Titelthema

02. Jan. 2023

Wohin steuert die Weltwirtschaft?

Die Globalisierung geht weiter. Wie Deutschland und Europa die Transformation mitgestalten müssen.

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Bild: Ein Arbeiter in gelber Kleidung vor einem Schiffscontainer
Produzieren, liefern und handeln: Auch wenn es nicht überall auf der Welt gleichermaßen weiter aufwärts gehen wird – eine Deglobalisierung ist nicht in Sicht.
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Das stürmische Wachstum des Welthandels ist schon seit Längerem vorüber. Geopolitische Risiken führen zu einer Neuordnung. Die EU tut gut daran, für mehr Diversifizierung zu sorgen. Damit wird keineswegs eine Phase der Deglobalisierung eingeläutet – das ist empirisch unwahrscheinlich und wäre volkswirtschaftlich teuer. Internationale Arbeitsteilung wird für die Bewältigung der Heraus­forderungen sehr wichtig sein.



Das Handelsvolumen wächst weiter 

Die Ära der Hyperglobalisierung ist dagegen vor­über. Aber diese Zeitenwende fand nicht erst zum Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident oder beim Angriff Russlands auf die Ukraine statt. Der Trendbruch geschah um die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09.



Von 1970 bis 2008 wuchs das Verhältnis der Summe aller Güter- und Dienstleistungsexporte der Länder zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Welt von ungefähr 13 auf 31 Prozent. Seitdem geht diese Maßzahl der Globalisierung nicht mehr nach oben, sondern bewegt sich seitwärts. Das gilt auch, wenn man den Güterhandel und die globale Industrieproduktion ansieht. Kurz: Der Welthandel wächst in etwa mit derselben Rate wie die Weltproduktion.

Das ist keine Situation der Deglobalisierung – im Gegenteil, das Handelsvolumen wächst weiter. Aktuell liegen die preisbereinigten globalen Güterexporte um circa 36 Prozent über jenen des Jahres 2008; jene der Eurozone immerhin um 17 Prozent. Deglobalisierung sieht anders aus. Eher haben wir es, wie der Economist es im Januar 2019 formulierte, mit einer „Slowbalisation“ zu tun.



Auch die schnelle Erholung des Welthandels nach dem Einbruch infolge der Covid-19-Krise spricht nicht für die ­De­globalisierungsthese. Das Niveau des weltweiten Güterhandels liegt preisbereinigt im September 2022 um etwa 10 Prozent über dem Durchschnitt von 2019. Es liegt auch leicht über dem Wert vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine. Der Welthandel hat sich also als überraschend resilient erwiesen.



Die aktuelle Situation der Seitwärts­bewegung ist nach gebräuchlichen volkswirtschaftlichen Modellen der „normale“ Zustand. Der Welthandel wächst nur unter bestimmten Bedingungen schneller als das globale BIP. Im normalen Fall sollte der Grad der Offenheit der Weltwirtschaft stabil sein. Insofern war die Hyperglobalisierung eher eine Ausnahmephase.



In der Tat schwächelten in den vergangenen 15 Jahren manche der besonderen Faktoren hinter einer Hyperglobalisierung: Die Welthandelsorganisation (WTO) brachte die Doha-Runde nicht zu Ende und verfügt seit einigen Jahren nicht mehr über funktionsfähige Streitschlichtungsinstanzen. Seit 2008 geht die Anzahl neuer bilateraler Freihandelsabkommen stetig zurück. Geplante „megaregionale“ Abkommen wie das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP scheiterten.



