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10. Okt. 2024

Wider die Selbstgefälligkeit

In der Bevölkerung bröckelt die Unterstützung für die Ukraine-Politik. Viele im politischen Berlin machen den Kanzler verantwortlich – doch das greift zu kurz. Gerade die stärksten Unterstützer der Ukraine sollten auch eigene Versäumnisse in den Blick nehmen. 

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Bild: Wolodymyr Selenskyj wird mit militärischen Ehren durch Olaf Scholz begrüßt
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Am Freitag trifft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin Bundeskanzler Olaf Scholz, um seinen „Siegesplan“ vorzustellen. Über allen Diskussionen zur internationalen militärischen Unterstützung der Ukraine schwebt Donald Trump, dessen möglicher Wahlsieg in einem Monat das Ende der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine einläuten könnte. 

Wenn andere bei der Unterstützung der Ukraine schwächeln, müsse der deutsche Beitrag noch weiter gesteigert werden können, hatte Scholz im Dezember 2023 auf dem SPD-Parteitag versprochen. Russlands Präsident Wladimir Putin dürfe nicht darauf bauen, dass die Unterstützung nachlasse. Doch es ist unklar, ob Scholz dieses Versprechen politisch einlösen kann, wenn Trump nächstes Jahr wieder ins Weiße Haus einzieht. Auch in Deutschland verlieren die Unterstützer der Ukraine immer stärker an Boden.
 

Faktor Landtagswahlen

Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen hat knapp die Hälfte der Wähler ihre Stimme AfD und BSW gegeben, also Parteien, die das Ende der deutschen militärischen Unterstützung für die Ukraine fordern. Bundesweit kommen AfD und BSW derzeit laut Umfragen zusammen auf gut 25 Prozent der Stimmen. Rechnet man den Zuspruch für die ebenfalls vorwiegend moskaufreundliche Linkspartei hinzu, sind es fast 30 Prozent. Das ist eine Verdopplung seit Kriegsbeginn. Im März 2022 kamen AfD und Linke zusammen noch auf 15 Prozent.

Laut einer Ipsos-Onlineumfrage vom September sind inzwischen außerdem 51 Prozent der Deutschen dafür, keine weitere Militärhilfe für die Ukraine zu leisten. Auch wenn andere Umfragen noch deutlich bessere Werte vermelden, der Trend geht klar in eine höchst beunruhigende Richtung. Bei all denjenigen, die für eine Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Vernichtungskrieg einstehen, müssen die Alarmglocken läuten. Sie alle sollten sich fragen, was sie besser machen können, um eine Trendumkehr zu erreichen und wieder mehr Menschen davon zu überzeugen, dass es notwendig ist, der Ukraine weiterhin militärisch beizustehen.
 

Zu wenig Selbstreflexion

Doch just einige der lautstärksten Unterstützer der Ukraine im politischen Spektrum verweigern sich einer solchen Selbstreflexion partout – und suchen die Schuld für die Erosion der öffentlichen Unterstützung für die Ukraine vor allem bei Bundeskanzler Scholz. Ein Beispiel dafür ist der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Vergangene Woche behauptete er: „Die Angstrhetorik des Bundeskanzlers trägt maßgeblich dazu bei, dass die Bereitschaft der Bevölkerung, die Ukraine weiter zu unterstützen, sinkt. Als wäre die Selbstverteidigung der Ukraine die Eskalation und nicht der Angriff Russlands. Das ist unverantwortlich.“ Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hingegen fragte rhetorisch: „Wie soll der Rückhalt in der Bevölkerung gestärkt werden, wenn selbst der Kanzler auf dem Rücken der Ukraine Wahlkampf macht?“ Sie stimmte außerdem CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter zu, der Scholz letzte Woche des „Appeasement gegenüber dem Aggressor“ bezichtigte.

In ähnlicher Manier warf Grünen-Politiker Anton Hofreiter, gemeinsam mit Röttgen, dem Kanzler Anfang des Jahres „katastrophalen Defätismus“ vor. Vor einigen Monaten sagte außerdem ein führender deutscher Ökonom im Gespräch, die mangelnde Führung des Kanzlers mit Blick auf Russlands Krieg habe den Aufstieg von AfD und BSW erst ermöglicht. 

