Buchkritik

01. Nov. 2014

Wer wir sind und was unsere Aufgabe ist

Heinrich August Winkler schreibt weiter an der Geschichte des Westens

Mit dem dritten Band seiner „Geschichte des Westens“ wird die sensationelle Leistung Heinrich August Winklers so langsam voll begreifbar: Hier leistet ein Deutscher Großarbeit am Konzept des Westens. Leider wird auch dieser Band international nicht den Einfluss haben, den er haben sollte – und das liegt schlicht daran, dass er nicht auf Englisch geschrieben ist.

Nebeneinander aufgereiht liegen sie da, und der Rezensent gluckst vor Freude. Drei dicke Bände, Neuerscheinungen, von großen Autoren. Und alle verheißungsvoll in ihrem Anspruch, den Nebel der internationalen Politik­unordnung zu lichten. Neben Henry Kissingers „Global Order“ liegt da Francis Fukuyamas „Political Order and Political Decay“, und daneben, fast dicker als die beiden anderen zusammen, der dritte Band von Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“.

Man kann enorm punkten im Thinktank-Gewerbe, wenn man glaubwürdig so tut, als leide man darunter, dass man das alles nicht gelesen hat. Aber diesmal ist da nicht nur Freude über so viel geballte Geisteskraft, es ist auch Wehmut dabei. Darüber, dass eins von den dreien, der Winkler nämlich, mit großer Sicherheit nicht den Einfluss haben wird, den es haben sollte, und dass das schlicht daran liegt, dass es nicht auf Englisch geschrieben ist. An Winkler wird die Tragik der sprachlichen Randlage deutlich, in die die deutsche Gelehrsamkeit in den vergangenen Jahrzehnten abgerutscht ist. Da ist ein Historiker von Weltrang, der es mit den Kollegen aus der angelsächsischen Fachwelt mehr als aufnimmt, der noch dazu so erzählen kann, dass man wieder weiß, warum Geschichte Geschichte heißt, und nicht einfach Vergangenheit, und dann bleibt seine Wirkung praktisch ausschließlich auf Deutschland beschränkt.

Eingeschränkter Wirkungskreis

Außerhalb der Fachzunft, auf dem internationalen öffentlichen Marktplatz der Ideen, der weitgehend ein englischsprachiger ist und auf dem die anglophone kosmopolitische Deutungselite den Diskurs definiert, finden Gelehrte wie Winkler einfach nicht statt. Ähnlich geht es anderen deutschen Großhirnen wie Herfried Münkler. Fragt man im Ausland nach relevanten deutschen Intellektuellen, dann fällt den Leuten gerade noch Jürgen Habermas ein, dessen normative Mahnliteratur aber so weit von der politischen Realität entfernt ist, dass sie zwar zur akademischen Sollensdebatte beklatschte Beiträge leistet, für das politische Verständnis der Jetztzeit oder gar für die Problemlösung aber praktisch irrelevant ist.

Im Falle Winklers ist der eingeschränkte Wirkungskreis besonders bedauerlich, denn hier leistet ein Deutscher Großarbeit am Konzept des Westens, dieser Schicksalsgröße sowohl der deutschen Geschichte als auch des amerikanischen Zeitalters, in dem wir leben. Und es würde der internationalen Debatte über aktuelle außenpolitische Themen und über die Frage nach globaler Ordnung guttun, wenn auch ein deutsches Schwergewicht darin gehört würde.

Aber wie die Dinge liegen, wird die sensationelle Leistung Winklers, die mit dem dritten Band seiner „Geschichte des Westens“ so langsam voll begreifbar wird, bestenfalls im deutschen Sprachraum ein Echo erzeugen, während die Meinungsbildner, Kommentarschreiber, Analysten und Doktoranden der Welt ihre Grundkategorien weiterhin ausschließlich aus den Werken von Fukuyama, Kissinger und Samuel Huntington beziehen. Keine schlechte Lektüre, natürlich, aber eben ohne deutsche Beteiligung.

Warum wäre es so nützlich, wenn Deutschlands wichtigster Historiker da mitmischen könnte? Erstens, weil Deutschland der außenpolitische „Swing state“ Europas ist, dessen Gedankenwelt mehr und mehr Menschen verstehen wollen. Zweitens, weil hier etwas Rares zu entdecken wäre, nämlich ein deutscher Akademiker, der eine klare Idee hat von dem, was wir sind und was unsere Aufgabe ist. Und drittens, weil es den Deutschen gut täte, wenn ihre Beiträge sich stärker dem rauhen Wind der internationalen Debatte aussetzen müssten, statt immer nur im intellektuellen Eigenheim getestet zu werden.

Hinzu kommt, wie der irische ­Oxford-Historiker Brendan Simms so großartig klar gemacht hat, dass die europäische Politik seit Jahrhunderten vor allem ein Sich-um-Deutschland-Sorgen ist, und dass also die Einbeziehung der Deutschen in die Debatte durchaus ihren Nutzen haben könnte.

