Wohlstand für alle
… und nicht Reichtum für wenige! Eine Antwort auf Gunter Hofmann
Der Chefkorrespondent der ZEIT in Berlin, Gunter Hofmann, hat vor kurzem in dieser Zeitschrift mein Engagement für den Erhalt der Arbeitsplätze beim Handy-Hersteller Nokia in Bochum als „Klosterfrau Melissengeist für die Betroffenen“ und als „Provinzialismus“ kritisiert. Diese Vorwürfe sind – die Sprache verrät es – polemisch. Herr Hofmann denkt dabei in alten Kategorien. Er hat nicht verstanden, dass im Zeitalter der Globalisierung Wirtschafts- und Sozialpolitik keine Gegensätze sind.
Und er hat nicht verstanden, dass Anpassungsprozesse in modernen Gesellschaften nur zukunftsfähig sind, wenn sie Wohlstand für alle und nicht Reichtum für wenige bedeuten. Freiheit geht nicht ohne Sicherheit und Sicherheit nicht ohne Freiheit. Das wichtigste Merkmal der Globalisierung seit dem Ende des letzten Jahrhunderts ist ihre ungeheure technologische Dynamik, verstärkt durch die weltweite Öffnung der Märkte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Diese Dynamik hat zu einem Wirtschaftswachstum geführt, das in seiner Geschwindigkeit historisch ohne Beispiel ist. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich das Weltbruttosozialprodukt mehr als verdoppelt, der Welthandel mehr als verdreifacht. Gerade wir Deutsche haben als „Exportweltmeister“ besonders von dieser Entwicklung profitiert.
Aber wir machen auch eine andere Erfahrung. Galt in der Vergangenheit, dass wirtschaftliches Wachstum fast automatisch allen zugute kam, so gilt das in der globalisierten Wissensgesellschaft nicht mehr. In den USA haben vom Wachstum der Globalisierung nur wenige profitiert. Der frühere amerikanische Arbeitsminister Robert Reich weist darauf hin, dass heute ein Prozent der Amerikaner mehr als 21 Prozent des Gesamteinkommens verdient, während das mittlere Einkommen kaum über dem von 1970 liegt. Und auch in Deutschland gibt es mehr Ungleichheit: Nach einer aktuellen Studie des DIW gehörten im Jahr 2000 62 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht. Heute sind es nur noch 54 Prozent. Problematisch ist vor allem, dass die Abwanderung aus der Mittelschicht weit häufiger nach unten als nach oben erfolgt. So gehört jeder vierte Deutsche mittlerweile zu den so genannten armutsgefährdeten Schichten.
Zudem haben sich in den letzten Jahren die Einkünfte aus Dividenden und Vermögen vervielfacht, während die Gehälter stagnierten. Wenn sich Arbeit scheinbar nicht mehr lohnt, untergräbt das den Sinn für Gerechtigkeit. Das Gleiche gilt, wenn Arbeitnehmer zur Bescheidenheit ermahnt werden, erfolglose Manager aber horrende Abfindungen kassieren. Oder wenn Topverdiener Teile ihres Vermögens ins Ausland verschieben. Nicht zuletzt deshalb sagen nur noch 15 Prozent der Deutschen, dass es im Land gerecht zugeht, so wenige wie noch nie zuvor. Das ist alarmierend. Und es ist auch ein Alarmsignal, wenn immer mehr Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein Angst haben, der Dynamik der globalisierten Wissensgesellschaft nicht mehr gewachsen zu sein, obwohl sie sich anstrengen und viel leisten. Das schafft elementare Unsicherheit. Das bedroht die Soziale Marktwirtschaft in ihren Grundfesten.
Der Fall Nokia zeigt das exemplarisch: Jeder Mitarbeiter hat dem Unternehmen rund 90 000 Euro Gewinn pro Jahr eingebracht, und das zu konkurrenzfähigen Kosten. Trotzdem hat man die Menschen von heute auf morgen entlassen. Das versteht niemand. Das widerspricht dem Leistungsprinzip, dem Gerechtigkeitsempfinden und schafft tiefe Unsicherheit. Nokia hat damit die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft und des Europäischen Modells – der Verbindung einer liberalen Wirtschaftsordnung mit einer solidarischen Gesellschaftsordnung – massiv in Frage gestellt. Deshalb der breite Protest, nicht zuletzt auch in Finnland selbst. Hier ging es um mehr als „nur“ um einen Standort.
