In 80 Phrasen um die Welt

03. Jan. 2022

„Wir brauchen eine Strategie“

Zwischen Eiweißpflanzen- und Sicherheitsstrategie - die neue Bundesregierung verfolgt dutzende verschiedene in ihrem Koalitionsvertrag. Welche wir wirklich brauchen, weiß Jörg Lau.

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung kommt das Wort auf 51 von 177 Seiten vor, teils mehrfach. Dutzende verschiedene Strategien beansprucht die Koalition zu verfolgen. Darunter eine Multi-Cloud-Strategie, eine Exzellenzstrategie, eine Wasserstoff-, Tourismus-, Moorschutz-, Tiergesundheits- und Eiweißpflanzenstrategie. Nicht zu vergessen die Biomassen-, die Weiterbildungs- und Digitalisierungsstrategie. Und natürlich die Rohstoffsicherungs-, die Gleichstellungs- und die Diversity-Strategie.



Ausnahmslos jedes Ziel, das diese Koalition verfolgt, und sei es noch so partikular, wird zur Strategie geadelt. Das wirkt in der Häufung unfreiwillig komisch. Denn strategisches Denken beginnt doch mit der Definition von Prioritäten, mit einem Blick auf begrenzte Ressourcen und der Entscheidung über ihre sinnvollste Verwendung. Alles und jedes für machbar und erreichbar zu erklären und dann das Label Strategie draufzukleben, ist ein Widerspruch in sich.



Auch im außen- und sicherheitspolitischen Teil finden sich multiple Strategieversprechen. So enthält er die Zusicherung, bei jedem militärischen Einsatz eine Exit-Strategie vorzulegen, eine „kohärente EU-Afrika-Strategie“ und eine „umfassende China-Strategie“ anzustreben, die Indo-Pazifik-Strategie der EU zu beherzigen und im ersten Jahr eine „umfassende Nationale Sicherheitsstrategie“ vorzulegen.



Die Inflationierung des Strategiebegriffs macht es schwer zu erkennen, wo­rauf es der Regierung wirklich ankommt – ein paradoxer Effekt. Banalitäten vermischen sich mit löblichen Ambitionen. Das Bekenntnis zu einer Exit-Strategie etwa wirft Fragen auf: Warum hat es eine solche im Fall Afghanistans nicht gegeben, jedenfalls keine funktionierende? Existiert eine für den Mali-Einsatz? Und was ist die beste Exit-Strategie wert, wenn es der Bundeswehr an den Fähigkeiten mangelt, einen Flugplatz im Rückzug zu verteidigen, wie in Kabul offenbar wurde? Ist es sinnvoll, parallel Afrika-, China- und Indo-Pazifik-Strategien auszuarbeiten, die jeweils auch noch EU-kompatibel sein sollen?



Sollte man nicht zunächst mit der Nationalen Sicherheitsstrategie beginnen, als einer Art Master-Dokument, das den einzelnen Politikfeldern ihr Gewicht zuweist? Dass sich die Ampelkoalition zu diesem letzteren Vorhaben durchgerungen hat, ist bemerkenswert. Als der mittlerweile verstorbene Unionspolitiker Andreas Schockenhoff 2008 die Forderung nach einer Sicherheitsstrategie erhob und mit dem Wunsch nach einem Nationalen Sicherheitsrat verband, wurde er von Politikern der heute regierenden Parteien noch beschuldigt, einer „Militarisierung“ der Außenpolitik das Wort zu reden.



Vorbei. Einen Nationalen Sicherheitsrat wird es diesmal zwar noch nicht geben, aber immerhin soll die Arbeit an einem verbindlichen nationalen Dokument beginnen.



„Umfassend“ sollte die Strategie tatsächlich sein. Aber auch so realistisch, dass am Ende nicht die Summe aller Wünschbarkeiten steht (wie bei diesem Koalitionsvertrag). Ein solches Dokument zu schreiben, zwingt zur Selbstbeschränkung und ordnet die Gedanken. Die deutsche Außenpolitik im wörtlichen Sinn besser lesbar zu machen, wäre kein geringes Verdienst.



Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 15

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