Wucht der Milliarden
Mit einem Heer junger, gut qualifizierter Arbeitskräfte wird Indien zum Wettbüro des Wissens
Im Windschatten Chinas wächst Indien zum asiatischen Supertiger heran und verblüfft den Westen mit blendenden Zahlen. Jahr für Jahr strömen Millionen junger, gut ausgebildeter Inder auf den Markt, kreieren IT-Lösungen, Software, Ingenieurstechnologie. So wie sich China zur Werkbank der Welt emporgearbeitet hat, entwickelt sich Indien zu ihrem verlängerten Büro – der globale Wissenshandel steht vor einer Revolution.
Nach langem, selbstgenügsamem Schlummer rührt sich in Asien ein neuer Riese. Indien schüttelt die Fesseln der Vergangenheit ab und richtet sich auf. Wie im Falle Chinas löst das wirtschaftliche Erwachen einer Nation mit über einer Milliarde Einwohnern Erschütterungen aus, welche die Welt zunehmend spürt: Volkswirte beobachten, wie ein zusätzlicher Wachstumsmotor der Weltwirtschaft anspringt. Manager lockt ein neuer Zukunftsmarkt. Stirnrunzelnd verfolgen Gewerkschaftler, wie ein Heer billiger Fachkräfte auf den globalen Arbeitsmarkt strömt. Ökologen bereiten Indiens Energie- und Rohstoffhunger Sorgen oder die Auswirkungen seiner Umweltprobleme auf die Geosphäre.
Indien ist der Überraschungs-Star aus Asien. Bis zur Jahrtausendwende überflogen Unternehmer den Subkontinent auf ihren Pilgerfahrten zu dynamischen Märkten in Fernost, und für viele kommt der Aufstieg der größten Demokratie der Welt zu einer Wirtschaftsmacht noch immer unerwartet. Einzigartig ist er nicht. Verspätet reiht sich Indien in eine Kette asiatischer Erfolgsgeschichten ein, die vor einem halben Jahrhundert mit Japan begonnen hat. In seinem Windschatten exportierten sich später Länder wie Südkorea und Taiwan reich, bevor sie den Stab exponentiellen Wachstums an Südostasien weiterreichten. Auch Chinas atemloser Boom bildet nicht länger den krönenden Abschluss dieser Entwicklung. Das Reich der Mitte, die größte wirtschaftliche Erfolgsgeschichte unserer Zeit, muss sich das Rampenlicht fortan mit Indien teilen.
Die Wucht von über einer Milliarde Indern, die sich in die Weltwirtschaft eingliedern und dem Kapitalismus in die Arme werfen, verleiht Asien zusätzliches Gewicht. Indiens Aufstieg gibt den letzten Ausschlag für einen Paradigmenwechsel: Im 21. Jahrhundert verlagert sich das weltwirtschaftliche und damit auch das geopolitische Gravitätszentrum vom Atlantik in den Pazifik. Dort wird klarer und früher als in Europa erkannt, wie sich die Waagschalen der globalen Ordnung neu justieren: „Der parallele Aufstieg Chinas und Indiens ist das bestimmende Ereignis dieses Jahrhunderts“, meint Raymond Lim, Stabschef von Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong. „Beide werden zu ökonomischen und strategischen Mächten mit globalem Gewicht. Das verändert die Kräftebalance in der Welt.“
Trotz ähnlicher Größe und wirtschaftlichem Potenzial wurden Indien und China bis vor kurzem kaum in einem Atemzug genannt. Dass nun die Rede von ihrem parallelen Aufstieg ist, liegt nicht nur an der Suche von Unternehmens- und Staatslenkern nach einem Gegengewicht zu Chinas Diktatur, seinem Merkantilismus und seinem Staatskapitalismus. Indiens Aufwertung in der Gunst von Investoren und Politikern hat harte Gründe. Das Land erlebt einen Wirtschaftsaufschwung, der nur noch von dem Chinas übertroffen wird. Anzeichen finden sich überall: Unternehmen melden Rekordgewinne, packen die größten Investitionen ihrer Geschichte an, schwingen sich zu globalen Champions auf und schlucken Rivalen im Ausland. Selbst in Kalkutta, lange einem Epizentrum von Indiens Armutsproblem, schießen verglaste Bürotürme in den Himmel. In Provinzstädten entstehen Shopping-Malls, und die Zahl der Autos wächst so schnell, dass im Verkehr kaum noch ein Durchkommen ist.
