Wir können auch anders
Die schlechte Nachricht: Für den Erhalt des Planeten muss die Menschheit schnellstmöglich auf Nachhaltigkeit umstellen. Die gute Nachricht: An den Lösungen wird bereits gearbeitet.
Sonntagsbraten oder Gemüsepfanne? Schnell landet bei dieser Entscheidung die Weltinnenpolitik auf dem Teller. Die Umweltbilanz tierischer Produkte ist enorm, 100 Gramm Rindersteak verursachen locker mehr als ein Kilogramm CO2-Ausstoß. Und das liegt nicht nur schwer im Magen.
Hinzu kommen Verteilungsfragen zu landwirtschaftlichen Flächen für den Anbau von Futtermitteln; sie werden weiter verschärft durch rasant steigende Getreidepreise aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Verheerende Klimafolgen wie Dürren und Überschwemmungen lassen fruchtbare Böden zu kargen Einöden werden. Sich also den Bauch vollschlagen, während das tägliche Brot immer knapper wird? Hier scheiden sich die Geister am grünen Gewissen, auch an so manchem familiären Küchentisch.
Das Private ist in der Wissensgesellschaft politisch geworden. Das Unmittelbare hat globale Konsequenzen. Der Biss in den Burger, der Tritt aufs Gaspedal – all das verursacht schlussendlich Emissionen, die auf die globale Treibhausgasbilanz einzahlen, und das tagtäglich. So wird der Alltag zum Klimakiller und seine menschlichen Opfer treten nur zeitlich und geografisch versetzt hervor.
Zeit für die ökologische Schuldenbremse
Die Lösungen der vielschichtigen Umweltkrisen liegen eigentlich auf der Hand, teils warten sie seit Jahrzehnten auf ihre Umsetzung. Doch der Spaß an der individualisierten Nachhaltigkeitstransformation vergeht schnell, wenn der Freifahrtschein zum Verschmutzen schamlos von anderen ausgenutzt wird – sei es auf der tempolimitfreien Autobahn, dem Kurztrip per Flugzeug oder der dieselgetriebenen Luxusyacht.
Viele verzweifeln gleich doppelt – weil die persönliche Schuld am eigenen CO2-Fußabdruck sie quält und weil sie die institutionelle Lethargie beim ordnungspolitischen Klimaschutz erleben. Derweil erhöhen sich die deutschen und europäischen Kohlenstoffschulden immer weiter und steigen ins Unbezahlbare. Dass die Rechnung irgendwann kommt, zeigte sich jüngst an den Überflutungen in Pakistan, dem extremen Wirbelsturm Fiona, der in Puerto Rico, Kanada und anderswo schwerste Schäden anrichtete, und an den Hitzesommern in Deutschland, die Tausende von Todesopfern forderten.
All diese dramatischen Ereignisse kündigen weitere Herausforderungen für die menschliche Gesundheit, die globale Ernährungssicherheit oder auch nur den Erhalt der bestehenden Infrastruktur an.
Es bräuchte dringend eine ökologische Schuldenbremse, um die Risiken für die jüngere Generation auf ein handhabbares Maß zu begrenzen. Doch diese scheint in weiter Ferne. So wird die „Freiheit“, unbegrenzt und scheinbar kostenlos CO2 in der Atmosphäre abzulagern, letztlich zum Verhängnis. Die verschobene Erhöhung des deutschen CO2 -Preises als wirtschaftliches Steuerungsinstrument signalisiert, dass Deutschlands Klimainnenpolitik in Krisenzeiten offenbar davor zurückscheut, Ausgaben für Prävention und Klimagerechtigkeit zu tätigen.
Gepaart mit einem missglückten Tankrabatt belastet die Ankündigung, weiter auf Erdgas zu setzen – etwa durch zahlreiche LNG-Terminals und die Förderung neuer Gasinvestitionen im Senegal –, die Klimaaußenpolitik schwer. Denn einem sinkenden Inselstaat ist wohl kaum zu vermitteln, dass der Status quo in Deutschland durch Flüssiggas und mehr Kohlekraft abgesichert werden muss, ohne Rücksicht auf Schäden und Verluste.
Noch weniger überzeugend wirken deutsche Appelle an Entwicklungsländer, direkt in erneuerbare Energien zu investieren, um der Klimakatastrophe noch zu entkommen, wenn zuhause Kirchen und ganze Dörfer den Kohlebaggern auf dem Altar der kurzfristigen Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden.