Wer die Globalisierung politisch gestalten will, darf das nicht hinnehmen. Im Gegenteil: Wir müssen die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft verteidigen und durchsetzen. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Verbindung von wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit die Oberhand behält. Wohlstand für alle, nicht für wenige, das war und ist das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft. Um das zu erreichen, muss die Politik mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit beginnen. Und die ist, dass etliche alte Sicherheiten verloren gegangen sind. Die Menschen brauchen aber Sicherheiten, heute mehr denn je. Deshalb muss die Politik neue Sicherheiten schaffen, eine Politik der neuen Sicherheit sein. Die Menschen müssen erfahren, dass Reformen ihr Leben sicherer machen, nicht unsicherer. Das geht nur mit Verlässlichkeit. Und die gibt es nur, wenn die Politik den Grundregeln der Gerechtigkeit folgt.
Dazu gehört, dass jemand, der jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, nicht so behandelt wird wie der, der kaum Beiträge geleistet hat. Deshalb war es richtig, an diesem Punkt eine Revision von Hartz IV vorzunehmen. Dazu gehört, dass private Altersvorsorge nicht bestraft, sondern belohnt wird. Auch hier muss Hartz IV korrigiert werden – im Fall von Arbeitslosigkeit muss das Schonvermögen besser geschützt und entsprechend von 250 auf 700 Euro pro Jahr erhöht werden.
Dazu gehört die Gewissheit, dass jemand, der jahrzehntelang ins Rentensystem eingezahlt hat, eine Rente oberhalb der Grundsicherung bekommen muss. Das ist bei niedrigen Beiträgen derzeit nicht mehr gewährleistet. Das müssen wir ändern, etwa durch die Wiedereinführung des Systems der Mindestentgeltpunkte. Neue Sicherheit schafft zudem der Grundsatz, dass diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, auf die Unterstützung der Solidargemeinschaft bauen können. Das bedeutet unter anderem, Kinderarmut gezielt zu bekämpfen, beispielsweise durch die Ausweitung der Regelsätze für Kinder in Hartz IV oder die Organisation von Schulspeisungen.
Zu einer Politik der neuen Sicherheit gehört schließlich, dass die mittleren Einkommen stärker von Steuern und Abgaben entlastet werden – etwa durch Senkung der Lohnnebenkosten und, wie im Fall der Arbeitslosenversicherung, Rückgabe der Beiträge an die Versicherten. Und es bedeutet ferner, die mittleren Einkommen steuerlich stärker zu entlasten. Es ist ökonomisch falsch, dass gerade bei den mittleren Einkommen ein Anstieg des Gehalts automatisch durch die Steuerprogression zunichte gemacht wird. Wir müssen sie deshalb stärker abflachen. Nur so lohnt sich Leistung gerade für die Leistungsträger. Und nur so sind mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung möglich. Gerade sie müssen das Leitbild eines solidarischen Sozialstaats sein.
Neue Sicherheit verlangt den Menschen mehr Eigeninitiative, Eigenvorsorge und Selbstverantwortung ab. Eine Politik der neuen Sicherheit verspricht deshalb keine neuen staatlichen Umverteilungsleistungen, sondern setzt auf Selbstbestimmung. Aber das bedeutet im Umkehrschluss, klaren Grundsätzen der Fairness zu folgen – und niemanden zurückzulassen. Nur wer weiß, dass klare Spielregeln gelten, der fühlt sich sicher. Der Fall Nokia lehrt, dass wir eine Politik der neuen Sicherheit brauchen, wenn wir die Soziale Marktwirtschaft nicht aufs Spiel setzen wollen. Aber Nokia lehrt noch etwas anderes: In der industriellen Massenproduktion sind wir immer weniger konkurrenzfähig, staatliche Subventionen an dieser Stelle sind daher falsch. Wir sind und bleiben ein Industrieland. Aber unsere Stärke liegt in wissens-basierten Qualitätsprodukten. Kreative Ökonomie
Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser hat unsere Produktionsweise einmal treffend als „nachindustrielle Maßschneiderei“ beschrieben. Wir sind gut bei Produkten, die auf hohem Niveau und auf wissenschaftlicher Basis produziert werden. Dafür gibt es heute weltweit eine starke Nachfrage, auch wenn das manche Ökonomen bestreiten und uns als Verlierer im „Weltkrieg um Wohlstand“ sehen. Aber all die Schwarzmaler frage ich: Wie erklären sie, dass ausländische Investoren so stark an deutschen Unternehmen interessiert sind? Wie kommt es, dass immer mehr Unternehmen, die ins Ausland gegangen sind, nun wieder zurückkehren? Und warum haben wir in den letzten zwei Jahren einen so starken Aufschwung erlebt? Wohl kaum, wenn wir wirtschaftlich nicht so stark wären, wie wir sind. Natürlich geht es nicht nur um „Wachstum per se“, wie Gunter Hofmann meint. Aber ohne Wachstum geht es eben auch nicht. Wir werden im immer härteren Wettbewerb nur stark bleiben, wenn wir in der Lage sind, Wachstum zu schaffen. Dafür brauchen wir alle unsere kreativen Kräfte.