Verwandelt sich Indien, lange der behäbige Elefant unter Asiens quirligen Volkswirtschaften, wirklich in einen neuen Tiger? Das mag vielen unglaubwürdig erscheinen, die das Land bereist haben. Schließlich fällt der Strom selbst in der Hauptstadt ständig aus. Straßen sind von Schlaglöchern perforiert, Häfen verstopft, Flughäfen schäbig, Slums und Bettler prägen das Bild der Städte. Die Wirtschaft ist nach wie vor überreguliert und leidet unter dem Würgegriff einer überbordenden Bürokratie. Auch der Staatshaushalt gibt Grund zur Sorge: Dort klafft ein chronisches, großes Defizit, das der öffentlichen Hand Investitionskraft raubt. Indiens verarbeitende Industrie erlebt zwar eine Renaissance in wissensintensiven Branchen wie Maschinen- und Anlagenbau, Autoteilen oder Pharma. Doch greift diese bislang nicht über auf die arbeitsintensive Massenfertigung; nur sie kann einer Heerschar Ungelernter höhere Einkommen und sozialen Aufstieg bieten. Besonders darbt die Landwirtschaft, von der direkt und indirekt 600 Millionen Menschen abhängen. Auch soziale Indikatoren alarmieren: Jeder Dritte Inder hat weniger als einen Dollar zum Leben, genauso viele sind Analphabeten, und jedes zweite Kind ist unterernährt.
Aber vergleicht man Indien mit China Anfang der neunziger Jahre, ähnelt seine Ausgangsposition auffällig jener des Rivalen. Weder war Chinas Infrastruktur damals um Längen besser, noch war seine Bürokratie weniger drückend oder die Wirtschaft schwächer reguliert. Der Anteil der Exporte am Bruttosozialprodukt betrug erst 15 Prozent, wie heute in Indien, die Ausfuhren zeigten dieselben Zuwachsraten. Zwei Drittel der Chinesen waren zu dieser Zeit ebenfalls noch in der Landwirtschaft tätig, und Schanghai empfing Besucher als heruntergekommene Stadt ohne Wolkenkratzer-Skyline.
In mancher Hinsicht genießt Indien sogar bessere Ausgangsbedingungen: Es hat die Anlaufkosten einer Demokratie verarbeitet und ist politisch gefestigt, trotz seiner religiösen, ethnischen und sprachlichen Vielfalt. Es hat einen Rechtsstaat mit verlässlichen Institutionen errichtet, seine offene Gesellschaft fördert Kreativität und privates Unternehmertum. In China hat eine autoritäre Einheitspartei mit machtvollen, pragmatischen Weichenstellungen die Wirtschaft auf einen Schwindel erregenden Wachstumskurs gesteuert. Der Karneval ständiger Wahlen, der in Indien von Bundes- bis hinunter auf Dorfebene tobt, galt hingegen lange als Hemmschuh bei der Aufholjagd mit dem großen Nachbarn.
Wirtschaftlich ist China Indien meilenweit enteilt. Aber wer heute aus einem glitzernden Schanghai in einem schäbigen Bombay ankommt und bezweifelt, dass dem Subkontinent eine ähnliche Transformation bevorsteht, der übersieht eine Zeitverzögerung: Indien hat sich erst 1991 der Globalisierung und dem freien Wettbewerb verschrieben – 15 Jahre, nachdem Deng Xiaoping die Volksrepublik nach außen öffnete. Doch inzwischen hat die Liberalisierung eine kritische Masse erreicht, der Grund, warum sich die Wachstumsrate seit 2003 auf im Schnitt acht Prozent beschleunigen konnte.
