„Wir brauchen eine gesichtswahrende Lösung“
Jörg Lau über Diplomatie, Selbstachtung, Moral und Realismus angesichts eines Krieges.
Auf Englisch wird häufig ein Bild aus dem Straßenverkehr für diese Verhandlungsstrategie benutzt: Man soll dem Gegenpart eine „off-ramp“ anbieten, also eine Ausfahrt von dem Weg, den er eingeschlagen hat. Die deutsche Wendung, man müsse eine gesichtswahrende Lösung finden, zielt mehr auf die Selbstachtung des Gegenübers. Es soll ihm ermöglicht werden, ohne kriegerische Eskalation einen präsentablen Erfolg zu erzielen. Grundsätzlich gelte es, sich mit moralischen Urteilen zurückzuhalten. Regimewechsel-Rhetorik ist zu unterlassen. Bei Verhandlungen muss darum auf Maximalforderungen, Demütigungen und Strafwünsche verzichtet werden.
Das ist zunächst einmal die Übertragung alltäglicher Lebensklugheit in die Sprache der Diplomatie. Wenn die Gegenseite über das größte Atomarsenal der Welt verfügt, empfiehlt es sich, über eine mögliche off-ramp nachzudenken. Die grundsätzlich vernünftige Maxime, eine gesichtswahrende Lösung mitzudenken, wird im Konflikt mit Wladimir Putin allerdings auf eine harte Probe gestellt.
Vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine und in den ersten Kriegswochen wurden zahlreiche Ideen diskutiert, wie man Putin einen Ausweg aufzeigen könnte. Der Politologe Johannes Varwick tat sich mit einer ganzen Reihe von Konzessionen hervor: Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft, Neutralität, Entwaffnung, Verlegung der Selensky-Regierung ins Exil, Teilung des Landes, Kapitulation. Noch eine Woche nach Kriegsbeginn forderte er, man müsse „kühl schauen, wie wir Russland den Weg vom Baum herunterhelfen können“. Der Publizist Richard David Precht legte der Ukraine nahe, sich zu ergeben, um die „Friedensordnung“ in Europa zu bewahren, die „nicht gegen Russland“ durchzusetzen sei. Herfried Münkler plädierte für die Anerkennung der russischen Einflusssphäre. Die Ukraine müsse sich mit einem Status als Pufferzone mit beschränkter Souveränität begnügen. Solche Forderungen werden stets im Gestus des nüchternen Realismus vorgebracht. Das Problem ist nicht nur, dass dabei über die Köpfe der Ukrainer hinweggeredet wird, um deren Leben und Freiheit es geht.
Angesichts des bisherigen Kriegsverlaufs stellt sich mehr noch die Frage, wie realistisch solch vorgeblicher Realismus eigentlich ist. Was, wenn man es mit einer Gegenseite zu tun hat, die sich nicht als rationaler Akteur verhält, der es um mehr geht als um ihre relative Machtsteigerung (wie die neorealistische Lehre ja annimmt)? Wenn Teilsiege und Kompromisse nicht mehr in Betracht kommen? Die Entscheidungen der russischen Führung scheinen so sehr von Ressentiment und Ideologie getrieben, dass sie sehenden Auges die Zerstörung des eigenen Wohlstands und ein internationales Paria-Dasein in Kauf nimmt. Kriegsverbrechen bestimmen die militärische Taktik, genozidale Rhetorik treibt die Armee voran.
Wie verhandeln, wenn Gesichtswahrung für einen Mann wie Putin keine Rolle mehr spielt? Wenn er seine Macht für grenzenlos hält und es im existenziellen Interesse der internationalen Gemeinschaft ist, ihn in diesem Irrglauben nicht gesichtswahrend zu bestätigen, sondern in die Schranken zu weisen?
Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 15