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01. Aug. 2005

Wie geht es weiter mit der Türkei?

Der Beitrittsprozess braucht eine Rahmenvereinbarung

Am 3. Oktober 2005 werden die Europäische Union und die Türkei aller Voraussicht nach Verhandlungen aufnehmen, an deren Ende – zumindest offiziell – die Aufnahme der Türkei in die EU stehen soll. Doch der unvoreingenommene Betrachter merkt schnell: Diese Beitrittsverhandlungen unterscheiden sich fundamental von allen bisherigen. Während mit allen früheren Bewerbern darum gerungen wurde, wie der Beitritt sich vollziehen solle, geht es mit der Türkei um das „ob“.

Für die Verhandlungen spielt es natürlich eine Rolle, dass die Türkei den Kopenhagener Kriterien genügt, die der Europäische Rat 1993 entwickelt hat. Danach muss ein Kandidat über eine stabile demokratische Ordnung verfügen, eine Marktwirtschaft aufweisen, die den Kräften der EU standhalten kann, und die Bereitschaft sowie die Fähigkeit zeigen, das Gemeinschaftsrecht der EU zu übernehmen und auch anzuwenden. Doch auch wenn die Türkei diese Anforderungen erfüllt, bleiben Vorbehalte, die die Menschen in der EU zögern lassen, die Türkei begeistert im Kreise der Mitglieder zu begrüßen. Man könnte diese Befürchtungen ungefähr so zusammenfassen: Die Türkei ist kein europäisches Land, eine Anrainerschaft an Iran, Irak, Armenien, Aserbaidschan und Syrien erhöht die Instabilität der EU, die Türkei gefährdet durch ihr niedriges Wohlstandsniveau die Kohäsion der Europäischen Union und bindet unverhältnismäßig viele EU-Mittel, sie dominiert als per-spektivisch größtes Mitgliedsland die europäischen Entscheidungen und verhindert durch ihre religiöse und kulturelle Andersartigkeit die Ausbildung einer europäischen Identität, was zum Scheitern des ganzen Projekts „vereintes Europa“ führt. Kurz gesagt: Vielen ist die Türkei zu groß, zu arm und zu anders.

Damit besteht aber die Gefahr, dass die Beitrittsverhandlungen, sollten sie denn erfolgreich beendet werden, auf den letzten Metern scheitern, nämlich bei der Ratifizierung. Dass die so ihre Tücken haben kann, durften wir ja gerade eindrucksvoll beobachten. Einige Staats- bzw. Regierungschefs haben den Beschluss des Rates, die Gespräche überhaupt zu beginnen, vor der eigenen Bevölkerung oder vor sich selbst dadurch gerechtfertigt, dass sie ein abschließendes Referendum angekündigt haben. Frankreich hat sogar seine Verfassung entsprechend geändert. Damit soll gesagt werden: Es ist ja noch nichts entschieden, ihr könnt am Ende alles ablehnen.

Die Bürger, die in einem solchen Referendum entscheiden, haben das Privileg, dass sie sich nicht informieren, dass sie nicht reflektieren und abwägen müssen, sondern „aus dem Bauch heraus“ votieren können. Und wenn ihnen die Türkei unheimlich ist, werden sie gegen deren Beitritt stimmen.

Damit entfaltet sich aber folgendes Albtraumszenario: Die EU beginnt im Herbst die Verhandlungen mit der Türkei, die sich mindestens eine Dekade hinziehen werden. Schließlich wird ein Beitrittsvertrag unterschrieben, dieser findet jedoch in einem oder mehreren Mitgliedstaaten (oder in der Türkei!) keine Billigung. Zehn (realistischer: 15) Jahre Verhandlungen waren für die Katz, immense Energien, die durch diesen Verhandlungsprozess gebunden waren, sind vergeudet, wertvolle Zeit ist verloren gegangen und Enttäuschung und Ratlosigkeit sind auf allen Seiten riesengroß, deren Folgen und Ausformungen unübersehbar. Egal, wie man zu einer türkischen EU-Mitgliedschaft steht: An solch einem Ausgang kann niemand Interesse haben.