Dies ist deutlich schneller als die durchschnittlich sechs Prozent, die seit 1991 erzielt wurden. Und die Zukunftsaussichten hellen sich weiter auf: „In den kommenden fünf Jahren wird Indien auf einen Wachstumskurs von zehn Prozent einschwenken“, gibt sich Premierminister Manmohan Singh sicher. Als Finanzminister war der Volkswirt Anfang der neunziger Jahre Architekt jener Wende zur Marktwirtschaft, die Indien von vier Jahrzehnten Sozialismus befreite. Heute steht er einer von Kommunisten tolerierten Minderheitsregierung unter Führung der Kongresspartei vor – auch wenn sich Singhs ökonomischer Sachverstand kaum noch gegen die Sachzwänge einer Regenbogenkoalition aus zwei Dutzend Parteien durchsetzen kann. Trotz des daraus resultierenden Reformstaus ist der Boom kein Strohfeuer. Ein Ineinandergreifen von Kapitalismus, Demokratie, günstiger Demographie und Globalisierung verleiht Indiens Wirtschaft eine Dynamik, die von einem schwerfälligen politischen Apparat nicht zu stoppen ist. „Indien wird für die Welt innerhalb der nächsten 15 Jahren so wichtig wie China“, glaubt Steve Brice, Asien-Volkswirt der Standard Chartered Bank. Für Experten der Großbank Goldman Sachs hat das Land künftig sogar größeres Potenzial: Sie sagen voraus, dass es über die nächsten fünf Jahrzehnte die höchsten Wachstumsraten der Welt genießen wird und in 30 Jahren von derzeit Rang zehn zur Nummer drei unter den größten Volkswirtschaften der Welt aufsteigt, nach China und den USA. Die Skepsis, die Unternehmer Indien lange entgegengebracht haben, ist in Euphorie umgeschlagen. „Die nächste große Wachstumsstory nach China ist Indien, das steht völlig außer Frage“, erklärt Peter Snell, Asien-Chef der Marktforschungsfirma Synovate, den neuen Konsens.
Es gibt viele Gründe, warum die Wirtschaft auf Jahre zumindest mit sieben bis acht Prozent weiter expandieren dürfte: Das Land gliedert sich schnell in die Weltwirtschaft ein. Die Warenausfuhren legen Jahr für Jahr um mehr als ein Fünftel zu; die Exporte von Büro- und IT-Diensten steigen sogar um über ein Drittel. Außerdem hat die Sparquote 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Ab dieser Schwelle genossen zuvor alle anderen asiatischen Länder dauerhaft hohes Wachstum, da der Wirtschaft damit große Investitionsressourcen zur Verfügung stehen. Ein weiterer Stützpfeiler des Aufschwungs ist die Bevölkerungsstruktur: Das Durchschnittsalter beträgt 25 Jahre, und jeder dritte Inder ist unter 15. Die Zensusbehörde rechnet damit, dass der Anteil der Bevölkerung im wirtschaftlich aktiven Alter in den kommenden zwei Jahrzehnten um 270 Millionen Menschen anschwillt. Alle zwei Jahre strömen damit so viele zusätzliche Arbeitskräfte auf den Markt, wie in ganz Deutschland vorhanden sind. Ihnen Beschäftigung zu schaffen, zählt zu den größten Herausforderungen der Politik. Bessere Infrastruktur, eine Lockerung des restriktiven Arbeitsrechts und schnellere Fortschritte bei der Schulausbildung sind dazu unverzichtbar.
