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01. Febr. 2005

Strategien, keine Pflaster

Die Europäische Union muss ihre Ziele genauer definieren

Die Europäische Union verwendet den Begriff „strategische Partnerschaft“ inflationär. Doch es ist nicht klar, was er eigentlich bedeutet, denn „Strategie“ basiert auf der Gemeinsamkeit von Zielen, „Partnerschaft“ auf der Übereinstimmung von Werten. Diese Vermischung führt zu Zielkonflikten; deshalb muss die EU dringend eine Strategiedebatte führen.

Ein Gespenst geht um in Europa. Es will nicht erschrecken, sondern beruhigen. Aber wie seine Kollegen von der verstörenden Sorte ist es darauf angewiesen, dass man an es glaubt. Wir sprechen von der „strategischen Partnerschaft“, die zu einem Schlüsselbegriff europäischer Außenpolitik geworden ist. Gerade jüngst, bei dem Gipfel zwischen der EU und Russland Ende November in Den Haag, wurde die „strategische Partnerschaft“ zwischen den beiden europäischen Ordnungsmächten wieder beschworen – wie bei jedem Treffen dieser Art. Der Begriff soll ausdrücken, dass man es miteinander besonders ernst meint und eine Beziehung miteinander pflegt, die über den Tag hinaus von Bedeutung sein wird. Beim letzten EU-Gipfel diente das Etikett allerdings wieder einmal als Pflaster, das verdecken sollte, dass man sich in allen wichtigen anstehenden Fragen, der Entwicklung in der Ukraine genauso wie den zu schaffenden gemeinsamen Räumen der Wirtschaft, der inneren und der äußeren Sicherheit sowie der Forschung und Bildung, nicht einigen konnte.

Die Europäische Union verwendet die Klassifizierung „strategische Partnerschaft“ inflationär. Sie unterhält eine strategische Partnerschaft nicht nur mit Russland, sondern auch mit der Ukraine, mit Indien, den Ländern des südlichen Mittelmeers und des Nahen Ostens (Barcelona-Prozess), mit Lateinamerika und der Karibik, mit Japan, mit Afrika, mit verschiedenen Unterorganisationen der Vereinten Nationen und mit der NATO. Der Aktionsplan, den die EU im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik mit Moldawien im Dezember 2004 offiziell verabschiedet hat, spricht ebenfalls von einer strategischen Partnerschaft zwischen den vertragschließenden Parteien, also der EU und der Republik Moldawien.

Nachdem die Europäische Union nun zahlreiche strategische Partnerschaften verkündet und vereinbart hat, täte sie gut daran, einmal herauszuarbeiten, was eine strategische Partnerschaft eigentlich ist. Dies umso mehr, als der Begriff seine Funktion als Balsam auf die Seele möglicher Partner durch die große Verbreitung weitgehend eingebüßt hat.

Der Begriff der strategischen Partnerschaft ist dem Vokabular von Henry Kissinger entlehnt, der anlässlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik China Anfang der siebziger Jahre im Wesentlichen von einer „strategischen Allianz“, gelegentlich aber auch von einer „strategischen Partnerschaft“ sprach. Diese basierte nicht auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen – im Gegenteil: die Differenzen wurden klar herausgestellt –, sondern auf einer gemeinsamen Frontstellung gegen die UdSSR. Es handelte sich also um eine gemeinsame Strategie zur Eindämmung des sowjetischen Einflusses in der Welt. Zwei Mächte,einander jahrzehntelang in herzlicher Abneigung verbunden, richteten sich auf ein gemeinsames außenpolitisches Ziel aus. Vieles hat sich seit dem berühmten „Shanghai-Abkommen“, das Nixon und Mao Zedong 1972 schlossen, verändert – der Begriff der „strategischen Partnerschaft“ aber ist geblieben.

Partnerschaft oder Strategie

Dabei ist der Begriff als solcher unsinnig. Eine Partnerschaft bezeichnet – im Politischen wie im Wirtschaftlichen oder Privaten – einen Zusammenschluss von Staaten, Firmen, Institutionen oder Personen, die sich in Größe, Geschichte, Reichtum und Bedeutung unterscheiden mögen, die aber in einer Hinsicht Gleiche sind: Sie stehen auf derselben Wertebasis, teilen dieselben Grundüberzeugungen.