Wir dürfen daher die Grundsatzentscheidung nicht auf die lange Bank schieben, sondern müssen miteinander klären, wie bzw. ob es im Prinzip miteinander funktioniert. Danach können wir über all die Details reden, die für die Annahme und Implementierung des acquis communautaire von Bedeutung sind, von der Bankenaufsicht bis zum Fettgehalt der Milch.

Notwendig ist ein zweistufiges Verfahren

Als erstes sollten die EU und die Türkei eine Rahmenvereinbarung schließen, in der festgelegt wird, wie eine Mitgliedschaft Wirkung entfalten kann. Dabei muss den tatsächlichen Bedenken auf beiden Seiten Rechnung getragen werden. Anders als in den bisherigen Verhandlungen können die schwersten Brocken nicht für den Schluss aufgehoben werden, sondern sind am Anfang zu klären. Diese sind:

1. Die Entscheidungsmodalitäten in der EU

Die Türkei ist perspektivisch das größte EU-Land. Zumindest wenn die Verfassung (oder ihre diesbezügliche Regelung) in Kraft tritt, hat sie damit auch den relativ größten Einfluss im Ministerrat und im Europäischen Parlament. Können die anderen damit leben? Müssen wir die Entscheidungsverfahren noch einmal ändern, die Stimmen noch einmal anders gewichten? Oder ist die Türkei bereit, ihren Einfluss zu reduzieren, also so zu tun, als sei sie nur so groß wie beispielsweise Spanien?

2. Die Ausgestaltung der Gemeinschaftspolitiken

Ist die Türkei willens, auf Zahlungen in der Agrarpolitik und der Strukturpolitik, die ihr aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation zustünden, zu verzichten? Oder ist die EU bereit, ihre Politikansätze zu reformieren und beispielsweise die Agrarausgaben insgesamt drastisch zu reduzieren?

3. Die Freizügigkeit

Kann die Türkei auf Dauer Einschränkungen bei der Freizügigkeit akzeptieren – und sind die Mitgliedstaaten bereit, die EU so zu verbiegen, dass die vier Freiheiten des Binnenmarkts nicht mehr grundsätzlich allen Bürgern gewährt werden? Wie könnten Übergangsfristen aussehen?

4. Die Souveränitätsübertragung

Ist die EU bereit, zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen und so die Blockademöglichkeit einzelner Staaten drastisch einzuschränken – und nimmt die Türkei tatsächlich hin, so viel nationale Souveränität preiszugeben, wie eine EU-Mitgliedschaft erfordert?

5. Das Europa der Zukunft

Hält die EU am Ziel einer Gemeinschaft fest, deren Mitglieder alle das gleiche Ziel verfolgen, auch wenn sie es ungleich schnell erreichen, oder wollen wir ein Europa der konzentrischen Kreise, die für unterschiedlich viel Integration stehen – was eine türkische Mitgliedschaft sicherlich erleichtern würde?

Diese Fragen sollten in der ersten Runde beantwortet werden. Sie betreffen das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei, aber sie beinhalten auch wichtige Klärungen innerhalb der EU. Wenn dieses Rahmenabkommen dann in allen Staaten ratifiziert würde und damit beide Seiten gebunden wären, hätten wir eine klare Grundlage. Anschließend können die Detailverhandlungen über die vielen tausend Seiten des Gemeinschaftsrechts beginnen. Es wäre dann allerdings bereits sicher, dass die Gespräche wirklich zur Mitgliedschaft und zur Übernahme des EU-Standards in der Türkei führen sollen und werden.

Sollten der Abschluss oder die Ratifizierung des Rahmenvertrags jedoch scheitern, wüsste man wenigstens relativ frühzeitig, dass der eingeschlagene Weg nicht zum Ziel führt, und könnte einvernehmlich nach einer Alternative suchen.

Eine solche Zweistufigkeit des Verfahrens hätte den Vorteil, dass es zügig möglich wäre, die Machbarkeit der türkischen Mitgliedschaft und ihre Rahmenbedingungen auszuloten. Scheitert die Einigung, hat man Zeit gewonnen. Gelingt sie, kann man die Annäherung von Türkei und EU auf sicherem Grund betreiben.

In beiden Fällen jedoch gehen wir fair und vernünftig miteinander um. Die Europäische Union hat sich aus mancherlei Kalkül lange genug der Türkei gegenüber unklar verhalten. Geholfen hat das niemandem.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2005, S. 76 - 78

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