Aber die technologischen Treiber der Globalisierung stehen nicht still. Die Digitalisierung senkt die Kosten internationaler Transaktionen, etwa durch automatische Sprachübersetzung, unbürokratische und sichere Abwicklung von Geschäften über die Blockchain oder digitale Beschaffungsplattformen. Vor allem Dienstleistungen können zunehmend grenz­überschreitend eingekauft und erbracht werden. Die verfügbaren Daten erlauben aber kein klares Bild der Struktur und der Dynamik des Dienstleistungshandels. So vertreiben amerikanische Tech-Konzerne ihre Angebote in Europa über Länder mit niedrigen Steuern, sodass die Dienst­leistungsimporte aus den USA unterschätzt werden. Stattdessen ­entstehen etwa in Irland hohe amerikanische Primäreinkommen, die in der Handelsbilanz nicht erfasst werden.



Für einen ganzheitlichen Blick auf den Zustand der Globalisierung sollte daher die Zahlungsbilanz betrachtet werden, wo Güter- und Dienstleistungshandel sowie grenzüberschreitend erwirtschaftete Einkommen aufscheinen. Dieser Blick ist in mehrfacher Hinsicht informativ. Erstens zeigt sich im Dienstleistungshandel und bei den Primäreinkommen eine höhere Dynamik als im Güterhandel. Zweitens stellen sich auch die wirtschaftlichen Abhängigkeiten anders dar. China ist für die EU zwar der wichtigste Lieferant von Gütern, exportiert aber kaum Dienstleistungen und erwirtschaftet wenig Primäreinkommen in der EU. Die USA sind importseitig immer noch der wichtigste Wirtschaftspartner der EU, das Vereinigte Königreich und China liegen in etwa gleich auf. Exportseitig ist das Bild noch klarer: Hier liegt China deutlich abgeschlagen auf dem dritten Platz, nur wenig vor der Schweiz.



Angesichts der technologischen Entwicklungen ist mit weiterhin hoher Dynamik im Dienstleistungsbereich zu rechnen. Hinzu kommt, dass steigende Unsicherheiten im Güterhandel, etwa durch Drohungen mit neuen Zöllen, zu höheren Direktinvestitionen führen, weil Auslandsmärkte stärker durch Produktion vor Ort und weniger durch Exporte aus Europa bedient werden. Globalisierte Geschäftsmodelle verändern so zwar ihre Form, bleiben aber bestehen. Sie tauchen dann nicht mehr in der Handelsstatistik, sondern in der Zahlungsbilanz auf. Das heißt nicht, dass es nicht möglich wäre, politische Barrieren aufzubauen, die eine umfassende Entkoppelung bewirken. Das wäre allerdings weder wünschenswert noch zeigen die aktuellen empirischen Befunde in diese Richtung.



Wir beobachten eine Transformation

Die Lehren aus den verschiedenen Krisen seit 2008 laufen auf eine stärkere Diversifizierung von Beschaffungs- und Absatzmärkten hinaus. Daraus resultiert keineswegs eine dauerhafte Reduktion des grenzüberschreitenden Handels, sondern eine Transformation: Wenn etwa weniger aus China eingekauft wird, steigen die Importe aus Vietnam oder Indonesien; die Importe insgesamt gehen nicht zurück. Dies zeigt sich sehr deutlich als Folge der Strafzölle von US-Präsident Donald Trump auf ­Güter aus China.



So muss die Bildung von Wirtschaftsblöcken, etwa einer transatlantischen oder einer südostasiatischen Allianz, keineswegs zur Deglobalisierung führen. Die Handelsströme werden um­sortiert, ohne dass das Ausmaß des grenz­überschreitenden Handels zurückgeht. Dies ist schon allein deshalb sehr wahrscheinlich, da in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Ressourcen für eine vermehrte lokale Produktion von bisher importierten Gütern oder Dienstleistungen gar nicht vorhanden sind, sodass eine Rückverlagerung hohe volkswirtschaft­liche Nettokosten hätte.