Wider die allgemeine Gleichgültigkeit
Die Glaubwürdigkeit inmitten der Energiekrise wiederherzustellen, kann nur gelingen, wenn internationale Zusagen mit nationalem Handeln verbunden werden. Wie einst Kanzlerin Angela Merkel nach der Fukushima-Reaktorkatastrophe die Situation nutzte, um aus der Nuklearenergie auszusteigen, sollte angesichts der akuten Sicherheitskrise auch der Bruch mit der klimaschädlichen und autonomiegefährdenden Erdgasnutzung vollzogen werden.
Ein Datum für den Gasausstieg und ein deutlich beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien wären ein Anfang. So könnte man den jährlichen Ausbau von Fotovoltaik schon 2023 vervierfachen, anstelle ihn, wie bisher geplant, nur schrittweise anzuheben. Nur wer entschlossen handelt, hat Anspruch auf Hoffnung im Kampf um Klimastabilität.
Deswegen muss der Zeitgeist der Zeitenwende mit einer radikalen Umkehr von der ökologischen Vernichtungsdynamik einhergehen. Ohne diesen Aufbruch wäre die sich derzeit in Entwicklung befindende Nationale Sicherheitsstrategie nur blasse Theorie. Eine wertebasierte Sicherheitsordnung ist nur in einem stabilen Weltklima realisierbar.
Die Erwärmungsgrenzen des Pariser Abkommens noch einzuhalten, wird immer schwerer, gerade in Zeiten parallel zu bewältigender Krisen. Gleichzeitig müssen wir Lehren aus den dramatischen vergangenen Jahren ziehen. Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass es möglich ist, kollektiv zum Schutz vulnerabler Gruppen zu handeln, aber auch, dass es dafür einen ordnungspolitischen Rahmen braucht. Denn nur dann verpufft der Effekt der eigenen Lebensstilanpassung nicht in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Genau dies muss die Klimapolitik zwingend leisten, um die individuelle Aushandlung von Eigennutz und gesellschaftlichem Wohlergehen zu erleichtern.
Moralische Messlatte tiefer legen
Die Erdsystemkrise ist viel zu komplex, als dass ein genereller Verhaltenskodex, wie viele ihn in der Lebensführung von Klimaaktivistinnen und -aktivisten zu erwarten scheinen, die Lösung bringen könnte. Ein schweigender Komplize oder ein wortgewandter Verursacher des ökologischen Kollapses zu sein, ist inzwischen oft gesellschaftlich eher zu tolerieren als eine autofahrende Klimaaktivistin, ein würstchenessender Umweltwissenschaftler oder ein fliegender Nachhaltigkeitsberater.
Natürlich, wenn das Einfordern von Werten und Normen zum Schutz der Allmende mit ihrer wissentlichen Missachtung kollidiert, dann macht das angreifbar. Und doch ist es falsch, die Messlatte für moralisches Handeln in der Ökosystemkrise so hoch zu legen, dass die Flucht ins Lager des Verdrängens und Verharrens erträglicher erscheint als das ständige Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit.
Nachhaltiges Leben in nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Sozial- und Wirtschaftssystemen ist in der Mitte der Gesellschaft kaum möglich. Dass globale Klimastreiks eine gemeinsame Verantwortung einfordern, geht im Tosen der Debatte um einen klimaverträglichen Lebensstil oft unter.
Nur ein weiteres Beispiel: Auch dieses Jahr wird vermutlich nicht zu Ende gehen, ohne dass die CO2-Bilanz der internationalen Klimaschutzverhandlungen an den Pranger gestellt wird. Es ist richtig und wichtig, dass Regierungen mehr unternehmen, um die Nachhaltigkeit dieser Treffen zu verbessern. So werden im streng nach Regierungsdelegationen und Zivilgesellschaft zonierten Global Village der Verhandlungshallen Flugemissionen kompensiert, Pavillons aus nachhaltigen Materialien beschafft und Biokaffee ausgeschenkt.
Gleichwohl gehören ganz andere Konferenzen unter die Lupe der Nachhaltigkeitsprüfer: Automobil-, Waffen- oder Hochzeitsmessen sollten sich Emissionsminderungsziele setzen – trotz oder gerade wegen ihrer oft fehlenden Bezüge zum Ressourcenschutz. Die Pflicht zum nachhaltigen Handeln leitet sich nicht allein aus der Berufswahl oder dem Zweck einer Veranstaltung ab, sondern ist universell gültig.
Die geltende Verantwortung sollte sich an der jeweiligen Kapazität der handelnden Institutionen und Akteure ausrichten, nicht etwa an ihrer politischen Neigung. Die Klimakrise gefährdet Lebensgrundlagen, somit ist ihre Lösung eine partei- und grenzübergreifende Menschheitsaufgabe.