Etwas vorsichtiger, aber dennoch unmissverständlich formulierten es im August einige der stärksten Fürsprecher der Ukraine gemeinsam mit dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, in einem FAZ-Gastbeitrag: „Weil nicht ehrlich und offen kommuniziert wird, worum es geht, und die Ukraine nicht so unterstützt wird, wie es nötig wäre, bleibt Raum für Populisten.“ Die Formel „So lange wie nötig“ überzeuge nicht mehr. 

Das diplomatische Passiv kann hier nur notdürftig verschleiern, dass die Autoren mit ihrer Kritik auf den Bundeskanzler zielen, der das Mantra im Gleichklang mit dem US-Präsidenten verwendet.
 

Berechtigte und unberechtigte Kritik

Natürlich kann man mit guten Gründen so einiges an der Kommunikation und auch der Politik des Kanzlers aussetzen. Scholz braucht bisweilen quälend lang für Entscheidungen, die er dann auch eher gequält kommuniziert, etwa in der Debatte um die Lieferung von Leopard-Panzern. Er koffert gerne allzu patzig gegen harsche Kritik an seinen Positionen. Die eher billigen Attacken des Kanzlers gegen Expertinnen und Journalisten sind des Amtes nicht würdig. Und seine vor einem Treffen mit Präsident Selenskyj im September in New York zelebrierte Ausschließeritis mit Blick auf eine mögliche Lockerung der Reichweitenbeschränkung für den Einsatz westlicher Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Territorium ist gleich doppelt schädlich.

Zum einen, weil Scholz damit leichtfertig ein mögliches Druckmittel aus der Hand gibt, das dabei helfen könnte, Moskaus Verhalten zu konditionieren, beispielsweise im Sinne von: „Wenn die Angriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine nicht aufhören, werden wir die Reichweitenbeschränkung aufheben.“ Zum anderen, weil der Kanzler damit ein zentrales Leitbild seiner eigenen Ukraine-Politik konterkariert. Bislang hatte er immer „Im Geleitzug mit Verbündeten“ als eisernes Prinzip ausgegeben. Jetzt zementiert der Kanzler plötzlich die deutsche Position auf Basis seiner „persönlichen Haltung“, egal was Verbündete wie die USA entscheiden. Alleingang statt Geleitzug: Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der eigenen Kommunikation.
 

Anstrengende Meinungspluralität

Die Behauptung, die vorsichtige Politik des Kanzlers habe erst den „Raum für Populisten“ geschaffen, erscheint jedoch wenig plausibel. Stellen wir uns für einen Moment vor, sowohl Kanzler als auch CDU/CSU-Spitze hätten im Gleichklang mit FDP und Grünen eine maximale Unterstützung der Ukraine ohne Sorge um Eskalationsrisiken vertreten. Was wäre passiert, wenn Scholz die Positionen Hofreiters übernommen und CDU-Chef Friedrich Merz jegliche Abweichler in der eigenen Partei (etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer) an den Pranger gestellt hätte? Hätten dann alle gesagt „Endlich Führung. Ich folge der Einheitsfront?“ Wohl kaum.

Selbst wenn die Mehrheit der SPD- und CDU/CSU-Wähler sich von einer solchen Linie hätten überzeugen lassen: Zu viele Bürger hätten sich auch in diesem Szenario abgewendet und nach Alternativen gesucht, welche AfD und BSW mit ihren Sirenengesängen über einen Sofortfrieden, wenn wir die Ukraine nur fallen lassen, mit Nachdruck anbieten. Deshalb ist es wichtig, dass in den Volksparteien Platz für ein breites Spektrum von Überzeugungen ist. Eine solche Meinungspluralität ist anstrengend, wirkt aber integrativ.

Egal, wie sehr man persönlich einen inhaltlichen Dissens mit ihnen hat: Dass sich Ralf Stegner und Rolf Mützenich weiter in der SPD und Michael Kretschmer und Mario Voigt weiter in der CDU heimisch fühlen, daran sollte Unterstützern der Ukraine gelegen sein. Sie als Gegner der Ukraine zu brandmarken, ist bei aller Frustration mit ihren Positionen schlicht unfair. Stegner und Mützenich haben im Bundestag jedes Mal für die Bereitstellung von Mitteln für die militärische Unterstützung der Ukraine gestimmt. Und mit den Positionen eines Roderich Kiesewetter oder Norbert Röttgen wäre Michael Kretschmer bei der Landtagswahl in Sachsen höchstwahrscheinlich hinter der AfD gelandet.

