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31. Dez. 2008

Wo bitte, finde ich die „arabische Straße“?

Brief aus ... Damaskus

Ganz bestimmt nicht in Syrien oder Katar. Eher schon im Internet

Als jemand, der in Kairo geboren wurde, in London aufwuchs und heute in New York lebt, sind meine Standards für das, was eine Großstadt ausmacht, ziemlich hoch. Eine Einwohnerzahl von mindestens acht Millionen sollte sie schon aufweisen können. Oder wenigstens eine sehr lange und möglichst abwechslungsreiche Geschichte. Jerusalem zum Beispiel ist eigentlich ein Dorf. Auf dem Sektor Geschichte kann es dafür lässig mithalten. Kairo geht mit einer geschätzten Bevölkerung von 18 Millionen leicht durch. Ganz oben auf meiner Liste rangiert Mumbai, das mit seinen 24 Millionen Einwohnern so dicht, rasant und hektisch wirkt – ganz wie Kairo auf Kokain.

Vor fast zehn Jahren war ich das erste Mal in Damaskus – es war Liebe auf den ersten Stau. Und das, bevor ich die Altstadt besuchte oder man mir sagte, dass Damaskus zu den ältesten, dauerhaft besiedelten Städten der Welt zählt. Erst kürzlich besuchte ich es ein zweites Mal und stieg zufällig im selben Hotel ab wie damals. Es war, als wäre ich mit einer Zeitmaschine gereist. Die Aussicht aus meinem Hotelfenster hatte sich nicht verändert. Die meisten der Restaurants, die ich damals besucht hatte, ebenfalls nicht. Vielleicht gab es ein paar mehr als noch vor zehn Jahren. Aber Lust auf Neues war hier weit und breit nicht zu entdecken.

Von Damaskus reiste ich nach Doha, der Hauptstadt Katars, weiter. Obwohl ich die Stadt seit 2006 mehrfach besucht hatte, erkannte ich nichts wieder. Wenigstens oberflächlich hatte sich Doha in den letzten zwei Jahren rasanter verändert als Damaskus in fast einem ganzen Jahrzehnt.

Syrien ist ein Spiegelbild des Irak. Wie im irakischen Nachbarland leben dort verschiedene religiöse und ethnische Minderheiten. Mit Baschir al Assad steht ein Mann an der Spitze des Staates, der der Minderheit der Alawiten angehört − einer Sekte, die aus dem Schiismus hervorging. Zieht man in Betracht, dass Syrien in einer überwiegend sunnitischen Region liegt, versteht man besser, warum es so enge Beziehungen zum Iran pflegt.

Katars unmittelbarer großer Nachbar ist Saudi-Arabien, ein Land, mit dem es einen geradezu märchenhaften Reichtum gemein hat – und den Wahabismus, eine ultrakonservative Form des Islams. Saudi-Arabien ist außerdem das mächtigste unter den Golf-Ländern. Auf dessen Boden befinden sich die zwei heiligsten Stätten des Islams und darunter die größten Erdölreserven der Welt. Wie schafft es das kleine, bevölkerungsarme, aber an natürlichen Ressourcen und Ambitionen reiche Katar, eine von Saudi-Arabien unabhängige Identität zu entwickeln?

Es pflegt nach allen Seiten gute Beziehungen und verbannt den konservativen Wahabismus in den Hintergrund. Ich nenne Katar das Bermuda-Dreieck des Mittleren Ostens. Was in den anderen arabischen Staaten gang und gäbe ist, verschwindet dort aus der allgemeinen Wahrnehmung. Immerhin: In Katar befindet sich die Zentrale des regierungskritischen Senders Al-Dschasira, der größte US-Stützpunkt in der Region sowie eine israelische Handelsvertretung.

Auf meiner Reise von Damaskus nach Doha fiel mir auf, was für ein Unsinn das Gerede von einer „arabischen Straße“ ist, das in den Medien so gerne gebraucht wird. Und wie beschränkt und beleidigend es doch anzunehmen, dass etwa 300 Millionen Leute ähnlich ticken, nur weil sie die gleiche Sprache sprechen. Ist etwa eine „amerikanische Straße“ vorstellbar? Wäre diese Straße dann in New York oder in Los Angeles, der vermutlich einzigen Stadt, die ein New Yorker neben dem Big Apple akzeptiert? Läge sie, mitsamt ihrem Anspruch, „Amerika“ zu repräsentieren, eher im Mittleren Westen? Oder im Süden, zwischen den Kirchen und alten Plantagen des „Bible Belt“?

Gewiss nicht. Aber die arabische Straße wird unermüdlich zitiert. Wobei es sicherlich nicht hilfreich ist, dass die meisten großen Medien ihre Büros im Mittleren Osten geschlossen haben und nun Reporter auf Durchreise einfliegen, um im Schnelldurchlauf die gängigsten Klischees aufzuschnappen, aber alles, was nicht in ihr Weltbild passt, als irrelevant abzutun.

Es gibt alle Varianten arabischer Straßen und dazu – völlig unabhängig von meinen persönlichen Standards – Städte, die Mega-Metropolen sind und solche, die eher verlassenen Dörfern ähneln. Nur als Beispiel: Sämtliche 800 000 Einwohner Dohas würden in eine kleine Ecke Kairos wie das Viertel Schubra mit seinen sieben Millionen Bewohnern passen. Wenn es irgend etwas gibt, das man verallgemeinern kann, dann Folgendes: Die Mehrheit der Bevölkerung im Nahen und Mittleren Osten ist sehr jung, der große Prozentsatz ist unter dreißig. Und: wenn es überhaupt eine „arabische Straße“ geben sollte, dann eine virtuelle: die Datenautobahn des Internet.

MONA ELTAHAWY war Korrespondentin für Reuters in Kairo und Jerusalem. Sie schreibt regelmäßig für die New York Times.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 114 - 116.

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