Die aktuellen Herausforderungen Europas deuten eher auf eine vertiefte Globalisierung hin. Der demografische Wandel wird es erforderlich machen, sich hier noch stärker auf kapitalintensive Sektoren zu spezialisieren und arbeitsintensive Güter und Dienstleistungen zu importieren. Eine grüne Transformation, die das Niveau des Wohlstands nicht gefährden soll, wird hohe Produktivitätsfortschritte erfordern: mehr Output aus einem kleiner werdenden Ressourceneinsatz. Das wird kaum ohne kluge Nutzung der internationalen Arbeitsteilung gelingen können. Und eine wirksame Eindämmung der aktuell hohen Inflation erfordert eindeutig mehr inter­nationalen Wettbewerb als weniger.



Die Globalisierung verändert sich also, aber sie verringert sich nicht. Diese Transformation lässt sich anhand zweier Fallstudien gut nachvollziehen: die Beziehungen zu China und die Transformation der Energieströme.



Die Beziehungen zu China

Die EU und China unterhalten enge Handelsbeziehungen, die in den vergangenen Jahren erheblich ausgebaut wurden. So lagen 2021 die EU-Güterimporte aus China um 22,8 Prozent und die Güterexporte um 10,2 Prozent über dem Vorjahresniveau; im Zehnjahresvergleich liegen die Zuwächse sogar bei 84,4 beziehungsweise 76,4 Prozent. Im Warenverkehr gibt es somit keinerlei Anzeichen für eine absolute Entkopplung mit China, obwohl das chinesische BIP (in Dollar gerechnet) von 2011 bis 2021 noch deutlich stärker (nämlich um 134 Prozent) gewachsen ist. Ganz ähnlich sieht der Befund auch im sino-amerika­nischen Handel aus.



Bei ausländischen Direktinvestitionen aus China in die EU zeichnet sich aber ein anderer Trend ab: Diese haben im Jahr 2021 mit 10,6 Milliarden Euro ihren niedrigsten Stand seit 2013 erreicht. Dennoch bleibt China einer der wichtigsten Investitionspartner der Europäischen Union. In der Gesamtschau trägt China zu westlichem Wirtschaftswachstum und Wohlstand bei.



Nichtsdestotrotz muss klar sein: Das Festhalten am Status quo ist keine Option. Zum einen sind die wirtschaftlichen Wachstumsaussichten Chinas wahrscheinlich geringer als bisher angenommen und die künftige chinesische Wirtschaftsleistungsfähigkeit ist unklar. Zum anderen gilt es, große geopolitische Risiken, zum Beispiel aus einem Taiwan-Konflikt, besser zu berücksichtigen.



Seitdem sich Chinas wirtschaftliches Wachstum verlangsamt hat, veröffentlicht Peking immer weniger wirtschaftliche ­Daten; und was veröffentlicht wird, ist oft von fragwürdiger Qualität. So hat sich laut Financial Times die Anzahl der wirtschaftlichen Indikatoren, die vom chinesischen Statistikbüro veröffentlicht werden, um fast 75 Prozent verringert. Die mangelnde Transparenz über die wirtschaftliche Performance hinterlässt viele offene Fragen über den Zustand der chinesischen Wirtschaft und ihre Wachstumsaussichten.



Eine Studie von Luis R. Martínez misst das Wirtschaftswachstum anhand von Daten über die nächtliche Lichtintensität von Satellitenbildern, eine etablierte Proxy-­Variabel zur Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungskraft: Je heller ein Land nachts beleuchtet ist, desto größer ist sein BIP. In seiner Studie fand er heraus, dass insbesondere in autokratischen Staaten eine große Diskrepanz zwischen den offiziellen Wachstumszahlen und dem aufgrund der Lichtintensität geschätzten BIP besteht. China ist hier keine ­Ausnahme! So mutmaßt Martínez, dass das jährliche chinesische Wirtschaftswachstum im Schnitt ein Drittel niedriger einzuschätzen ist als die offiziellen Zahlen glauben machen wollen. Damit wäre diese Volkswirtschaft in Kaufkraftparitäten signifikant kleiner als die amerikanische – und nicht größer, wie offiziell behauptet wird.



