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01. Jan. 2005

Wo ist Spengler?

Kultur

Die Deutschen haben ihren Denker der internationalen Beziehungen vergessen

Wer nach politischer Philosophie in einiger Ausführlichkeit sucht, wird in der Regel nicht schlecht bedient. Wir haben die ersten Bände einer Gesamtausgabe von Leo Strauss, auch eine Gehlen-Ausgabe. Die Verehrer von Othmar Spann gehen so wenig leer aus wie die von Eric Voegelin. Und wir haben, da wird es schon kritischer, eine Gesamtausgabe von Alfred Weber, bei der man über den Umfang streiten kann, schließlich eine auf sage und schreibe 24 Bände geplante Ausgabe der Schriften von Ferdinand Tönnies, eine ähnlich starke von Ernst Troeltsch steht ins Haus. Bei allem Respekt für „Gemeinschaft und Gesellschaft“ oder für eine Theorie der Säkularisierung moderner Gesellschaften: Der komplette Troeltsch dürfte weltweit vielleicht 500 Abnehmer finden, drei Fragezeichen zu dem Projekt seien notiert. Vergessen wir nicht die üppig edierten Matadore der „Kritischen Theorie“: Erich Fromm, Herbert Marcuse, Adorno (mit Vorlesungsmitschriften wie sonst nur bei Kant und Hegel) und Max Horkheimer können sich über mangelnde Aufmerksamkeit von Verlegern und rührigen Herausgebern nicht beklagen.

Aber dann stößt man auf den großen blinden Fleck der politischen Philosophie: Es gibt keine Ausgabe der Schriften Oswald Spenglers, nicht einmal eine der Hauptschriften, von einer kritischen Edition oder einer Sammlung seiner Briefe ganz zu schweigen. Lieferbar ist „Der Untergang des Abendlandes“ seit Jahren bei dtv. Ich besitze die elfte Auflage, 1993 erschienen: 80. bis 85. Tausend, gegenwärtiger Amazon-Verkaufsrang 13 095 – für ein Buch, das vor über 80 Jahren erschien, ein ungewöhnlich guter Platz. Und das bedeutet, dass C. H. Beck, Spenglers Hausverlag, an seinem alten Autor auch heute gut verdient. Aber er pflegt ihn nicht. Die „Reden und Aufsätze“ mit ihrem stupenden Reichtum an Themen und Perspektiven sind ebenso vergriffen wie die „Politischen Schriften“.

Über die Gründe muss man nicht lange rätseln: Spengler hat über die Weimarer Republik im Besonderen und die Demokratie im Allgemeinen manche wenig freundlichen Sätze geschrieben, und wer will, kann damit immer noch Erstsemester erschrecken. Offenbar hat sich der Beck-Verlag so sehr mit der geltenden Geschichtspolitik der Bundesrepublik identifiziert, dass für einen fundamental konservativen Denker wie Spengler im Programm kein Platz ist. Das deutsche Geschichtsgefühl will, jedenfalls auf seiner offiziösen Ebene, eine demokratische Vorgeschichte stark gemacht sehen. Aber dieses Geschichtsgefühl ist deshalb auch durchzogen von dem, was die Psychoanalyse „Abspaltungen“ nennt: Gegenüber der DDR gibt es die Haltung der Ironie, gegenüber dem Kaiserreich inzwischen die gelassene kritische Distanz, gegenüber dem Nationalsozialismus die allerhöchste Vorsicht, die schon beim kleinsten kontagiösen Verdacht einrastet. Dagegen aber scheint im Fall Spengler eine Abstimmung an den Buchhandelskassen stattzufinden, mit der die Maßgaben der geschichtspolitischen Elite konterkariert werden.

