„Wir sind noch auf der Suche“
Gespräch über Aufarbeitung und Europa
Nach „20 Jahren Freiheit“ ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ist die Transformation in Osteuropa gelungen? Welche Bedeutung hatte die Bürgerbewegung bei der Beseitigung der Diktaturen in der DDR und in der damaligen Tschechoslowakei? Und wie ist es um die Zukunft der EU bestellt? Václav Havel und Richard von Weizsäcker blicken zurück – und nach vorne.
1 Frage: Herr Havel, vor einigen Tagen sagten Sie in einem Interview mit der ZEIT,2 das wichtigste Ziel der Revolution sei erreicht worden, nämlich die Wiederherstellung der Freiheit der Menschen. Es habe aber auch Geburtswehen gegeben. In den Neunzigern schien es, als sei in der Wirtschaft der Samt der Revolution dem Filz der Revolution gewichen. War das für Sie eine Enttäuschung?
Havel: Ja, natürlich. Alles war viel komplizierter und langwieriger als erwartet. Ich bin kein fanatischer Mensch, eher Skeptiker und Realist. Trotzdem habe ich nicht geahnt, wie schwierig der Weg wird. Für die Privatisierung gab es kein historisches Vorbild. Bei uns war alles in der Hand des Staates, und innerhalb von sehr kurzer Zeit musste das ganze Eigentum wieder in private Hände zurückkehren. Natürlich war es für Betrüger und unlautere Menschen einfach, die unübersichtliche Situation auszunutzen. Aber die Geschichte wäre langweilig, wenn immer alles glatt liefe. Sie überrascht uns immer wieder. So muss es wahrscheinlich auch sein. Frage: Was war die Hauptschwierigkeit – dass eine wirtschaftliche Tradition abrupt abriss? Oder dass rechtsstaatliche Institutionen fehlten? Oder auch, dass ein moralisches Fundament zerstört worden war oder einfach fehlte?
Havel: Das gehört zusammen. Es dauerte eine Weile, bis der rechtliche Rahmen entstand, doch eine Rechtsordnung kann nur dann funktionieren, wenn es auch eine moralische Ordnung gibt. Menschen ohne Moral finden auch in der besten Gesetzgebung eine Lücke.
von Weizsäcker: Václav Havel ist ein wirklicher Ziehvater dessen, was wir in unseren freiheitlichen Demokratien als Bürgergesellschaft bezeichnen. Er hat sich seit den Siebzigern als Inhaftierter und erst recht als Präsident immer für die Zivilgesellschaft eingesetzt. Denn natürlich brauchen wir Demokratie, Verfassung, Parteien, aber es geht auch darum, nicht alles den Parteien zu überlassen – die Bürger müssen sich ihrerseits aktiv beteiligen, wie in Polen und später in der DDR. Frage: Sie haben, Herr von Weizsäcker, immer wieder betont, dass es die Bürger der DDR waren und nicht die Politiker, die am Ende die Mauer zum Einsturz brachten. Sind die Bürger nicht stolz genug auf ihre Rolle, und wird die Bedeutung der DDR-Bürgerbewegung bis heute zu wenig gewürdigt?
von Weizsäcker: Ich denke doch, dass mittlerweile auch der Westen Deutschlands verstanden hat, dass die Bürger das System der DDR schon vor dem 9. November 1989 geschwächt und dann letzten Endes die Mauer gestürzt hatten. Auch Václav Havel ist hierfür ein Beispiel. Immerhin konnte er sich erst wenige Tage, bevor er zum Präsidenten ernannt wurde, zum ersten Mal völlig frei von den diktatorischen Verhältnissen im eigenen Land bewegen.
Frage: Was ist seither schief gelaufen? Warum beobachten wir jetzt allerorten – nicht nur bei uns, sondern auch in den Staaten Osteuropas – den Rückzug ins Private? Sind die Fundamente der Bürgergesellschaft in Gefahr?
von Weizsäcker: So pauschal kann man das nicht sagen, es gibt von Land zu Land Unterschiede. Seit 1989/90 gehören wir zur EU und zum Atlantischen Bündnis, haben uns in unterschiedlicher Weise für Sicherheit und Mitverantwortung rund um den Globus eingesetzt. Natürlich ist da gegenwärtig einiges im Argen. Wohin soll es führen, wenn wir uns mit der zu erwartenden konservativen Regierung in Großbritannien darauf einstellen müssen, dass der Lissabonner Vertrag doch noch abgelehnt wird? Angesichts solcher Rückschläge in Europa müssen sich die einzelnen Mitgliedsstaaten umso stärker für europäische Initiativen einsetzen. Und das ist nicht nur eine Aufforderung an die Tschechische Republik, sondern auch an uns selbst.