Die wirtschaftliche Basis für mehr Handel mit China schwindet somit, während sich die Systemrivalität verschärft. Letztere liegt einerseits an Pekings Innenpolitik, die immer repressiver wird. Andererseits tritt China auch außenpolitisch immer aggressiver und gegen westliche Interessen agierend auf.

Die Verlangsamung des chinesischen Innovationsprozesses zeigt auch, dass die chinesische Herangehensweise mit Dirigismus von oben Grenzen hat. Der MIT-Forscher Daron Acemoğlu hat in einer aktuellen Studie gezeigt, dass die Politisierung von Fakultäten an chinesischen Universitäten zu einem Abschwächen der Forschungs- und Patentleistungen führt. Die „Dual Circulation“-Strategie ist ein Versuch Chinas, Abhängigkeiten zu reduzieren und in zentralen Technologiefeldern unabhängig von westlichen Akteuren zu sein. Gleichzeitig bemüht sich China aktiv, westliche Technologien zu erlangen. Es ist somit mehr als zweifelhaft, dass ein stark dirigistisches Innovationssystem den globalen Innovationswettlauf gewinnen wird. Chinas wirtschaftlicher Ausblick wird unserer Ansicht nach somit überschätzt.



Auch aus einer geopolitischen Risikoperspektive müssen die Wirtschaftsbeziehungen zu China neu bewertet werden. Laut einem Bericht der Financial Times gehen die USA im Falle einer chinesischen Blockade Taiwans von jährlichen globalen Verlusten in Höhe von 2,5 Billionen Dollar aus. Dies wäre ein massiver Schock und wird als Warnsignal verstanden, dass das Festhalten an China als engem Handelspartner riskant ist. Es ist schwer, die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Konfrontation einzuschätzen. Die Kosten wären aber so hoch, dass sie in allen unternehmerischen Entscheidungen zu Taiwan und zu China eine Rolle spielen sollten. Klar dürfte sein, dass eine direkte militärische Konfrontation dazu führen würde, dass westliche Unternehmen grundsätzlich ihre Beziehungen mit China massiv reduzieren müssten. Das bedeutet nicht, dies schon heute zu tun. Es bedeutet aber, dass Unternehmen dieses Risiko ernst nehmen und jetzt unternehmerische Strategien entwickeln müssen, um in einem solchen Fall trotz hoher Verluste weiter operieren zu können.



Die Lektion ist nicht, dass Globalisierung durch das chinesische Wirtschaftssystem und die geopolitischen Risiken zurückgeht. Vielmehr sollten Unternehmen ihre Lieferketten diversifizieren und andere Märkte erschließen. Eine solche Diversifizierung würde das Wirtschaftssystem und die Lieferketten gegenüber geopolitischen Schocks widerstandsfähiger machen und neue Wachstumsvorteile schaffen. Das Beispiel China zeigt eine Transformation der Globalisierung, weg von dem starken Fokus auf China hin zu einer breiteren Palette an Handelspartnern.



Veränderung der Energieströme

Die grüne Transformation der Wirtschaft wird auch die globalen Energieströme ver­ändern. Um dem fortschreitenden Klimawandel entgegenzuwirken, will die Europäische Union mit ihrem Green Deal in den nächsten 30 Jahren fast komplett aus fossilen Brennstoffen aussteigen. Da diese Brennstoffe zu großen Teilen importiert werden, würde über die nächsten Jahrzehnte einer der weltweit wichtigsten Importeure von Öl und Gas wegfallen. Dies dürfte Auswirkungen auf die Weltmarktpreise und natürlich auch auf die Lieferanten von fossilen Brennstoffen haben. So kann man schon jetzt erkennen, dass sich wichtige Exportländer des Nahen Ostens stärker Richtung China orientieren, da die USA inzwischen kein Nettoimporteur von Erdöl mehr sind und Europa mittelfristig schneller an Bedeutung verliert. Gleichzeitig wird aber ein globaler Markt für grüne Energie entstehen, wo Europa früher und stärker als seine Wettbewerber als Nettoimporteur auftreten wird.