Die intensivste Partnerschaft im internationalen Bereich ist die Europäische Union. So verschiedenen die Staaten von Malta bis Deutschland sind: Sie wollen bei allem Streit im Konkreten im Kern das Gleiche und stehen politisch auf demselben Fundament. Die nun zu ratifizierende Verfassung ist für Europa wichtig, aber nicht etwa, weil sie diese Basis schafft, sondern weil sie sie bekräftigt und veranschaulicht.

Eine intensive Partnerschaft verbindet die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Hier ergeben sich die gemeinsamen Ziele ebenfalls aus übereinstimmenden Werten. Die aktuellen Differenzen über die Methoden, diese Ziele zu erreichen, können darüber nicht hinwegtäuschen. So ist es kein Zufall, dass die EU zwar mit Russland eine „strategische Partnerschaft“ unterhält, nicht jedoch mit den USA.

Dies hat damit zu tun, dass Strategie etwas grundsätzlich anderes ist als Partnerschaft. Strategie ist die langfristige Verfolgung eines Zieles, das aus den eigenen Interessen heraus definiert und identifiziert worden ist. Da Ziele sich in der Kooperation mit anderen oftmals besser erreichen lassen als gegen sie, benötigt man Partner. Wenn „strategische Partnerschaft“ aber nicht einfach eine Tautologie sein soll, muss es sich hierbei jedoch um eine andere Art von Partnern handeln als in einer Partnerschaft. Von daher wäre es sicherlich sinnvoller und klarer, unmittelbar an Henry Kissinger anzuknüpfen und von „strategischen Allianzen“ zu sprechen.

Diese Allianzen sind durch das Ziel geprägt. Eine strategische Allianz muss – wenn der Begriff einen Sinn haben soll – langfristige und grundlegende, aber dennoch operationalisierbare Ziele verfolgen. Weder die Grundüberzeugungen noch die Motive der verschiedenen Akteure stimmen jedoch zwangsläufig miteinander überein.

Ein solches strategisches Ziel kann beispielsweise die Sicherung der Energieversorgung sein, die ja für die Europäische Union ein wichtiges Thema ist. Die Partner hierfür müssen weder Demokratien noch uns besonders zugetan sein, sie müssen lediglich über Energieträger verfügen und bereit und in der Lage sein, uns diese zuverlässig und kalkulierbar zur Verfügung zu stellen. Auch wenn ihre Bedürfnisse komplementär sind (sie haben zu viel Energie, wir zu wenig), treffen wir uns in einem gemeinsamen Ziel, das eine strategische Allianz rechtfertigt.

Partnerschaften kommen also aus der Gemeinsamkeit der Werte, strategische Allianzen aus der Gemeinsamkeit der Ziele. Weder das eine noch das andere ist zu kritisieren, es sollte allerdings klar unterschieden werden. Eine „strategische Partnerschaft“ ist ein Widerspruch in sich.

Ein Problem der Außenpolitik der Europäischen Union besteht darin, dass diese beiden Ebenen immer wieder miteinander vermischt werden; aus wertebasierter Partnerschaft und zielorientierter Strategie wird so die „strategische Partnerschaft“. Die EU versucht gelegentlich, diesen Gegensatz dadurch aufzuheben, dass sie von den strategischen Allianzpartnern, beispielsweise von Russland, behauptet, die gemeinsame Wertebasierung sei gegeben, während sie gleichzeitig die Durchsetzung dieser Werte als Ziel der Partnerschaft definiert.

In der Gemeinsamen Strategie der EU gegenüber Russland werden von den Mitgliedsstaaten folgende Ziele festgelegt:

  • die Konsolidierung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und öffentlichen Institutionen in Russland,
  • die Integration Russlands in einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialraum (unter besonderer Berücksichtigung der Energieversorgung und des Investitionsschutzes),
  • die Sicherung von Stabiltität und Sicherheit in Europa und über Europa hinaus sowie
  • die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen wie Verbesserung des Energiemanagements, Garantie der nuklearen Sicherheit, Schutz der Umwelt und gemeinsamer Kampf gegen das organisierte Verbrechen.