Bei dem gigantischen Arbeitsbeschaffungsprogramm, das Indien meistern muss, darf es indes auf Chinas Mithilfe zählen: Erstens steigen dort die Löhne der Fabrikarbeiter schneller. Zweitens steht der Nachbar aufgrund seiner Ein-Kind-Politik bald vor einer rapiden Überalterung, während Indiens Durchschnittsalter noch zwei Jahrzehnte konstant bleibt. Das dürfte Angebot und Nachfrage auf einem zunehmend globalen Arbeitsmarkt zu seinen Gunsten neu justieren – Indiens anschwellendes Heer junger Arbeitskräfte wendet sich von einer Bürde zunehmend in einen Vorteil, der die Produktivkräfte, den Konsum und damit das Wachstum stärkt. Die Binnenwirtschaft erlebt bereits einen kräftigen Nachfrageschub: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nimmt inzwischen um rund sechs Prozent pro Jahr zu, jedes Jahr steigen etwa 25 Millionen neu in die Mittelschicht auf. Nach indischer Zählweise umfasst die Konsumentenklasse bereits 300 Millionen Menschen. Legt man an westlichen Niveaus orientierte Einkommensmesslatten an, sind es 60 Millionen, aber schon bis 2009 dürften nach einer Prognose von Delhis renommiertem Wirtschaftsforschungsinstitut National Council for Applied Economic Research (NCAER) daraus 154 Millionen werden. Das macht Indien zu einem nur mit China vergleichbaren Zukunftsmarkt. Der Absatz von Autos, Motorrädern und Fernsehern verdoppelt sich alle fünf Jahre, und einer Studie von Merrill Lynch zufolge soll der Konsumbedarf in spätestens zehn Jahren so groß sein wie heute in der Volksrepublik. Um ihn mit lokaler Fertigung zu bedienen, stampfen Investoren aus dem Ausland entlang der Küsten neue Fabriken aus dem Boden.
Bislang erhält Indien nur ein Zehntel der ausländischen Direktinvestitionen Chinas, aber die Zuflüsse ziehen deutlich an. Bei Madras (Chennai), im Hinterland Bombays (Mumbai) und in der Region um Delhi etwa entstehen neue Produktionskerne der Automobilindustrie mit globalem Gewicht. Dort investieren Firmen wie Suzuki, Hyundai und Nissan Milliarden in neue Werke, die bald auch kräftig nach Europa exportieren werden. Auch bei Maschinenbau und Elektrotechnik wächst Indiens Rolle auf den Weltmärkten. Lokale Firmen steigern ihre Qualität, investieren in Forschung und Entwicklung und kaufen sich Know-how im Ausland zu. Weltkonzerne wie Siemens, ABB, LG Electronics oder Matsushita nutzen den Standort zunehmend als alternative Exportbasis zu China. Sie wollen eine einseitige Abhängigkeit von einem Land vermeiden, wo ihre Produkte kopiert werden, Technologietransfer staatlich erzwungen wird und Joint Ventures oft Pflicht sind.
Hauptsächlich konzentrieren sich Investoren aber noch immer auf Dienstleistungsbranchen, und im Innovationsnetz vieler Konzerne hat Indien einen Logenplatz errungen: Bei der Walldorfer Softwareschmiede SAP ist bereits jeder vierte weltweit in der Entwicklung tätige Mitarbeiter Inder. Die Bosch-Gruppe beschäftigt 3000 Ingenieure im Land und stellt jährlich 1000 neue ein. Bei Siemens entwickeln 5000 Inder Software, Medizintechnik und Kraftwerkstechnologien; Löhne von einem Fünftel deutscher Kollegen sind nicht der einzige Grund dafür: Angesichts ergrauender Gesellschaften im Westen und einem Mangel an Naturwissenschaftlern und Technikern werden Inder zur unverzichtbaren Ressource für die Zukunft vieler Firmen. Sein Reservoir günstiger, englischsprachiger Fachkräfte von Ärzten über Chemiker und Mathematikern bis zu Finanzexperten – beschert Indien handfeste Globalisierungsvorteile. Allein 350 000 Ingenieure gehen jährlich von den Hochschulen ab, viermal mehr als in den USA. Seit Internet und Digitalisierung Kopfarbeit über Grenzen hinweg handelbar machen, rückt das Land zum elementaren Glied einer globalen Wissenslieferkette auf. Nachdem sich China zu ihrer verlängerten Werkbank aufgeschwungen hat, wird es zum verlängerten Büro der Welt und zu ihrem ausgelagerten Forschungslabor.