Frage: Europaskeptiker gibt es aber nicht nur in London, sondern auch in Prag – von Weizsäcker: – eine Minderheit!
Frage: – aber eine lautstarke Minderheit. Nun hat der britische Oppositionsführer David Cameron einen Brief an den tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus geschrieben mit der Bitte, die Ratifizierung noch ein bisschen hinauszuzögern, möglichst bis zu den nächsten britischen Unterhauswahlen. Ist das genial oder perfide?
Havel: Tschechien hat den Lissabonner Vertrag vereinbart und unterschrieben, beide Parlamentskammern haben das Vertragswerk ratifiziert – meiner Ansicht nach ist der Ratifizierungsprozess damit abgeschlossen. Denn die Unterschrift des Präsidenten ist lediglich ein i-Tüpfelchen, eine Bestätigung, dass der Prozess formal abgeschlossen ist und legal war. Ich glaube daher, dass unser Präsident früher oder später unterschreiben wird. Falls Václav Klaus seine Unterschrift verweigert, schreitet möglicherweise sogar das Verfassungsgericht ein und erklärt den Vertrag notfalls ohne Unterschrift des Präsidenten für gültig. Es wäre eine Schande, wenn die Ratifizierung nicht gelänge.
Frage: Ich möchte gerne auf die Hinterlassenschaften der Diktatur zu sprechen kommen. In Deutschland gibt es seit fast 20 Jahren die Stasi-Unterlagenbehörde, die ermittelt, wer damals wen bespitzelt hat. Herr Havel, in Tschechien gibt es solch eine Behörde erst seit dem vergangenen Jahr, die Zatschek-Behörde. Warum hat es so lange gedauert?
Havel: Damals herrschte große Unsicherheit, und wir wussten nicht genau, wie wir mit dem Erbe der Diktatur umgehen sollten. Es war schwierig, aber ich glaube, dass es in Deutschland mit der Stasi-Unterlagenbehörde vergleichsweise gelungen ist. Vielleicht kann erst die jüngere Generation lernen, mit der Geschichte zu arbeiten. Ich denke nicht, dass Ereignisse verheimlicht werden sollten. Trotzdem müssen wir die historischen Zusammenhänge ganzheitlich sehen, dürfen nichts aus dem Kontext reißen. Es gab für den Kommunismus keinen historischen Präzedenzfall, und darum haben wir auch keine ausreichenden Erfahrungen mit dem Postkommunismus. Es sind schon 20 Jahre vergangen, aber wir sind immer noch auf der Suche.
Frage: Damals glaubte man, dass die kommunistische Partei diskreditiert sei. Es gibt aber immer noch Kommunisten in Tschechien, auch als politische Kraft.
Havel: Ich habe durchaus ein bisschen Verständnis für diejenigen, die kommunistisch wählen. Stellen Sie sich einen alten Menschen vor, der sein ganzes Leben im Kommunismus verbracht hat – seine erste Liebe, seine erste Arbeit, einfach alles. Sein Gedächtnis hinterlässt nur das Schöne, während die schlimmen Erfahrungen verblassen. Und nun erfährt er, dass alles, was er erlebt und gelebt hat, falsch war. Er war bestimmte Sicherheiten gewöhnt, und auf einmal muss er selber Entscheidungen treffen. Darum kann ich diese politische Haltung bei älteren Menschen nachvollziehen. Für die Jüngeren ist das Wählen der Kommunisten eine Art Widerstand gegenüber dem Establishment. Ab und zu wird uns vorgeworfen, dass wir die Kommunisten zu rücksichtsvoll behandelt hätten und dass es ein Fehler war, sie nicht gleich nach der Revolution von der politischen Bühne zu drängen. Mit zeitlichem Abstand ist es einfach, dieses Urteil zu fällen, doch damals saßen die Kommunisten an den Schaltstellen der Macht – Armee, Polizei, Medien, in der gesamten Wirtschaft. Wir trugen große Verantwortung und mussten mit den schlimmstmöglichen Varianten der Selbstverteidigung der Macht rechnen. Zudem gab es keine Mehrheit, keinen gesellschaftlichen Konsens für ein Verbot der kommunistischen Partei. Millionen Menschen hatten Verbindungen zur Partei und befürchteten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nicht nur fehlte mir als Präsident die Macht, die Kommunisten einfach zu verbieten; ich glaubte auch, dass man dieser Partei eine Chance geben müsste, dass sie sich transformieren und zu einer sozialen Partei entwickeln würde, wie es auch in Polen geschehen war. Das ist jedoch nicht erfolgt.