Immer ist es leichter, einen Autor zu kritisieren, als den Gründen seines Erfolgs nachzugehen. Während man in Deutschland vorsichtig und staunend den vergessenen geistigen Kontinent entdeckt, der sich in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts rechts von der „Kritischen Theorie“ entwickelte, ist man in den Vereinigten Staaten schon bei Gesamtdarstellungen der dunklen, riskanten, aber darum auch faszinierenden Geister aus Deutschland angelangt. Eine monumentale Geschichte des George-Kreises erschien dort; eine ähnlich umfassende Studie über den Antifeministen Otto Weininger, ohne Pendant in Deutschland, hat Chandak Sengoopta veröffentlicht. Dort, wo man freimütig über die Vor- und Nachteile neoimperialer Politik diskutiert, sieht man auch Spengler unbefangen: Nicht als Kulturkritiker oder als Künder einer „konservativen Revolution“, sondern als Pionier einer neuen Sicht der internationalen Beziehungen. John Farrenkopf hat ihn vor einigen Jahren als einen Denker für die turbulentere Zeit nach dem Kalten Krieg vorgestellt. Hier liegt die Haben-Seite dieses Theoretikers. Spenglers Werk entstand zu einer Zeit, als in der bis dahin von den europäischen Mächten dominierten Weltpolitik neue Akteure auftraten. Er war einer der ersten, der im Sieg Japans über Russland, einer „farbigen“ über eine „weiße“ Macht, vor genau 100 Jahren ein Geschichtszeichen erkannte, das eine neue Epoche inaugurierte. Spengler hat später von dem Hoffnungsschimmer gesprochen, den der japanische Sieg in ganz Asien, ja bis Mexiko und Schwarzafrika verbreitet habe. Offenbar war es möglich, eine weiße Großmacht in die Knie zu zwingen und so den Mythos der westlichen Unbesiegbarkeit zu zerstören.

Spengler dachte in großen Kulturräumen, dabei keineswegs nur eurozentrisch. Er war viel weniger von Ideologien geprägt, als man annehmen könnte, seine eigentliche Botschaft während der zwanziger Jahre forderte den kalten Blick auf die Wirklichkeiten. Wie scharf tadelte er die deutsche Rechte, die aus Amerika nur hören wollte, was ihr ins Weltbild passte, etwa die Schriften Henry Fords! Wer solche Passagen liest, fühlt sich eher an Max Weber erinnert als an die Winkelpropheten Weimars. Zu Spenglers Attraktivität gehört aber vor allem der ästhetische Wurf, den der „Untergang“ eben auch bedeutete.

Spenglers Entwurf ist tragisch gestimmt. Er nahm einen niemals zu schlichtenden internationalen Macht- und Wirtschaftskampf an: Wachsende Armut, steigende Ungleichheit der Einkommen in den entwickelten wie den unterentwickelten Ländern, der mögliche Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Ordnung (und damit eines Grundpfeilers der liberalen Ansicht internationaler Beziehungen) werden mit Spengler denkbar. Der Krieg, nicht nur als militärisch geführter, sondern ebenso als politischer, wirtschaftlicher, kultureller, propagandistischer Kampf, ist die Regel, von der alle Überlegungen ausgehen müssen. Dagegen gehalten scheint selbst die Doktrin des „außenpolitischen Realismus“ angelsächsischer Prägung noch allzu sehr vom Optimismus geprägt. Erst Spenglers Pessimismus, seine Bildungsgeschichte in der tragischsten Epoche der „tragischen Nation“, schärft den Blick für die Weltpolitik.

Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen – ist das am Ende mehr als ein Reimport von etwas, das man im Haus hätte, vergessen in einem Keller, den zu betreten es die lieben Kleinen gruselt? Eine vernünftige Spengler-Ausgabe wäre keine Sache der philologischen Pietät. Die Wirklichkeit selbst ist es, die seine Fragen wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Man denkt dabei vor allem an die tiefste, am vitalen Grund der Politik: Die lang verdrängte demographische Krise der westlichen Gesellschaften. Man schlage bei Spengler die Diagnose der großstädtischen Zivilisationen nach, und man wird Sätze finden, die den Heutigen in den Ohren klingen müssen: „Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum Äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.“

Der Philosoph starb 1936. Im kommenden Jahr werden die Rechte an seinem Werk frei. Ob da ein risikobereiter Verlag schon in den Startlöchern steht, um die Chance zu nutzen?

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 100 - 101.

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