So berechtigt manche Kritik am Bundeskanzler in der Ukraine-Politik ist, so wenig taugt Olaf Scholz als alleiniger Sündenbock für das Bröckeln der Unterstützung für die Ukraine in der öffentlichen Meinung. Es ist daher umso misslicher, dass nur wenige der stärksten politischen Unterstützer der Ukraine öffentlich eigene mögliche Schwächen und Versäumnisse in der Debatte in den Blick nehmen. Eine Ausnahme ist der SPD-Politiker Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der vergangene Woche selbstkritisch konstatierte: „Uns, und damit meine ich ausdrücklich auch mich, ist es nicht gut gelungen zu erklären, wie in Wahrheit Frieden in der Ukraine erreicht werden kann. Nämlich Frieden durch Stärke und Wehrhaftigkeit.“
 

Argumentationsschwächen und blinde Flecken

Roth analysiert: „Wir haben uns von der AfD und Sahra Wagenknecht in eine Falle locken lassen. Sie und ihre nationalistisch-populistische Bewegung haben den Friedensbegriff gekapert.“ Nun nutzen sowohl AfD als auch BSW verfängliche Argumentationsmuster, welche die Propagandabemühungen des Kremls verstärken. Gleichzeitig stellt sich schon die Frage, ob sich manche Unterstützer der Ukraine nicht selbst kommunikative Fallen gestellt haben, die ihren Gegnern das Spiel erleichtert haben könnten.

Mussten AfD und BSW den Friedensbegriff wirklich wie Piraten „kapern“? Wenn wir im Bild bleiben, dann war es wohl eher so, dass das Geisterschiff Frieden bereits ohne eine parteiübergreifende Besatzung starker Steuerfrauen aus der politischen Mitte irgendwo im Nirgendwo herumtrieb. So war es ein Leichtes für AfD, Wagenknecht und Co., den Begriff Frieden anfangs quasi ohne merklichen Widerstand aus der politischen Mitte zu übernehmen und mit eigenen perfiden Inhalten zu füllen. Die stärksten Unterstützer der Ukraine hatten sich rein auf die Rede vom „Sieg“ der Ukraine konzentriert. In der öffentlichen Wahrnehmung kam Frieden als Teil des Siegnarrativs nicht vor.

Roths „Frieden durch Stärke und Wehrhaftigkeit“ wäre ein gutes Motto für die stärksten Ukraine-Unterstützer gewesen. Stattdessen machten sie das Bekenntnis zu „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“ zum Lackmustest dafür, ob man wirklich auf der Seite Kiews steht. Wer sich, wie der Bundeskanzler, stur weigerte, über dieses Stöckchen zu springen, wurde unter Appeasement-Verdacht gestellt. Wer sich hingegen wie Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Ziel des Sieges der Ukraine bekannte, konnte sich des Applauses sicher sein. Besondere Begeisterung erweckte Pistorius, als er den Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ ins Zentrum seiner Kommunikation stellte – mit der guten Absicht, Bundeswehrverwaltung und Gesellschaft aus dem Friedensdividendenmodus wachzurütteln. Doch alles hat seinen kommunikativen Preis. Sahra Wagenknecht jedenfalls wird sich gedacht haben: „Wie schön, dass Sie mir den Friedensbegriff auf dem Silbertablett servieren, Herr Kriegsminister Pistorius.“
 

Der Begriff des Friedens wurde preisgegeben

Nun könnte man einwenden, dass der russische Präsident Putin offensichtlich keinen Frieden will und die Rede vom Frieden in der politischen Mitte nur davon ablenkt, was wirklich notwendig ist: die Ukraine mit Waffen zu stärken. Der SWP-Forscher Janis Kluge etwa formulierte es jüngst so: „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass es in der Ukraine in absehbarer Zeit Frieden geben könnte. Dass hierzulande so viel darüber gesprochen wird, zeigt nur den Realitätsverlust und die Anmaßung der deutschen Debatte.“

Doch ist es nicht eher politischer Realitätsverlust zu glauben, man könne in Deutschland die Unterstützung für die Ukraine (und Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit) auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten, wenn man den Begriff des Friedens stiefväterlich behandelt oder gar ganz aufgibt? „Wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist“, war ein wichtiger Satz in der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz am 27. Februar 2022. Solchen utopischen Überschuss braucht es gerade in Zeiten des Krieges. Für diejenigen, die an eigene Stärke und Abschreckung sowie die Notwendigkeit der militärischen Unterstützung der Ukraine glauben, war es fahrlässig, den Begriff des Friedens allzu leicht und allzu lange dem Missbrauch durch AfD und BSW zu überlassen. Es ist gut, dass sich das zu ändern begonnen hat. Richtig kombiniert – „Frieden durch Stärke“ –, zeugt das weder von Realitätsverlust noch Anmaßung. 
 