Indiens Eintritt in die Globalisierung eröffnet im Dienstleistungsbereich plötzlich dieselben Möglichkeiten zur Kostensenkung wie zuvor bei der industriellen Massenfertigung. Als Folge sinken die Weltmarktpreise für Software, die Wartung von Computersystemen, Pharmaforschung oder Ingenieursleistungen – wie zuvor bei Gütern aus China. „In den kommenden 15 Jahren wird Indien den Welthandel mit Dienstleistungen genauso revolutionieren wie China in den letzten 15 Jahren den Welthandel mit Waren verändert hat“, meint Arvind Virmani, einer von Indiens renommiertesten Volkswirten. Sein Einfluss auf globale Handelsströme und darauf, wie Weltkonzerne ihre Produktions-, Forschungs-, Absatz- und Bezugsnetze organisieren, werde dem Chinas nicht nachstehen.
Europa gerät durch die beiden aufstrebenden Riesen zunehmend von zwei Seiten unter Druck: bei Muskel- und bei Hirnarbeit. Zugleich akzentuiert der Offshoring-Boom tiefe Widersprüche in Indiens Wirtschaftsstruktur: In seinen Dörfern pflügen Bauern weiterhin mit Ochsen, während in den Metropolen Technologieparks aus dem Boden schießen. Eine aufklaffende Schere zwischen Reich und Arm, Stadt und Land, Küstenstreifen und Hinterland ist die größte Zukunftsherausforderung, der sich Indien gegenübersieht. Die Offshoring-Industrie kann die sozialen Probleme des Landes nicht lösen, denn von ihr profitieren vor allem seine gebildeten Eliten. Allerdings haben gerade Wissensindustrien dem Land seinen stärksten Wachstumsmotor beschert, und sie bringen ernste Wettbewerber für etablierte Größen wie IBM oder Accenture hervor. IT-Firmen wie Wipro, TCS und Infosys sind ein Paradebeispiel für die unternehmerische Dynamik, die in Indien entfesselt worden ist. „IBM kann uns gar keine Konkurrenz machen“, verkündet Infosys-Chef Nandan Nilekani. „Unser Geschäftsmodell ist fundamental überlegen.“ Sein Kern ist die größtmögliche Nutzung von Niedriglohnstandorten. Firmen wie Infosys fachen einen Kostenwettlauf an, der IBM zum Nachziehen zwingt: Die Amerikaner haben die Zahl ihrer indischen Beschäftigten zwischen 2003 und 2006 auf 43 000 verfünffacht. Das Selbstvertrauen, mit dem Nilekani dem Weltmarktführer die Stirn bietet, ist typisch für eine neue Klasse indischer Unternehmer: Sie fühlen sich nicht länger als schwache Vertreter eines Dritte-Welt-Landes, die vor Konkurrenz geschützt werden müssen. Mit kreativen Geschäftsmodellen und einem Kosten-Heimvorteil im Rücken suchen sie die Konfrontation mit Rivalen aus dem Westen, und das in Geschäftsfeldern, die diese bis vor kurzem als unantastbare Pfründe betrachten durften.
Wie in China wachsen in Indien multinationale Konzerne heran, die spürbaren Einfluss auf ihre Branchen gewinnen. „Bald werden viel mehr Europäer für indische IT-Firmen arbeiten, weil ihre Bereiche an uns ausgelagert oder verkauft werden“, erwartet TCS-Chef Ramadorai. Auch außerhalb der Technologie-Branche setzen Unternehmer zur aggressiven Globalisierung ihrer Geschäfte an. Die Tata-Gruppe hat ihre Stahl-, Fahrzeug- und Lebensmittel-Branchen durch milliardenschwere Übersee-Zukäufe gestärkt. Der Pharmahersteller Dr. Reddy’s erwarb für 500 Millionen Dollar den deutschen Konkurrenten Betapharm. Die Übernahme der Trevira GmbH hat die Reliance-Gruppe zum Weltmarktführer bei Polyester gemacht und Indiens Petrochemie-Riesen Zugang zu Technologie und neuen Vertriebswegen geschaffen.