Was wir derzeit erleben, ist eine zweite industrielle Revolution: die Revolu-tion der kreativen Ökonomie, des Produktionsfaktors „Wissen“, der andere Faktoren wie Boden oder Kapital inzwischen weit an Bedeutung übertrifft. Seit 30 Jahren geht der Wertschöpfungsanteil der industriellen Produktion in den hoch entwickelten Ländern kontinuierlich zurück. Rund zwei Drittel der Erwerbstätigen arbeiten dort bereits im Dienstleistungssektor, zwischen 20 und 30 Prozent davon im „kreativen Sektor“ – in Wissenschaft, Forschung, Technik, aber auch in Kunst, Ästhetik, Werbung und Kultur. Dieser Trend nimmt stetig zu. Experten schätzen, dass in Zukunft vier Fünftel aller menschlichen Arbeiten aus dem Umgang mit Wissen bestehen werden.
Für den Staat kommt es deshalb darauf an, in die „drei T’s“ zu investieren: in Technologien, Talente und Toleranz. Denn die Kreativen gehen dorthin, wo sie entsprechende Voraussetzungen finden – ein Klima der Toleranz, eine blühende Kulturlandschaft, exzellente Bildungsmöglichkeiten. Wer die Kreativen anzieht, braucht sich auch um die Folgen des demografischen Wandels keine Sorgen zu machen – selbst eine älter werdende Gesellschaft muss dann keinen Wohlstandsverlust fürchten.
Kreative Ökonomie fängt jedoch bereits an der Basis an, mit einem exzellenten Bildungssystem. Nicht die Einheitsschule, sondern individuelle Förderung ist der Schlüssel für die Bildung der Zukunft. Die Schule muss jedes Kind entsprechend seiner individuellen Talente fördern, sie muss sich aber auch stärker als bisher auf Allgemeinbildung konzentrieren. Nur sie vermittelt die Maßstäbe für den erfolgreichen Umgang mit der Fülle des Wissens.
Die kreative Ökonomie politisch zu fördern heißt auch, Kunst und Kultur nicht als „überflüssigen Luxus“ zu verstehen, sondern hier mehr als bisher zu investieren. Es heißt, für lebenswerte, sichere und attraktive urbane Räume zu sorgen. Und es heißt vor allem, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich zwischen Wissenschaft und Wirtschaft so viele Schnittstellen wie möglich entwickeln. Hier liegt die große Chance der deutschen Wirtschaft als wissensbasierte Ökonomie.
Um diese wirtschaftliche Stärke auch politisch umsetzen und damit internationale Spielregeln bestimmen zu können, brauchen wir Europa. Die EU muss stärker als bisher zu einem globalen Gestaltungsfaktor werden. Die Krise der Finanzmärkte führt uns das eindringlich vor Augen. Klare und faire Spielregeln auf den internationalen Finanzmärkten durchzusetzen, die dem europäischen Modell entsprechen – etwa eine Stärkung der Regulierungsbehörden, der Bankaufsicht und der Unabhängigkeit der Rating-Agenturen –, das geht nur auf europäischer Ebene. Norbert Röttgen hat Recht, wenn er beklagt, dass unsere politischen Strukturen und Debatten immer noch zu national geprägt sind. Die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft sind heute nur noch auf europäischer Ebene wirksam zu verteidigen.