Negierte Eskalationsrisiken

Ein weiteres Bein, das sich die stärksten Ukraine-Unterstützer im politischen Berlin selbst gestellt haben, war die Quasi-Negation von Eskalationsrisiken. Die Diskussion, die wir brauchen, ist eine über unterschiedliche Ansichten bei der Risikoabwägung. Man kann etwa mit sehr guten Gründen anderer Meinung als der Bundeskanzler darüber sein, wie das Eskalationsrisiko durch die Lieferung bestimmter Waffensysteme zu gewichten ist gegenüber den Risiken, die daraus folgen, dass sich die Ukraine nicht effektiv gegen Russlands brutale Kriegsführung verteidigen kann. Und es stimmt, dass der Bundeskanzler wiederholt der Lieferung von Waffensystemen zugestimmt hat, vor deren Folgen er vorher noch gewarnt hatte, ohne dass ein Atomkrieg ausgebrochen wäre.

Aber einige der stärksten Unterstützer der Ukraine verweigern sich einer nüchternen Debatte über verschiedene Ansichten zur Risikoabwägung und schalten stattdessen auf Frontalangriff gegen jeden, der andere Ansichten zur Möglichkeit einer Eskalation hat. Hofreiter und Röttgen etwa halten Scholz pauschal vor: „Atomkrieg. Eskalation. Kriegspartei. Das sind nur einige der Schlagworte, die der Kanzler seit dem 24. Februar 2022 geprägt hat und die Putin nur eines signalisieren: Er kann weiterhin Völkerrecht und internationale Verträge brechen und Länder überfallen ohne ernsthafte Konsequenzen.“

Scholz‘ Weigerung, der Ukraine weitreichende Waffensysteme zu liefern, beruhe rein auf „Selbstabschreckung“, so etwa Kiesewetter. Hofreiter und Röttgen ätzten: „Für Putin ein Fest. Er brauchte im Grunde gar nichts zu machen, Deutschland schreckte sich selbst ab.“ Röttgen ist sogar davon überzeugt, dass Putin überhaupt keine Eskalationsmöglichkeiten mehr hat. „Putin hat voll eskaliert, mit allen erdenklichen verbotenen und verbrecherischen Maßnahmen“, sagte er erst letzte Woche. Wirklich? Röttgen führt als Beleg an, der chinesische Präsident Xi Jinping habe „eine klare rote Linie gezogen: kein Einsatz von Atomwaffen“. Putin halte die atomare Karte also gar nicht in der Hand, „weil er damit China als wichtigsten Verbündeten verlieren würde“, so Hofreiter und Röttgen. Dabei ist alles andere als sicher, dass sich Peking von Moskau abwenden würde, wenn Putin eine Atomwaffe einsetzt. Denn: Für Chinas Führung ist Moskau im Kampf mit den USA von zentraler Bedeutung. Warum sollte Peking diese Allianz aufgeben? 
 

Rhetorische Steilvorlagen und offene Flanken

Klar ist: Moskau hat gegenwärtig keinen Grund, nuklear zu eskalieren – die Kosten-Nutzen-Rechnung sieht in der Tat höchst unvorteilhaft aus. Das würde sich nur ändern, wenn sich das Blatt auf dem Schlachtfeld komplett wendet. Aber anders als von Röttgen behauptet, hat Putin durchaus andere Eskalationsmöglichkeiten, etwa als Antwort auf einen möglichen Beschuss militärischer Ziele tief in Russland durch weitreichende westliche Waffensysteme. Diese umfassen etwa die Lieferung präziser Waffensysteme an die Huthi, um US-Militärschiffe im Roten Meer anzugreifen. Oder Angriffe gegen US-Militäranlagen in Europa. Oder die Eskalation von Sabotageaktivitäten, wie wir sie in Deutschland jetzt schon sehen.

