainischen Medienlandschaft thematisiert. Diese zeichnet sich zwar durch eine erstaunliche Vielfalt aus, steht aber zugleich unter dem Einfluss eines zermürbenden Krieges, was häufig Propaganda und Patriotismus befeuert – und eben keinen unabhängigen Journalismus.

Zudem lassen die Medien in weiten Teilen die notwendige Transparenz in Fragen der Eigentümerschaft vermissen. Das wichtigste Problem sind nach wie vor die großen TV-Sender, die sich immer noch im Besitz der berüchtigten Oligarchen des Landes befinden – was negative Folgen für eine mögliche demokratische Entwicklung hat. Auch der amtierende Präsident Petro Poroschenko hat seine Eigentümerschaft an dem bedeutenden „5 Kanal“ bis heute nicht aufgegeben.

Etwas besser sieht es in der Presselandschaft aus, die trotz der üblichen Probleme im ukrainischen Journalismus immerhin einige Hoffnungsschimmer aufweist: zum Beispiel das Onlineportal Ukrainskaja Pravda, die Zeitschrift bzw. die Website Novoe Vremja und die englischsprachige Kyiv Post. „Häufig sind es diese schlecht finanzierten, aber unabhängigen Medien, die den besten und effektivsten Journalismus in der Ukraine produzieren“, erklärte Iryna Fedets vom Institute for Economic Research and Policy Consulting in der Kyiv Post (13. November). „Wenn es diesen Medien gelingen würde, eine kommerzielle Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Mainstream-Medien zu erreichen, dann könnten diese unabhängigen Medien die Öffentlichkeit dazu bringen, höhere Standards im Journalismus insgesamt einzufordern.“

Schleppender Reformprozess

Sehr nüchtern fällt die Maidan-Abrechnung von eben jenem Journalisten aus, der die Proteste vor zwei Jahren mit seinem Facebook-Post losgetreten hatte. „Ja, es gab auch positive Ereignisse“, schrieb Najem auf Novoe Vremja (21. November), „aber nur allzu oft treffen wir immer noch auf Phänomene, die wir wohl befürchtet haben.“ Najem spielt sowohl auf die nach wie vor grassierende Korruption an als auch auf die Unfähigkeit bzw. den Unwillen der Regierung von Premier Jazenjuk und Präsident Poroschenko, die Macht der Oligarchen zu brechen und Reformen wie Dezentralisierung und Privatisierung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Steuern und Recht konsequent umzusetzen. „Der strategische Fehler von Petro Poroschenko und Arsenij Jazenjuk ist die falsche Wahl ihrer Partner. Sobald sie an der Macht waren, haben sie sich wieder in Lager geteilt und den bereits bekannten Positionskampf fortgeführt. Dieser Kampf findet im Wesentlichen unter den Oligarchen statt, aber es beteiligen sich auch ehemalige lokale Machteliten sowie unausgegorene Pseudopatrioten und eine starke Armee von kontrollierten Beamten.“

Auch die Soziologin Iryna Bekeschkina sieht die Korruption als zentrale Herausforderung der Ukraine auf dem Weg zu einem prosperierenden, demokratischen Staat. Der Sieg der Freiheit auf dem Maidan habe eben nicht gereicht, urteilte sie auf der Website Novoe Vremja (21. November). Man müsse endlich Rechtsstaatlichkeit schaffen. „Wenn uns das gelingt, wird uns auch alles andere gelingen. Die Korruption liegt wie ein schwerer Stein auf dem Entwicklungsweg unseres Landes.“

Entsprechend groß war wieder mal die Aufregung um den ohnehin höchst umstrittenen Generalstaatsanwalt Viktor Schokin, der von Poroschenko im Februar 2015 eingesetzt worden war und der von Parlamentariern wie Vertretern der Zivilgesellschaft vehement dafür kritisiert wird, den Kampf gegen die Korruption nicht voranzutreiben, sondern systematisch zu torpedieren. Mithilfe des Online-Mediums Evropejskaja Pravda war am 27. Oktober bekannt geworden, dass Schokin das Außenministerium unter Druck gesetzt und Außenminister Pavlo Klimkin gar mit einer Anklage wegen „Untergrabung der Autorität von Staatsorganen“ gedroht hatte. Der Grund: Klimkin wirft Schokin vor, zweifelhafte Kandidaten für eine Auswahlkommission zu nominieren, die einen Staatsanwalt für den Kampf gegen Korruption bestimmen soll. Dieser Anwalt ist eine Voraussetzung für die seitens der EU in Aussicht gestellte Visaliberalisierung für ukrainische Staatsbürger.

Die Zeitung Den sprach infolge dieses Skandals von einem „systematischen Fehler“, der am besten mit diesem Satz zu verdeutlichen sei: „Die aktuelle Geschichte der Ukraine wird im Büro des Staatsanwalts geschrieben“ (28. Oktober). Und Daryna Kalinjuk, Direktorin des Anti-Corrup­tion Action Center, kommentierte ebenfalls für Den: „Wir verfügen über keine Position eines Generalstaatsanwalts, so wie dieses Konzept in der zivilisierten Welt verstanden wird. Unser Generalstaatsanwalt und sein ganzes System haben 20 Jahre damit verbracht, diejenigen zu schützen, die sich an öffentlichen Geldern, an illegalen Privatisierungen und durch die üblichen Verbrechen bereichert haben.“ Schokin ist bis heute im Amt.