Die „strategische Partnerschaft“ der Europäischen Union mit Latein-amerika – das sind die mittelamerikanischen Staaten, die Anden-Gruppe, Mercosur, die Staaten der Karibik sowie Chile und Mexiko – basiert gemäß einem Ratsbeschluss vom 15. April 2002 auf folgenden drei Zielen:

  • Schaffung von politischer und sozialer Stabilität in den Partnerländern durch Demokratie, Menschenrechte und „good governance“,
  • Förderung des Prozesses der regionalen Integration innerhalb der lateinamerikanischen Gemeinschaften mit dem Ziel eines größeren Wirtschaftswachstums und
  • Armutsbekämpfung, besserer Zugang zu sozialen Diensten und eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen in den Partnerländern.

Die jüngst aus der Taufe gehobene „strategische Partnerschaft“ Europas mit Indien zielt wiederum, laut Ratsbeschluss vom 11. Oktober 2004, auf Folgendes ab:

  • Intensivierung der wirtschaftlichen Partnerschaft und Förderung von Handel und Investititionen, einschließlich eines besseren Markt-zugangs (der EU) und fortgesetzter Wirtschaftsreformen (Indiens),
  • bessere Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen und anderen multilateralen Organisationen,
  • verstärkte Kooperation bei der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen,
  • Führung eines Dialogs über Demokratie und Menschenrechte,
  • Vertiefung der Kulturbeziehungen,
  • Förderung nachhaltiger Entwicklung und guter Steuerung der Globalisierung.

Eine detailliertere Analyse der Kooperationsbeziehungen der EU mit den vorgenannten Staaten und Staatengruppen sowie den anderen „strategischen Partnern“ würde das Bild differenzieren, aber nicht grundlegend verändern. Schon der kurze Blick zeigt das Problem: Die Ziele der EU mischen jeweils die Verfolgung eigener Interessen mit erzieherischen Bemühungen, um aus den Partnern bessere und demokratischere Gemeinwesen zu machen. Beides ist nicht verkehrt, die Kombination führt jedoch zur Unklarheit.

Russlands Strategie in Bezug auf die EU ist demgegenüber erfrischend deutlich. Russland möchte – gemäß seiner mittelfristigen Strategie für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union 2000 bis 2010 – Folgendes erreichen:

  • ein System paneuropäischer Sicherheit zur Eindämmung des Einflusses der NATO,
  • eine wirtschaftliche und rechtliche Infrastruktur als Basis für Handel, Investitionen und regionale sowie grenzüberschreitende Kooperation,
  • die Öffnung der EU-Märkte für russische Exporte,
  • dieNutzung der EU-Erfahrungen zur Entwicklung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS),
  • die langfristige Vertragsbasis für die Lieferung von Energie und Rohstoffen und
  • die Konsolidierung der Rolle Russlands als führender Kraft bei der Neugestaltung zwischenstaatlicher politischer und wirtschaftlicher Beziehungen in der GUS.

Es fehlt der Europäischen Union an einer nachvollziehbaren Definition der Ziele. Die Sicherheitsstrategie, die im Dezember 2003 vom Europäischen Rat verabschiedet wurde („Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“), ist ein erster Schritt in diese Richtung, aber noch keineswegs hinreichend. Sie definiert drei strategische Ziele:

  • die Abwehr von Bedrohungen,
  • die Stärkung der Sicherheit in unserer Nachbarschaft und
  • eine Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus.