Frage: Es hat hierzulande eine intensive Diskussion gegeben, ob es in der DDR ein richtiges Leben im falschen geben konnte. Sie, Herr Havel, können natürlich für sich beanspruchen, immer versucht zu haben, in der Wahrheit zu leben. Doch kann man das von jedem Menschen verlangen, und ist das realistisch?
Havel: Manche haben den Verdacht, dass ich ein Moralist bin, der anderen predigt, wie sie leben sollen und was sie tun sollen. Ich war aber kein Moralist. Ich war ein Mensch, der bestimmte Erfahrungen gemacht hatte. Menschen entschieden sich nicht von einem Tag auf den anderen dazu, Dissidenten zu werden. Sie wurden einfach dazu, ohne zu wissen, wie. Sie machten einen Schritt, dachten, dieser Schritt sei richtig, und in letzter Konsequenz mussten sie weitere Schritte gehen. Schließlich lasen sie dann in der Zeitung, dass sie Dissidenten seien. Dissident sein, das ist kein Beruf, das ist nichts, wozu man sich bewusst entscheidet. Eigentlich taten die Dissidenten nur, was sie für richtig hielten. Sie konnten nicht mit einem sichtbaren Erfolg rechnen – alle sagten, sie seien wie Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpfte. Am Ende hatten sie Erfolg, doch es hätte auch alles anders kommen können.
Frage: Herr von Weizsäcker, Sie haben mit Blick auf die DDR immer wieder darauf gepocht, dass die Bürger Ostdeutschlands ihre eigene Deutungshoheit haben sollten, und dass wir im Westen uns diese Deutungshoheit nicht aneignen dürften. Den Versuch, in der Wahrheit zu leben, gab es auch in der DDR. Ist dieses Bemühen im Westen genügend gewürdigt worden?
von Weizsäcker: Ich finde es nicht verwunderlich, dass die Bürger der DDR mehr über das Leben der Bürger in der alten Bundesrepublik wussten als umgekehrt. Im Westen gab es nach dem Fall der Mauer zunächst keine großen Veränderungen. Im Wesentlichen hatte man dort ein Bild von der DDR, das nicht ausreichend geprägt war vom Alltagsleben der Menschen in ihren Familien oder in ihrem Berufsweg. Wir sind uns einig über die Grausamkeit des SED-Regimes, und wir gehen natürlich der Frage nach, was im Überwachungsstaat der DDR geschehen ist. Doch was sich wirklich im Leben junger Familien mit kleinen Kindern oder im Ausbildungsweg von Jugendlichen in der DDR abspielte, das sollten wir im Westen erst einmal beobachten und nicht gleich aburteilen. Das ist ein Prozess, und wir machen Fortschritte.
Frage: Die Stabilität der Bonner Republik rührte auch daher, dass Demokratie mit wirtschaftlichem Wohlstand für alle einherging. Nach den Revolutionen von 1989/90 gab es aber Gewinner und Verlierer. Hat das die Folgesysteme gewissermaßen delegitimiert?
von Weizsäcker: Nun, Ende des Zweiten Weltkriegs brach direkt der Kalte Krieg aus. In diesem Rahmen konnten die Siegermächte, insbesondere die Amerikaner, ihre Aufbauhilfe leisten. Doch der berühmte Marshall-Plan, der uns in Westdeutschland wirtschaftlich entscheidend voranbrachte, wurde von Stalin in den Staaten des Warschauer Pakts nicht angenommen. Auf diese Weise sind uns Hilfen zuteil geworden, die ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass es bei uns zu einem Aufbau kam.