Die Auswirkungen der Klimapolitik auf Russland wurden inzwischen durch die Energiesanktionen überlagert. Die langen Diskussionen in der EU über mögliche Energiesanktionen führten zu erhöhten Preisen bei gleichbleibenden Exportmengen von Russland nach Europa. Dieses Problem wurde weiter verschärft, indem Präsident Putin den Spieß umdrehte und mit einer erheblichen Drosselung der Gas­exporte die EU sanktionierte. Russland hat durch seinen fast kompletten Lieferstopp von Pipelinegas nach Europa nicht nur das weltweite Angebot an Gas reduziert, sondern ganz besonders in Europa Gas knapper und teurer gemacht.



Kurzfristig führen diese Entwicklungen wieder zu einer Transformation der Globalisierung. Flüssiggasimporte sowie verstärkte Importe aus Norwegen haben russisches Gas in Europa ersetzt, dabei aber weltweit die Preise erhöht. Die Folgen spürt auch die EU ganz konkret, da sie nach über einem Jahrzehnt Handelsüberschuss wieder ein Handelsdefizit aufweist. Neben dieser Verlagerung der Energie­importe verdoppelten sich auch die Importe chinesischer Solarpanelen in der ersten Hälfte dieses Jahres. Mittel- und langfristig dürften die teureren Preise für Gas und Öl die Dekarbonisierung Europas beschleunigen. Dies verändert Energieströme und führt zu neuen Güterflüssen, zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien.

Schwerwiegender für die Globalisierung dürften allerdings die divergierenden Ansätze zum Klimaschutz sein. Auf der einen Seite gibt es den subventionsbasierten Ansatz, den die USA und China verfolgen. China unterstützt schon seit Längerem seine grünen Industrien massiv. Aber auch die USA haben jetzt mit dem Inflation Reduction Act nachgezogen und 369 Milliarden Dollar für Investitionen in die grüne Transformation und Energiesicherheit in den nächsten zehn Jahren angekündigt.



Europa verfolgt einen anderen Ansatz: Es will die Klimaziele primär über höhere Preise von Emissionen erreichen. Mit dem Emissions Trading System werden Emissionen de facto besteuert. Damit besteht die Gefahr, dass energieintensive Industrieproduktion nicht nur wegen der hohen Gaspreise, sondern auch aufgrund der stärkeren Besteuerung aus Europa abwandert, ohne dabei nennenswert die weltweiten Emissionen zu reduzieren.

Diese unterschiedlichen Ansätze beim Klimaschutz werden zu Spannungen im Welthandel führen. Maßnahmen wie ein CO2-Grenzausgleich können zwar WTO- kompatibel gestaltet werden und die Verzerrungen durch die unterschiedlichen Ansätze ausgleichen. Sie werden aber zu politischen Spannungen führen. Die vor allem in Deutschland gehegte Hoffnung auf die Errichtung eines Klimaclubs zerschlägt sich.



Handlungsempfehlungen

Die Integration in das Weltwirtschaftssystem bringt weiterhin zahlreiche Vorteile für Staaten, Unternehmen, Haushalte und Beschäftigte. Gerade das Beispiel des Vereinigten Königreichs illustriert, wie teuer das Abwenden vom wichtigsten Handels­partner ist. Und der Brexit zeigt auch, dass Verteilungsprobleme durch die Verringerung von Handelsbeziehungen nicht gelöst werden.



Die Transformation der Weltwirtschaft im Dienstleistungshandel, in den Handelsbeziehungen mit China und in den Energieströmen bedeuten aber auch neue Herausforderungen, die aktiv gestaltet werden sollten. Deutschland sollte über die EU, die im internationalen Handel und den ausländischen Direktinvestitionen die alleinige Zuständigkeit hat, seinen Einfluss nutzen, um sinnvolle Regeln zu gestalten. Grundlegendes Ziel sollte dabei eine regelbasierte, multilaterale Wirtschaftsordnung bleiben. Dem Druck nichtdemokratischer Staaten mit stark abweichenden Wirtschaftssystemen auf die Weltwirtschaftsordnung muss klug begegnet werden. Dabei ­bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes, der Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik strategisch zusammendenkt.