Das Erstarken indischer Firmen wurde im Westen lange kaum beachtet. Die ersten Zukäufe im Ausland galten als kuriose Einzelfälle. Nun werden sie von manchen als Bedrohung gesehen. Inder in Nadelstreifen fallen in Bereichen in Europa ein, in denen sie nicht erwartet werden. Als der Stahl-Magnat Lakshmi Mittal Anfang 2006 nach Arcelor griff, rieben sich alle verwundert die Augen. Er wurde in einem Dorf in Rajasthan geboren, das nicht ans Stromnetz angebunden war. Nun verleibte sich der Emporkömmling eine Ikone der westeuropäischen Industrie ein – für 33 Milliarden Dollar. Die teilweise rassistisch gefärbten Abwehrreaktionen darauf waren ein Vorbote des Kulturschocks, der Europa mit dem Aufstieg asiatischer Unternehmer bevorsteht. Inder und Chinesen werden dabei Hauptrollen spielen. Die anhebende Internationalisierung ihrer Firmen unterscheidet sich jedoch in einem wichtigen Punkt: In Indien wird diese von rein kommerziellen Interessen getragen, in China von strategischen Erwägungen der Kommunistischen Partei, die aus Staatsfirmen „globale Champions“ formen will. Es ist nicht ausgemacht, wie gut sich am Kabinettstisch gekürte Gewinner langfristig am Weltmarkt behaupten – auch wenn ihnen die Führung mit verbilligtem Kapital unter die Arme greift. „Chinas Firmen spielen international bislang keine große Rolle“, urteilt Rajat Gupta, der langjährige Weltchef der Unternehmensberatung McKinsey, „Indiens Firmen sind global konkurrenzfähiger. Insbesondere die Stars der IT-Branche setzen sogar globale Standards.“
Anders als in der Volksrepublik befinden sich Indiens größte Fluglinien, Reedereien, Mobilfunker, Technologiekonzerne, Maschinenbauer, Elektronikhersteller und Autobauer in privaten Händen. Freie Unternehmer sind der Motor für jenen marktgetriebenen Wandel von unten, der sein Entwicklungsmodell am stärksten von dem Chinas unterscheidet. Dessen Finanzsystem verwehrt Privatfirmen Zugang zu Krediten und Börsengängen. Das Misstrauen von Pekings Kadern gegenüber unternehmerischem Engagement außerhalb ihrer Kontrolle leistet Verschwendung und Fehlinvestitionen Vorschub. Inder werden dafür sofort vom Wettbewerb bestraft, ihre Wirtschaft geht mit Kapital umsichtiger um. Dazu profitiert sie von einem freien Fluss von Informationen, der in China unterdrückt wird. Damit steht das Land langfristig auf festeren Füßen, trotz notorisch korrupter, entscheidungsschwacher Volksvertreter. „Nachts schläft die Regierung, dann wächst Indiens Wirtschaft“, scherzt Gurcharan Das, einst Spitzenmanager bei Procter & Gamble und nun ein bekannter Autor. „Der Marsch unseres Landes in den Wohlstand wird von einem Autopiloten gesteuert“, glaubt er: seinen Unternehmern.
OLIVER MÜLLER, geb. 1968, arbeitet seit 2003 als Süd- und Südostasien-Korrespondent des Handelsblatts und lebt in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Soeben erschien von ihm: „Wirtschaftsmacht Indien – Chance und Herausforderung für uns“ (Hanser 2006).
Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 39‑45