Ja, alle diese Optionen sind mit Kosten für Moskau verbunden, wie etwa Hanna Notte herausgearbeitet hat. Aber sie existieren. Und zu behaupten, es sei einfach Selbstabschreckung, wenn Biden und Scholz diese Szenarien in ihre Risikoabwägung miteinbeziehen, macht die Ukraine-Unterstützer leicht als unbesonnen angreifbar. 

Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch, wenn jemand wie Roderich Kiesewetter fordert: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden.“ Der Westen, so der CDU-Außenpolitiker, müsse alles tun, damit die Ukraine „nicht nur Ölraffinerien“ zerstören könne, sondern auch russische „Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände“. Auch wenn Kiesewetters Äußerung eine Einzelmeinung ist: Sie ist eine Steilvorlage für Sahra Wagenknecht, die (mit Blick auf Ministerien in der russischen Hauptstadt) nun behaupten kann, die Ukraine-Unterstützer in der deutschen Politik suchten die Eskalation und wollten in Wahrheit den Krieg nach Moskau bringen und die NATO noch viel direkter in den Kampf hineinziehen. 
 

Die Finanzierung der Sicherheit

Eine weitere offene Flanke vieler Ukraine-Unterstützer (insbesondere in FDP und CDU/CSU) zeigt sich mit Blick auf die Frage, wie eine faire Finanzierung der Lasten für die Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Deutschlands eigene Verteidigungsfähigkeit aussieht. Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann verwendet gern die Formel „Ohne Sicherheit ist alles nichts“, um zu begründen, dass man im Haushalt einfach Prioritäten zugunsten von Sicherheit und Verteidigung setzen müsse – durch Einsparungen in anderen Bereichen. Doch für weite Teile der deutschen Bevölkerung gilt „Ohne soziale Sicherheit ist alles nichts“.

Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren im Alltag ein marodes Land, das dringende Investitionen in die öffentliche Infrastruktur benötigt. Und immer mehr Menschen sehen Ausgaben für die Ukraine und Verteidigung in direkter Konkurrenz zu den Ausgaben für Soziales und die öffentliche Infrastruktur. CDU-Politiker Kiesewetter gehört zu den wenigen prominenten außenpolitischen Stimmen in seiner Partei, die deshalb eine Aussetzung der Schuldenbremse fordern. Diejenigen, die vertreten, dass sich Mehrkosten für die Ukraine-Politik sowie Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung durch Sozialkürzungen finanzieren lassen, betreiben hingegen das Geschäft von Wagenknecht. Diese insinuiert, man müsse nur der Ukraine den Rücken kehren und schon hätte man das nötige Geld für Investitionen daheim – und sie erhält dafür Zuspruch aus der Bevölkerung.

Eine nachhaltige politische Mehrheit für die notwendigen Mehrausgaben für die Ukraine und die eigene Verteidigung wird sich in Deutschland nur finden, wenn ein Großteil der Bürger die damit verbundene Lastenverteilung als fair ansieht. Und dazu braucht es einen fiskalpolitischen Kompromiss aus klugen Einsparungen, Steuererhöhungen für Vermögende und Änderungen an der Schuldenbremse. 
 

Abnehmende Überzeugungskraft

Zu alledem kommen zwei schwierige Trends hinzu, auf welche die Unterstützer der Ukraine bislang oft nur unzureichende Antworten gefunden haben. Der erste ist die abnehmende Überzeugungskraft moralischer Argumente für die Unterstützung der Ukraine. In der Anfangszeit nach Beginn der russischen Vollinvasion im Februar 2022 spielten moralische Argumente eine wichtige Rolle, um die deutsche Öffentlichkeit für eine umfassende, auch militärische Unterstützung der Ukraine zu gewinnen. Diese waren wirksam, weil die Bevölkerung geschockt war über einen Krieg, den ein großer Teil nicht erwartet hatte, und weil erste Enthüllungen, etwa aus Butscha, die Brutalität von Russlands Kriegsführung offenlegten.

Und sie stießen auf große Resonanz wahrscheinlich auch aufgrund der Scham mancher darüber, dass viele deutsche Eliten eng mit Putins Herrschaftssystem verflochten waren und die Mehrheit der deutschen Politik die Warnungen der mittel- und osteuropäischen Länder vor Putin in den Wind geschlagen hatten. Ukrainische Stimmen (wie die des damaligen ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk), die eine deutsche Unterstützung der Ukraine auch als Antwort auf die moralische Schuld deutscher Entscheidungsträger infolge der Kumpanei mit dem Kreml selbstbewusst einforderten, spielten in der öffentlichen Diskussion ebenfalls eine wichtige Rolle. 
 