Die Attraktivität des EU-Binnenmarkts ist nach wie vor das wirksamste Instrument, um Anreize für kooperatives Verhalten anderer Staaten zu fördern. Der einfache Grund dafür ist, dass alle Durchsetzungsmechanismen darauf beruhen, dass der Zugang zum Binnenmarkt verweigert wird; je größer, tiefer und dynamischer dieser Markt ist, desto größer sind die Chancen, dass die EU und ihre Mitglieder die globale Ordnung weiterhin in ihrem ­Interesse gestalten können. Dennoch müssen die Instrumente zur Verteidigung und Durchsetzung von Interessen weiter geschärft werden. Eine starke und widerstandsfähige Makroökonomie und eine wichtige internationale Rolle des Euro sind entscheidend für eine erfolgreiche Außenwirtschaftspolitik. Nur so können sich Europa und Deutschland dem steigenden wirtschaftlichen Druck insbesondere von autokratischen Staaten widersetzen.



In der Klima- und Energiepolitik muss die Dekarbonisierung mit vollem Tempo vorangetrieben werden. Dabei liegt es an Europa, eine Führungsrolle einzunehmen. Der Systemwettbewerb wird dabei auch in Europa den Druck erhöhen, verstärkt auf staatlich geförderte Innovation zu setzen. Die Verbilligung von grüner Technologie dank Innovation bietet die Chance, die Dekarbonisierung weltweit zu beschleunigen und gleichzeitig neue Unternehmens- und Produktführerschaft aus Europa zu erreichen. Weltweit muss die Dekarbonisierung beschleunigt werden – hier liegt es an Europa und Deutschland, Anreize und Druck zu erzeugen, damit möglichst viele Staaten mitziehen.



Der systemische Konflikt zwischen den USA und China, der sich insbesondere im Technologiebereich zeigt, wird die europäische Außenwirtschaftspolitik in den kommenden Jahren prägen. Hier prallen zwei der für Europa wichtigsten Handels­partner aufeinander. Europas Interessen sind also viel zu stark betroffen, als dass es ein neutraler Beobachter sein könnte. Trotz aller Differenzen ist Europa mit den Vereinigten Staaten in systemischen Fragen deutlich enger verbunden als mit China. Daher muss es das Ziel europäischer Politik sein, die technologische Verwundbarkeit gegenüber China zu reduzieren und die Interdependenz zu gestalten. Beim Datenmanagement und -schutz sowie bei der Regulierung großer Plattformen spielt Europa eine führende Rolle und sollte diese auch gegenüber den USA nutzen.



Wenngleich die Weltwirtschaft heute vor einschneidenden Veränderungen steht, muss das Ende der Globalisierung nicht eingeläutet werden. Deutschland und Europa werden auch in Zukunft relevante Akteure der Weltwirtschaft sein. Um diese Veränderungen erfolgreich zu managen und eine Fortsetzung der Globalisierung zu ermöglichen, müssen sie ihre Außenwirtschaftspolitik aber strategischer und ganzheitlicher denken. Dann wird es möglich sein, die Transformation zu gestalten. Denn Globalisierung bleibt in unser aller Interesse.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 18-25

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Alexandra Gritz
Guntram Wolff

Mit mehr Markt gegen Monopole

Wenn Europa seine Rohstoffabhängigkeit von Autokratien wie China und Russland reduzieren will, sollte es auf eine Ausweitung des internationalen Wettbewerbs setzen.

Prof. Dr. Gabriel Felbermayr ist Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung und lehrt an der Wirtschaftsuniversität Wien

Dr. Guntram Wolff ist Direktor der Deutschen Gesell- schaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.

 

Die Autoren danken Ole Spillner für seine Forschungs­assistenz.