In 80 Phrasen um die Welt

27. Juni 2022

„Wir sind Schlafwandler“

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Das Bild des außenpolitischen Somnambulismus steht für die Angst, der Westen könnte in einen neuen Weltkrieg hineinstolpern. Sie kam zuerst vor acht Jahren auf. Nun ist sie angesichts des russischen Krieges in der Ukraine wieder aktuell.

Die Metapher des Schlafwandelns wurde durch ein Buch des australischen Historikers Christopher Clark populär, das pünktlich zum hundertjährigen Gedenken an den Ersten Weltkrieg international Furore gemacht hatte. Clark erzählt in „Die Schlafwandler“ auf neue Weise, „wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Nicht die oft diskutierte Kriegsschuld steht dabei im Vordergrund, sondern die Fehlwahrnehmungen, die kurzsichtigen Kalküle und blinden Flecken der Akteure jener Zeit. Clark fragt, wie diese Faktoren dazu führten, dass ein Krieg, den man eben noch für unwahrscheinlich gehalten hatte, plötzlich unvermeidlich schien. Dieser Krieg entsprang keinem Verbrechen, sondern einem kollektiven Versagen.

Helmut Schmidt griff das Bild im Oktober 2014 auf und warnte, angesichts der Krim-Annexion und des Krieges im Donbass „dürfen wir keine Schlafwandler werden“. Es gelte, Russland gegenüber nachzugeben, denn die Ukraine sei nun mal „kein Nationalstaat“ und die Annexion der Krim nicht rückgängig zu machen. Nicht nur die Debatte über den ukrainischen NATO-Beitritt, sondern auch das Angebot der EU-Assoziation seien „eine törichte Herausforderung der Russen“ gewesen.

Ganz ähnlich argumentierte Stephen M. Walt am 23. Februar 2022, am Tag vor dem russischen Angriff: „The West is Sleepwalking into War in Ukraine.“ Es fehle im Westen an „strategischer Empathie“ für das Ziel, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu vereiteln. Die USA hätten kein „vitales Interesse“ an der Ukraine, doch moralisches Posieren und falkenhafte Bekenntnisse gegenüber Putin, der „dämonisiert“ werde, seien an die Stelle ernsthafter Diplomatie getreten. So schlafwandele man in einen Krieg mit Russland.

Olaf Scholz kann dem Vergleich der heutigen Krise mit dem Ersten Weltkrieg offensichtlich auch etwas abgewinnen. So versicherte er Ende April im Koalitionsausschuss, er sei „nicht Kaiser Wilhelm“, eine Anspielung auf 1914.

Doch die historische Analogie führt auf eine falsche Fährte. Es gibt in der Ukraine einen eindeutigen Aggressor. Putin hat den Krieg von langer Hand geplant. Es ist ein Angriff eines Landes auf einen Nachbarn, und auf die Friedensordnung im Ganzen, keine leichtfertige kollektive Selbstzerstörung wie 1914.

Was die heutigen Akteure von den Schlafwandlern von 1914 unterscheidet: Die NATO hat von vornherein ausgeschlossen, selbst Kriegspartei zu werden. Eine Flugverbotszone wurde abgelehnt und Waffenlieferungen auf das Risiko hin abgewogen, in den Krieg hineingezogen zu werden. Nukleare Drohungen Russlands wurden nicht repliziert. Das heißt nicht, dass Fehlkalkulationen auszuschließen sind, aber ihre Gefahr ist permanentes Thema der Debatte. Christopher Clark war in seinem Buch zu dem Schluss gekommen, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs gebe es „keine smoking gun“. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine jedoch ist der Rauch von zerstörten Städten für jeden Beobachter zu sehen.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 15

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Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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