Einsetzender Gewöhnungseffekt

Heute ist die Lage eine andere. Moralische Argumente zur Unterstützung der Ukraine scheinen weniger zu verfangen. Grund dafür kann nicht sein, dass das Leid der Ukrainerinnen (gerade in den besetzten Gebieten oder nahe der Front) bedeutend abgenommen hat oder die politischen Verstrickungen deutscher Eliten mit dem Kreml umfassend aufgearbeitet worden wären. Dem ist nicht so. Doch scheint der anfängliche Schock über den brutalen Krieg Russlands einem gewissen Gewöhnungseffekt gewichen zu sein sowie dem Gefühl, das müsse doch jetzt endlich alles einmal aufhören mit dem Krieg, egal wie.

Vielleicht ist bei einigen auch die anfängliche Scham über deutsche Versäumnisse von einem Genervtsein über die moralische Erwartungshaltung, die an Deutschland beim Thema Unterstützung der Ukraine herangetragen wird, überlagert worden. Und sicherlich gibt es auch eine Aufmerksamkeitskonkurrenz mit anderen Konflikten, etwa in Israel und Palästina, wo die Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung prozentual weit höher liegt als in der Ukraine. Ein weiterer Faktor, so die Beobachtung von Andrea Binder (GPPi), könnte auch sein, dass die mittel- und langfristigen Kosten für vor allem moralisch gerechtfertigte Entscheidungen erst mit Verzögerung sichtbar werden. Wenn diese dann für große Teile der Bevölkerung greifbar werden, reichen moralische Argumente zur Rechtfertigung nicht mehr aus. Das war mit Blick auf die Fluchtkrise 2015 so. Und das könnte auch mit Blick auf die Ukraine so sein, etwa wenn es um die finanziellen Lasten (und die langfristigen industriellen Folgen des Wegfalls billigen russisches Gases) geht. 
 

Konkurrenz der Ausgaben

Heute stehen Ausgaben für die Ukraine im Zeichen knapper Kassen und dank der von FDP und Teilen der CDU/CSU unterstützten Schuldenbremse tatsächlich in direkter Konkurrenz zu anderen Ausgaben für öffentliche Güter. Dies war zu Kriegsbeginn noch anders, als fiskalpolitisch der schuldenfinanzierte „Bazooka“-Ansatz aus der Corona-Pandemie dominierte, um die Kosten der Krise abzufedern (man denke etwa an den „Doppel-Wumms“ zur Stabilisierung der Energiekosten). In der Konsequenz sollten Unterstützer der Ukraine heute weit weniger auf moralische Argumente setzen, sondern harte deutsche Eigeninteressen betonen, von denen viele auf der Hand liegen. Moralische Argumente allein sind gegen BSW und AfD nicht wirksam. Es war sicher gut gemeint, als Verteidigungsminister Pistorius bei einer Diskussion in Hamburg im September den Forderungen an die Ukraine, territoriale Kompromisse einzugehen, entrüstet entgegenhielt: „Wie bitte? Und was sage ich den Angehörigen der Frauen von Butscha? Und was sage ich den Eltern der vielen verschleppten Kinder? Die Ukraine soll jetzt einen Kompromiss eingehen?“ Aber so verständlich das Argument auch ist, in seiner Absolutheit kann es gegen jede Verhandlungslösung ins Feld geführt werden, mit der die Ukraine nicht sofort die volle Souveränität über ihr gesamtes Staatsgebiet zurückerhält – und wird dadurch entleert und leicht angreifbar. Dabei hatte Pistorius vorher schon selbst einige schlagkräftige Argumente geliefert, warum es im ureigenen deutschen Interesse ist, die Ukraine weiterhin auch militärisch zu unterstützen. Darauf sollten sich die Unterstützer der Ukraine fokussieren. 
 