Das bedeutet dreierlei: Europa darf, erstens, sein eigenes Modell nicht aufs Spiel setzen, die Balance aus wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit. Konkret: Es geht um die Konkurrenz zwischen marktradikalem Kapitalismus und Sozialer Marktwirtschaft. Umso wichtiger ist, unsere Wirtschaftsbeziehungen mit den USA zu einer Art Binnenmarkt auszubauen, technische Standards, Energiefragen und allgemeine Wirtschaftsspielregeln nachhaltig abzustimmen. Doch abstimmen heißt nicht übernehmen. Unser Weg ist der Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit. Ich warne deshalb davor, dass sich die Europäische Union ein marktradikal geprägtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell diktieren lässt. Die EU-Kommission darf nicht zum Motor einer Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft werden.
Europa muss, zweitens, darauf achten, dass es nicht uferlos wächst. Es ist gut, dass der neu eingesetzte „Rat der Weisen“ vor allem über die Frage der Grenzen Europas nachdenken wird. Die EU ist eine politische Wertegemeinschaft. Wer ihr beitreten will, muss bereit und in der Lage sein, alle Anforderungen dieser Wertegemeinschaft zu erfüllen. Die Kopenhagener Kriterien sind der Maßstab, hier kann es keine Kompromisse geben. Nur dann überfordert sich Europa nicht selbst, nur dann ist es glaubwürdig, nur dann wird es als Modell für eine neue Weltordnung Erfolg haben.
Europa muss, drittens, stärker als bisher mit einer Stimme sprechen. Es muss dazu eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die diesen Namen verdient. Sie ist der Schlüssel für eine starke Rolle in der Welt – und zwar auf allen politischen Feldern, von der Weltwirtschaftspolitik bis zur globalen Umweltpolitik. Die Menschen in Europa spüren das instinktiv. Sie wissen: Nur wer sich gegenüber der Welt als Einheit verhält, wird auch als solche empfunden. Insofern ist die Bereitschaft zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend für den Willen, sich zu einer politischen Union zusammenzuschließen. Das politische Europa, das auf Gipfeltreffen so oft beschworen wird, ist das außenpolitische Europa.
Unabhängig von dieser europäischen Ebene gilt: Jeder ist an jedem Tag und an jedem Ort aufgerufen, für die Werte und die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft zu kämpfen, sei es vor den Toren des Nokia-Werkes in Bochum oder anderswo. Dafür müssen wir auch gezielt die Macht der Öffentlichkeit nutzen. Ich wundere mich, dass gerade ein erfahrener Medienvertreter wie Gunter Hofmann diese Macht so unterschätzt. Nokia hat durch den öffentlichen Protest nicht nur der Belegschaft und der Gewerkschaften, sondern gerade auch der Politiker aller Parteien seinen Verstoß gegen die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft mit einem massiven Imageschaden bezahlt. Das fürchten Unternehmen heute mehr denn je. Andere werden es sich nach diesem öffentlichen Protest zweimal überlegen, ob sie mit ihren Mitarbeitern so umgehen. Firmen wie Nokia müssen lernen, dass das wichtigste Kapital eines Unternehmens nicht die Aktien, sondern die Menschen sind, die für sie arbeiten.
Mit „Provinzialismus“ hat das nichts zu tun, und es geht dabei nicht um „Standort-Chauvinismus“ oder „protektionistische Abwehrschlachten“, wie Gunter Hofmann meint. Hier einen Gegensatz zwischen meiner Position und der von Norbert Röttgen zu konstruieren, ist Unsinn. Uns beiden wie der Union insgesamt geht es darum, klare Spielregeln für die Globalisierung zu entwickeln und diese auch durchzusetzen, Spielregeln, die soziale Verantwortung sicherstellen. Davon lebt die Marktwirtschaft, nur so bekommt sie Legitimität. Sonst gerät sie zu purer, willkürlicher Machtwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft garantiert die Einheit und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie ist daher ein kostbares Gut. Wir dürfen nicht zulassen, dass es in Gefahr gerät.
JÜRGEN RÜTTGERS, geb.1951, ist seit 2005 CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Er antwortet an dieser Stelle auf den Beitrag „Röttgen oder Rüttgers“ von Gunter Hofmann in der März-Ausgabe der IP.
Internationale Politik 5, May 2008, S. 84 - 88