Vorreiter der Verantwortung
Umweltsünder wie die Modebranche oder die Hersteller stromfressender Computerspiele machen es vor: Die Berliner Fashion Week glänzte nicht zuletzt durch eine Schwerpunktsetzung in nachhaltiger Mode und bot zertifizierten Designern eine Bühne, während die Zocker-Messe Gamescom immerhin knapp drei Millionen Kilogramm CO2 kompensierte.
Diese Beispiele machen Mut. Denn für den systemischen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit braucht es Vorreiter und eben auch individuelle Verantwortung, selbst wenn die vorläufigen Lösungen keinem moralischen oder ökologischen Ideal entsprechen. Alle Akteure sind gefragt: Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft müssen einen Beitrag leisten. Durch die reine Delegierung von Verantwortung – nach oben wie nach unten – werden die Pariser Klimaziele nicht erreicht werden.
Wie viele Ansätze zur Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise es bereits gibt, zeigen Initiativen wie das „Project Drawdown“ oder die „Solar Impulse Foundation“ des Tausendsassas Bertrand Piccard, die auf ihren Webseiten neue oder auch bereits bewährte Lösungen aus der ganzen Welt vorstellen.
Diese reichen von technologischen Innovationen wie dünnen, flexiblen Solarfilmen, die auf verschiedenen Oberflächen und sogar auf Zelten angebracht werden können, über gesellschaftliche Schutzinstrumente wie sichere Landnutzungsrechte für indigene Gruppen bis hin zum Niedrigtemperatur-Spülmittel. Auch wenn am Ende nicht alle ausgearbeiteten Ideen zu Schlüsseltechnologien werden, stimmt allein die Durchsicht erwartungsfroh.
Städte als Kohlenstoffsenken
Auch in Deutschland werden Leuchtturmprojekte vorangetrieben, die den Weg in eine bessere Zukunft weisen. Etwa das PTXLab in der Lausitz, das Strom aus erneuerbaren Quellen in grünen Wasserstoff und dann in synthetische Kraftstoffe umwandeln will. Gerade für den See- und Flugverkehr könnten diese Zukunftstechnologien wichtig werden, da bei längeren Strecken eine Elektrifizierung derzeit kaum durchführbar erscheint.
Für kürzere Strecken zeichnen sich auch hier bereits Veränderungen ab. So orderte die Deutsche Post ein Dutzend elektrische Frachtflugzeuge, die eine Reichweite von gut 800 Kilometern haben. Air Canada zog nach und setzt für kurze Strecken mit geringer Auslastung auf Hybridflugzeuge, die mehrere hundert Kilometer auf Batterie fliegen können.
Im CO2-intensiven Bausektor tut sich ebenfalls etwas – die Renaissance des Holzbaus auf Grundlage ökologischer und klimaangepasster Forstwirtschaft könnte ganze Städte in Kohlenstoffsenken verwandeln. Das New European Bauhaus zum Beispiel verbindet die Ziele des Green New Deal mit Architektur und Städtebau. Gleichzeitig eröffnen Materialien wie Bioplastik oder Kohlenstofffasern neue Wege im Baugewerbe.
An diesem Schimmern der Hoffnung entlang wird um den nächsten großen Transformationsschritt gerungen, gestritten und gebangt. Für diesen demokratischen Aushandlungsprozess sollten Foren geschaffen und genutzt werden, die den nationalen und internationalen Austausch auf verschiedenen Ebenen fördern. Bürgerdialoge, wie sie etwa im Rahmen der Konsultationen zur Nationalen Sicherheitsstrategie abgehalten wurden, aber auch Städtepartnerschaften können neue Impulse setzen.
Noch ein letzter Lichtblick aus dem Maschinenraum des Wandels: Auch für den vielgeliebten und heißumstrittenen Sonntagsbraten gibt es mittlerweile neue Lösungsansätze. Weizen, Erbsen, Soja, Seitan oder Tofu bilden die Basis für Nachahmer, die inzwischen einen schnell wachsenden Markt bedienen. Denn diese Fleischersatzprodukte werden nicht nur von puristischen Veganern gekauft, sondern landen immer öfter auch in den Jutebeuteln von Fleischliebhabern und Flexitariern.
Der regelmäßige Griff zum Sojasteak oder der zumindest einigermaßen versöhnende Kauf von Biowürstchen könnte so zumindest den Frieden am eigenen weltpolitischen Küchentisch wahren – immerhin ein Anfang.
Internationale Politik Special 6, November 2022, S. 4-9