Frage: Václav Havel hat in einer seiner ersten Reden als Präsident ausdrücklich angemahnt, dass soziale Belange im Zuge des Transformationsprozesses nicht zu kurz kommen dürften. Wurde diese Mahnung beachtet?
von Weizsäcker: Nur teilweise. Natürlich haben wir Fehler gemacht. Und in Tschechien war die Entwicklung nach dem Kalten Krieg eine ganz andere als in Deutschland. Es gab kein westliches Gegenüber, mit dem sich Tschechien vereinigen musste. Ich erinnere mich an einen Besuch von Václav Klaus in Dresden, als er Ministerpräsident war und Sie, Herr Havel, noch Staatspräsident waren. Kurt Biedenkopf, damals Ministerpräsident von Sachsen, erklärte dem Besucher, es gehe aufwärts: Zwar gebe es in Sachsen noch keinen ausgeglichenen Haushalt, doch dafür erhalte das Bundesland Jahr für Jahr Unterstützung aus Bonn. Klaus erwiderte, das sei eben der Unterschied zwischen beiden Staaten – Tschechien habe keine Westkasse, daher dauere der Transformationsprozess länger. In 20 Jahren habe Tschechien den Osten Deutschlands aber möglicherweise überholt.
Frage: 1989 gab es selbst bei den Verbündeten der Bundesrepublik Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung, zum Beispiel in Frankreich und Großbritannien. Sicher gab es auch Ängste bei den östlichen Nachbarn, in Polen und in der Tschechoslowakei. Gibt es noch solche Befürchtungen in Tschechien?
Havel: Im oppositionellen Umfeld überwog damals die Meinung, die ich auch vertreten habe: Dass nämlich ein vereintes Europa ohne vereintes Deutschland nicht denkbar sei. Letztlich hat sich bestätigt, dass die Wiedervereinigung notwendige Voraussetzung für die Zusammenführung Europas war. Stimmen, die Angst vor einem zu großen und starken Deutschland verbreiteten, waren mir damals bereits suspekt. Ich denke, dass die deutsch-tschechischen Beziehungen besser sind als je zuvor. Es gibt auf tschechischer Seite keine Ängste.
Frage: Gleich zu Beginn Ihrer Präsidentschaft haben Sie sich in München für die Vertreibung der Deutschen entschuldigt…
Havel: Ich habe damals gesagt, dass wir uns in der einen oder anderen Weise entschuldigen und die Ereignisse kritisch aufarbeiten sollten. Das ist dann auch geschehen: Über die Vertreibung wurden wissenschaftliche Bücher verfasst, die sachlich und objektiv waren. Obwohl die Tschechen mit vielen Vorurteilen aufgewachsen sind, ist die Vertreibung der Deutschen heutzutage kein kontroverses Thema mehr in Tschechien.
Frage: Die vergangenen 20 Jahre waren also auch zwei Jahrzehnte deutsch-tschechischer Freundschaft?
von Weizsäcker: Nach allem, was wir in der Geschichte miteinander erlebt haben, sind unsere gegenwärtigen Beziehungen ein wahres Glück. Natürlich tragen wir auf wirtschaftlichem Gebiet immer wieder Konflikte aus, und auch in Fragen, wie es mit der EU-Integration weitergeht, sind wir uns nicht immer einig. Mit den Amerikanern müssen wir uns verständigen, wie die Zusammenarbeit zwischen Ost und West aussehen soll. Darüber hat Václav Havel mit US-Präsident Barack Obama in Prag gesprochen, als dieser Anfang April seine visionäre Rede gehalten hat. Auf diese Weise ist die Stadt wieder an ihren Platz in der Mitte Europas gerückt. Auch in den USA wird die Stimme Tschechiens gehört und verstanden. Was von Prag oder Warschau und anderen neuen EU-Mitgliedsstaaten thematisiert wird, bringt die EU und das transatlantische Bündnis wirklich voran. Obama hat im Juli dieses Jahres mit dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew ein längeres Gespräch über Rüstungsfragen geführt. Was dabei herausgekommen ist, mag den Europäern gefallen oder auch nicht. Doch letzten Endes ist es in unserem Sinne, dass solche Gespräche geführt werden. Dafür ist die Stimme aus Prag besonders wichtig.
- 1Die Podiumsdiskussion „20 Jahre Freiheit 1989–2009“ mit Václav Havel und Richard von Weiz-säcker am 1. Oktober 2009 wurde von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der Robert-Bosch-Stiftung und der Botschaft der Tschechischen Republik veranstaltet. Durch das Gespräch führten Matthias Naß (DIE ZEIT) und Peter Lange (Deutschlandradio Kultur).
- 2Interview in der ZEIT, 1. Oktober 2009.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 70 - 75.