Da der Multilateralismus eigentlich kein Ziel ist, sondern ein Instrument, um Ziele besser als durch einseitiges Handeln zu erreichen, reduziert die Sicherheitsstrategie die Ziele tatsächlich also auf ein einziges, nämlich die möglichst weitgehende Eliminierung von Risiken für Leben und Wohlergehen der EU-Bürger durch die Abwehr von Bedrohungen und die Schaffung eines regionalen Umfelds, das für die Unterstützung solcher Bedrohungen nicht anfällig ist. Das ist natürlich gerade für eine Sicherheitsstrategie auch der zentrale Punkt. Aber als Referenzrahmen für die Entwicklung strategischer Allianzen, die über die unmittelbare Gefahrenabwehr hinausgehen und auch positive Ziele avisieren, ist die existierende Sicherheitsstrategie nicht hinreichend.

Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass alle Staaten friedlich und demokratisch sind. Sicherlich ist es ein schönes Gefühl zu hören, die Wahlen in Ghana seien demokratisch verlaufen. Aber wo kommt der Punkt, an dem wir uns engagieren? Nach welchen Kriterien? Sind wir umso kritischer, je weniger Rohstoffe und Energieträger der Partner anbieten kann? Messen wir mit vielerlei Maß? Was sind die Kriterien der Hierarchisierung unserer Ziele?

Diese strategischen Fragen müssen wir erörtern und für uns beantworten, bevor wir strategische Allianzen eingehen. Im Augenblick ist „strategische Partnerschaft“ nicht nur sprachlogisch ein Muster ohne Wert, sie ist auch kein entwickeltes Konzept, sondern ein mehr oder weniger ad hoc vergebenes Prädikat – und geradezu eine Pervertierung des Wortes „Strategie“, das planvolles und zielgerichtetes Verhalten beschreibt. Die „strategische Partnerschaft“ erfüllt diese Voraussetzung nicht, sie ist Strategieersatz statt Strategie.

Aber es geht immer noch schlimmer. Ein Begriff besonderer Güte ist in diesem Zusammenhang die „strategische Ambivalenz“, d.h. die bewusste Verunklarung der eigenen Position, um den Partner in Hoffnung zu wiegen. Diese „Strategie“ wird derzeit in Diskussionen gegenüber der Ukraine empfohlen. Durch eine „Politik der halboffenen Tür“ soll den Ukrainern ein späterer Beitritt zur Europäischen Union in Aussicht gestellt werden. So sollen ihnen Anreize zur Bewältigung ihres schwierigen Transformationsprozesses gegeben werden, ohne sich selbst in die Pflicht begeben zu müssen, sie auch einzulösen. Wir würden uns, wird argumentiert, alle Optionen offen und die Ukrainer bei Laune halten. Man mag einen solchen Ansatz schlau finden, klug ist er nicht – und unsere Partner sind auch nicht so unbedarft, dass sie nicht merken würden, wie hier mit ihren Wünschen und Interessen Schindluder getrieben wird. „Strategische Ambivalenz“ heißt: Wir wissen nicht, was wir wollen, aber dafür setzen wir uns mit ganzer Kraft ein. Wir werden jedoch nicht umhin kommen zu überlegen und zu entscheiden, was wir erreichen wollen und können – und konkrete Schritte in diese Richtung übernehmen. Manchmal wären konkrete Maßnahmen wesentlich weiterführender als große, ein Konzept lediglich vortäuschende Schlagworte.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen:

  1. Srategie basiert auf der Gemeinsamkeit von Zielen, Partnerschaft auf der Übereinstimmung von Werten. „Strategische Partnerschaft“ ist ein Pleonasmus oder eine contradictio in adiecto, ein weißer Schimmel oder ein weißer Rabe.
  2. Die Europäische Union tut sich mit der Zieldefinition schwer und weiß nicht, inwieweit sie ihre Interessen verfolgen und inwieweit sie Missionar sein will. Es kommt in der europäischen Außenpolitik daher immer wieder zu einer Vermischung aus Werteexport und interessenbasierter Politik und zum Konflikt zwischen diesen beiden Ansätzen.
  3. „Strategische Partnerschaft“ ist bislang kein ausgearbeitetes Konzept, sondern dient der Camouflage eines Fehlens desselben. Die Europäische Union steht am Anfang einer Strategiedebatte, die sie in der nächsten Zeit wird führen müssen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 115 - 119.

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