Annäherung an Europa

Argwöhnisch beobachtet die ukrainische Presse daher die Fortschritte, die Präsident und Regierung in Sachen Reformen machen bzw. eben nicht machen. Schließlich sind bestimmte Umgestaltungen in den Bereichen Sicherheit, Einwanderung und in grundsätzlichen juristischen Fragen wie Arbeits- und Familienrecht eine Voraussetzung für die visafreie Einreise, die die EU den Ukrainern in Aussicht gestellt hat. Einen wichtigen Schritt dahingehend machte das Parlament (Werchowna Rada), als es am 12. November das Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete, das von Präsident Poroschenko unterstützt wurde. Allerdings gelang dies erst im vierten Anlauf und nach harten Auseinandersetzungen. Zudem musste Parlamentssprecher Wolodymyr Hrojsman versprechen, dass das Gesetz nicht auch den Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe ebnen würde. „Mit der Widerwilligkeit, mit der dieses wichtige Gesetz verabschiedet wurde“, kommentierte die Kyiv Post (12. November), „zeigte die Ukraine, dass sie immer noch von derselben sowjetischen Bigotterie geplagt ist wie ihr rückschrittlicher und kriegerischer Nachbar.“

In einem Beitrag in der Zeitung Zerkalo Nedeli analysierten die beiden Autorinnen Irina Suschko und Jekaterina Kulchitskaja am 13. November, dass die Integration der Ukraine in den europäischen Raum auf einem guten Weg sei, auch wenn die Korruptionsbekämpfung die wichtigste Baustelle bleibe. Trotzdem stelle sich die Frage, wie die eher EU-skeptische Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine zur Annäherung an die Europäische Union stehe. „Die Einwohner des Ostens und des Südens unterstützen die Annäherung an die EU nicht“, schrieb Ljubow Akuljenko in der Evropejskaja Pravda (13. November), „weil sie befürchten, dass dies zu einem weiteren Niedergang der ukrainischen Wirtschaft führen könnte – aufgrund der Tatsache, dass ukrainische Produkte nicht sonderlich konkurrenzfähig sind.“

Enttäuschende Kommunalwahlen

Viel Beachtung schenkte die Presse den Kommunalwahlen, die am 25. Oktober stattfanden und am 16. November mit dem zweiten Durchgang der Bürgermeisterwahlen in Städten wie Kiew endeten. Nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 war es der dritte Urnengang, der unter weitgehend demokratischen Voraussetzungen ablief. 132 Bündnisse aus alten und neuen Parteien rangen um die Sitze in den Regionalparlamenten und die Bürgermeisterposten, die im Zuge der Dezentralisierung eine gewichtigere Bedeutung erhalten.

Einen eindeutigen Sieger brachte die Wahl nicht hervor, was zumindest aus Sicht Poroschenkos wünschenswert gewesen wäre, um den Reformprozess unter geringerem Störfeuer vorantreiben zu können. Vielmehr ist die politische Landkarte der Ukraine komplizierter geworden. Zahlenmäßig errangen Poroschenkos Block „Solidarität“ und die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko die meisten Mandate. Allerdings konnte die „Partei der Regionen“, Symbol des alten Janukowitsch-Regimes, nicht geschwächt werden. Sie stellt weiterhin die Bürgermeister in großen Städten wie Odessa und Charkiw.

Im Zuge der Wahlen brachte die Kyiv Post (29. Oktober) das Problem der parteiischen Medien zur Sprache, die im Interesse der sie besitzenden Oligarchen berichten und somit die Entstehung einer demokratischen Öffentlichkeit verhindern würden. Ein Teil der Lösung für dieses Problem, so der anonyme Leitartikler, läge aber auch bei den Journalisten sowie der Leserschaft. „Journalisten sollten sich unabhängige Medien als Arbeitgeber suchen und Zensurversuchen widerstehen. Die Nachrichtenkonsumenten, die eine De-Oligarchisierung unterstützen, sollten bewusst unabhängige Informationsquellen wählen.“

Viele Kommentatoren griffen die Tatsache auf, dass sich die Parteien und Politiker im Wahlkampf nicht auf regionale, sondern auf nationale Themen konzentriert hätten, da es in der Ukraine um gravierende Umwälzungen gehe. „In Zeiten des Krieges ist es sehr schwierig, sich von nationalen Themen zu dis­tanzieren“, sagte der Kiewer Soziologe Jevhen Holovacha der Zeitung Den am 27. Oktober. Und er räumte ein: „Aber wenn sie (die Politiker) den lokalen Themen mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, wären mehr Menschen zur Wahl gegangen.“

Die niedrige Wahlbeteiligung von landesweit 46,6 Prozent ist für Ivan Kapsamun in der Den ein Anlass zur Sorge: „Das ist sehr vielsagend in diesem Land, weil es zeigt, wie es die Post-Euromaidan-Politiker in kürzester Zeit geschafft haben, die Hoffnungen der Menschen zu zerstören, die sie mit großen persönlichen Opfern an die Macht gebracht haben.“

Ingo Petz arbeitet seit 15 Jahren als freischaffender Journalist zu Ost­europa, u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Der Standard.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 130-133

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