Abnehmendes Bedrohungsgefühl

Ein zweiter schwieriger Trend in der öffentlichen Diskussion ist das abnehmende Bedrohungsgefühl in Deutschland, das heute weit weniger stark ist als etwa im Baltikum oder in Polen. Kurz nach Beginn der Vollinvasion war dies anders. Die Erwartung vieler war damals, dass Russland Kiew unter eigene Kontrolle bringen und die Ukraine fallen würde. Die damit verbundene Angst war: „Sind die östlichen NATO-Staaten und damit auch Deutschland dann die nächsten? Darauf sind wir nicht vorbereitet.“

Der paradoxe Effekt des beträchtlichen Erfolgs der Ukraine beim Aufhalten der Invasion und bei der Rückeroberung besetzter Gebiete ist, dass die Bedrohungswahrnehmung in Deutschland wieder stark gesunken ist. Die Folge davon: Botschaften wie „Wenn die Ukraine nicht gewinnt, werden wir Europa nicht wiedererkennen“ (so die Überschrift des gemeinsamen Artikels der deutschen Abgeordneten mit dem ukrainischen Botschafter in der FAZ) verfangen nicht mehr – gerade wenn man unter dem Sieg der Ukraine die volle Wiederherstellung ihrer Kontrolle über das ukrainische Staatsgebiet versteht.

Wenn man sich einmal, wie viele zu Beginn des Krieges, ein Europa mit einer vollständig durch Russland kontrollierten Ukraine vorgestellt hat, dann ist die Idee, dass der Krieg etwa entlang der aktuellen Kontrolllinien endet, weit weniger schreckhaft. Dabei hilft auch nicht, dass einige Unterstützer der Ukraine in der öffentlichen Diskussion binnen nur eines Jahres erst einen Sieg der Ukraine durch deren erfolgreiche Gegenoffensive in Aussicht und dann eine ukrainische Niederlage durch Zusammenbruch der Front prophezeit haben. Ein solches Hin und Her macht weder die Positiv- noch die Negativszenarien glaubhafter.
 

Die Gestaltung einer künftigen Ordnung

So sehr es richtig ist, auf die akute Bedrohungslage auch für Deutschland zu verweisen und die Bevölkerung stärker zu sensibilisieren, so müssen wir auch damit rechnen, dass die Bedrohungswahrnehmung in Deutschland sich absehbar nicht der im Baltikum anpassen wird. Deshalb – und da kommen wir wieder auf die zentrale fiskalpolitische Frage zurück – wird auch die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, finanzielle Opfer zu erbringen, insgesamt geringer ausfallen als in den unmittelbaren Frontstaaten in der Auseinandersetzung mit Russland. Umso wichtiger ist es dafür zu sorgen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Lastenverteilung für die zusätzlichen Sicherheits- und Verteidigungsausgaben als fair ansieht. 

Zentral dafür ist Oppositionsführer Friedrich Merz. Der Kanzlerkandidat der Union kann im kommenden Wahlkampfjahr maßgeblich dazu beitragen, dass sich die Unterstützung für die Ukraine in der Bevölkerung stabilisiert. Dazu gehört auch eine Bereitschaft zu fiskalpolitischen Kompromissen mit Blick auf Steuererhöhungen für Vermögende und die Regeln der Schuldenbremse. Diese könnten nach einem Trump-Wahlsieg schon sehr bald nötig werden, um die Ukraine stärker zu unterstützen und mehr in Deutschlands eigene Fähigkeiten zu investieren.

Und auch sonst kommt Merz eine wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion zur Ukraine zu. In dieser Hinsicht lassen Merz‘ Äußerungen von letzter Woche unter der Überschrift „Frieden in der Ukraine?“ aufhorchen. Egal wie „fern“ die „Utopie“ des Friedens heute liegen mag, so Merz, es sei jetzt schon wichtig, eine Kontaktgruppe aus Polen, Großbritannien, Frankreich und Deutschland zu formieren, um über einen „Friedensplan“ zu beraten sowie über die „Gestaltung der politischen Ordnung Europas nach dem Krieg in der Ukraine“.

Ein solches Quartett könnte auch eine wichtige Rolle bei der Erarbeitung einer neuen Ukraine-Strategie spielen. Denn in einem haben die Kritikerinnen von Scholz und Biden zweifelsohne sehr recht: „So lange wie nötig“ ist keine Strategie. Und egal wie die Wahl in den USA ausgeht: Die westlichen Unterstützer der Ukraine brauchen einen neuen Ansatz. 

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Thorsten Benner ist Mitbegründer und Direktor des Thinktanks Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

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