Wissenschaft ist Macht
Technologie
Die Rolle der Forschung bei der Lösung drängender globaler Fragen wächst
Forschung und Technologie spielen in der Weltpolitik seit Jahrhunderten eine Rolle. Nie aber war ihr Einfluss bei der Deutung und Lösung aller drängenden Fragen so groß wie heute. „Wissenschaft und Staatskunst“, rief der Außenminister, „können und müssen zusammenarbeiten – für eine sicherere, gesundere und bessere Welt“. So sprach der amerikanische Chefdiplomat Colin Powell im Sommer vor zwei Jahren. Es war mehr als nur eine nette Verbeugung vor der Wissenschaftsakademie der Vereinigten Staaten von Amerika, einem Hausnachbarn des Außenministeriums im Washingtoner Foggy Bottom. „Eine enge Partnerschaft“, mahnte Powell, sei „zum Bestehen der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts entscheidender denn je.“
Dass Wissenschaft eine immer größere Rolle in der globalen Politik spielt, klingt fast wie eine Binsenweisheit. Hat man wissenschaftliche Zusammenarbeit nicht schon immer gern bi- und multilateralen Verträgen beigepackt, und die Kultur gleich dazu? Das klang stets sehr versöhnlich und konstruktiv. Konkret musste es nicht viel bedeuten.
Seit Jahrhunderten wirken Forschung und Technologie auf Politik. Zunächst durch die Konstruktion immer tödlicherer Waffensysteme, seit der Industrialisierung auch durch die Erfindung immer raffinierterer Produkte. Wer baut das beste Auto, dreht die stärkste Pille? Das bleibt entscheidend für den Erfolg von Exportnationen. Je schneller und weiter die Waren zirkulieren, je zügiger Produktion in Billiglohnländer abwandert, desto mehr wird der Besitz der neuesten Technologie zum alles entscheidenden Faktor.
Doch da ist noch mehr. Alle großen Weltprobleme selbst sind nun aufs engste verzahnt mit der Wissenschaft. Ob es um Energie oder Ernährung, um Transport, Kommunikation, Klima oder Gesundheit geht: Überall hofft und baut man heute auf die Wissenschaft – bei der Beurteilung wie bei der Lösung der Probleme.
Wobei nur Ahnungslose davon träumen, hier in einer heilen Welt felsenfester Fakten Schutz zu finden. Tatsächlich werden Forscher, genau wie Politiker, von Interessen, Moden und Allüren gelenkt. Auch hier entscheiden Prioritäten, Gewichtung und Haltung. Was sich zeigt, sobald ein Thema politisch „heiß“ wird. Bei der Atomenergie etwa. Oder beim Streit um die GMOs, die genetisch modifizierten Organismen, die uns bald alle nähren und heilen sollen.
Unter Staatenlenkern und Industriekapitänen ist es mittlerweile en vogue, sich die globalen Trends regelmäßig von Experten erklären zu lassen. Sie wären dumm, dies nicht zu tun, denn sie könnten die Welt sonst weder verstehen noch formen. So wächst die Zahl der Berater, Stäbe und Institute, tummeln sich mehr und mehr Macher und Manager auf Foren und Symposien, um nicht den neuesten Technotrend zu verpassen, der ja in aller Regel eine „Revolution“ verspricht. Zugleich aber gibt diese wachsende Beratungsfunktion der Wissenschaft eine enorme Deutungshoheit. Sprich: Macht.
Manche Staaten haben dies erkannt. Die Schweiz etwa formuliert bereits eine „Wissenschaftsaußenpolitik“, sieht „Wissen und Können“ als „gewichtigen Machtfaktor“. Weshalb dort künftig Bildung, Forschung und Technologie „stärker in die Diplomatentätigkeit integriert“ werden sollen. Weltweit wächst die Zahl der Forschungsexperten an den Botschaften. Führend auch hier: die USA. Früh hat das Land begriffen, wie wertvoll Wissenschaft bei der Verfolgung nationaler Interessen ist. Schon anno 1898 entsandten die Amerikaner ihren ersten Wissenschaftsattaché nach Europa – den Zoologen Charles Wardell Stiles. Er wurde an die amerikanische Botschaft in Berlin geschickt, um den deutschen Protektionismus beim Schweinefleisch zu überwinden. Erfolgreich, wie die Chroniken berichten.
Später, zu Zeiten des Kalten Krieges, galten den Amerikanern ihre Forscher vor allem als Geistesathleten im großen Systemwettlauf. Ihr düsterster Tag war der 12. April 1961 – der Tag, an dem die Russen mit dem Kosmonauten Jurij Gagarin in der Raumkapsel Wostok zuerst einen Menschen ins All schossen. Erst als am 20. Juli 1969 der amerikanische Astronaut Neil Armstrong den Spruch „Houston, Tranquility Base here. The Eagle has landed“ vom „Meer der Ruhe“ auf dem Mond an die Basisstation Houston auf der Erde sendete, heilte der Komplex, der die Amerikaner seit dem russischen „Sputnik-Schock“ von 1957 umgetrieben hatte. Es bleibt erklärtes Ziel amerikanischer Politik, den Platz der Nation als „the world‘s leader“ der Wissenschaft zu behaupten, mit viel Geld und Elan. 44 Prozent aller Mittel für Forschungsförderung in der OECD fließen in den USA. Politik, Industrie und auch der Wissenschaftsapparat selbst achten hier darauf, dass kein Vorsprung verloren geht.
So wurde US-Außenpolitikern bei einer Überprüfung durch ein Komitee des National Research Council vor fünf Jahren kräftig der Kopf gewaschen: Konträr zu allen Weltentwicklungen, befand der Vorsitzende Robert Frosch, grassiere im State Department „die Neigung, wissenschaftliches und technologisches Fachwissen herunterzuspielen“. Das diplomatische Corps, tadelte er, müsse sich dringlich „Basiswissen“ aneignen. Sein Gremium lieferte dazu eine lange Liste von politisch entscheidenden Forschungsthemen, hübsch sortiert nach Weltregion und Dringlichkeit. Seit September 2000 hat der US-Außenminister einen Wissenschaftsberater. Und die American Association for the Advancement of Science (AAAS) hält Seminare für Diplomaten ab, um ihnen technologisch heimzuleuchten.
Die einzige Nebenwirkung dieser Entwicklung: Dass Wissenschaftler zunehmend Lust verspüren, sich politisch einzumischen. Auch das hat seit dem Atombombenbau im „Manhattan Project“ Tradition. Der Name Oppenheimer steht für den politischen Zweifel von Forschern am eigenen Tun.
Und diese Tradition lebt fort. So fleißig amerikanische Akademiker fürs Vaterland Atome und Zellen zerlegen, so forsch gehen sie zugleich mit ihrer Regierung ins Gericht. Gerade die aktuelle Administration, längst unter dem Generalverdacht, Wissenschaft nach ideologischem Gusto zu biegen, spürt heftigen Gegenwind auf breiter Front, von der Aids-Aufklärung über die Raketenabwehr bis zur Zellforschung. 5000 Wissenschaftler, darunter vier Dutzend Nobelpreisträger, haben vor kurzem gegen die Politik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush Stellung bezogen. Während die Gründungsväter Amerikas vom Geist der Aufklärung geprägt waren, meint Wortführer Kurt Gottfried, Chairman der Union of Concerned Scientists, „werden wir heute von Leuten regiert, die nicht an die Evolution glauben“.
Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 110 - 111.