Der dritte Teilband der auf vier Bände angelegten Geschichte des Westens fokussiert auf die Geschehnisse zwischen 1945 und 1989, führt Winklers Handlungsstrang also in die Zeitgeschichte. Seit dem ersten Band, der 2009 erschien, betrachtet der Autor die Geschichte durch einen selbstgebauten Filter: Inwieweit waren die Geschehnisse wichtig für das „normative Projekt des Westens“, also das Bestreben westlicher Kulturen, das Individuum, Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und liberales Wirtschaften zum bestimmenden Merkmal ihres Handelns zu machen?1

Dies ist das Alleinstellungsmerkmal Winklers, und im dritten Band wird endgültig klar, dass er ein so starkes und zugespitztes Grundthema auch dringend braucht, um die Fülle des Stoffes halbwegs beisammen zu halten. Er schafft es, aber nur gerade so eben. Im dritten Band geht es um den Kalten Krieg, also um die Zeit nach der Kernschmelze des Westens, die dann mit seinem Triumph endete. Warum sollte man Winkler lesen und nicht eine der zahllosen anderen Darstellungen dieses Zeitabschnitts? Winkler liefert beides: einerseits eine umfassende, faktenreiche und tiefenreflektierte Gesamtdarstellung der Epoche, die aber, andererseits, eingebettet ist in ein größeres Konzept. Sie kann deshalb nicht nur aus dem überbordenden Erzählrohstoff dieser Periode schöpfen, sondern auch aus dem langen Atem der zivilisatorischen Gesamterzählung. Das Resultat ist Geschichtsschreibung von einer Souveränität, wie es sie nicht oft gibt.

Der Riemen knirscht mächtig

Aber in diesem Band wird das Konzept des „normativen Projekts“ auch bis an seine maximale historiogra­fische Leistungsfähigkeit gedehnt. Zwar hält der Riemen, den Winkler um das ganze Ding geschlungen hat, aber er knirscht mächtig. Die massive Ausdifferenzierung der Geschichte in der Moderne ist nämlich nicht immer so ohne weiteres in ein Gesamtkonzept hineinpressbar, ohne dass dieses entweder dem Stoff seinen Willen aufzwingt und dadurch rigide Gewolltheit erzeugt, oder immer mal wieder aufgegeben werden muss, damit der Stoff voll zur Geltung kommen kann.

Winkler hat sich gottlob für die zweite Variante entschieden, lässt den Stoff also atmen, und hält nicht jeden Teilabschnitt und nicht jede Wegmarke an die Messlatte des „normativen Projekts“. Er muss es auch gar nicht, denn Erfolg und Scheitern dieses Projekts tropfen von ganz allein aus jeder Seite dieses Buches. Dennoch stellt sich die Frage, ob Winklers Erzählung davon hätte profitieren können, wenn er sie statt auf rund 1100 Erzählseiten auf 600 komprimiert hätte. Die Antwort lautet: wahrscheinlich ja. Manche Teile seines Buches bleiben für die Kernthese folgenlos, sind also streng genommen analytisch nicht relevant. Die Entwicklung des Wesenskerns des Westens hätte man auch pointierter herausarbeiten können.

Aber dann wären drei Dinge passiert: Erstens wäre es keine Universalgeschichte des Westens mehr gewesen, auf deren Schaffung das Gesamtprojekt so sichtbar abzielt. Zweitens wären dem Leser hunderte Seiten Lesevergnügen entgangen, denn als solches muss man das Werk wegen seines so wunderbar lesbaren Stils und seiner niemals bleiernen Gelehrsamkeit mit vollem Recht bezeichnen.

Und drittens wäre ein überaus nützlicher Nebeneffekt ausgeblieben. Das Werk ist nämlich nicht nur Großerzählung, es ist im Grunde auch Enzyklopädie. Winkler hat den Gesamtstoff so geschickt in viele Einzelkapitel unterteilt, dass man das Buch wie ein Nachschlagewerk benutzen kann. Die Kapitel selbst lesen sich wie abgeschlossene Kleinmonografien, was diesen Effekt noch verstärkt. Und so ist der dritte Teilband unterm Strich, wie schon seine zwei Vorgänger, trotz der angsteinflößenden Seitenzahl von maximaler Nutzerfreundlichkeit.

Eine Schwäche bleibt. Winkler ist kein Ideengeschichtler, obwohl er die Gesamterzählung über vier Bände unter das Zeichen einer Idee stellt. Dies führt zum einen dazu, dass er mit dieser Idee flexibel umgehen muss, damit sie vom Material nicht gesprengt wird. Zum andern heißt das aber auch, dass ihm Dinge entgehen – nicht unbedingt wichtige Geschehnisse, eher die darunterliegenden Geistesströmungen, die Ideengeschichte eben.

Hier hätte man sich, jenseits der Chronologie, Einordnungskapitel gewünscht, die Zwischenbewertungen des Geschehens für die Entwicklung des Westens vornehmen. Hin und wieder sind solche Abschnitte eingeflochten und gelingen auch gut. So gibt etwa die vergleichende Betrachtung der 68er-Revolution in den verschiedenen westlichen Gesellschaften vertieften Einblick in das intellektuelle Klima der Zeit und markiert den Stellenwert der Revolution für die kulturelle Entwicklung des Westens.

Auch das letzte Kapitel, das die westliche Debatte über die Bedeutung der 1989er-Zeitenwende reflektiert (natürlich anhand von Fukuyama und Huntington), liefert diese Form der Einordnung. Aber andere ideengeschichtliche Grundfragen, die Kernprobleme westlicher Entwicklung betreffen, werden nur unzureichend erörtert. Dazu gehört etwa der alte ideologische Grundsatzstreit zwischen Realpolitik und wertebasiertem Handeln. Winkler streift dieses Thema im Zusammenhang mit dem griechischen Staatsstreich 1967 und der darauf­folgenden Militärdiktatur. Vertieft wird diese für den Westen so maßgebliche Grundfrage jedoch nicht.
Ein anderes Beispiel ist der Konflikt zwischen staatlicher Souveränität und Integration, der Europa seit dem Westfälischen Frieden 1648, spätestens aber seit den europäischen Verträgen der 1950er Jahre in Streitparteien teilt. Winkler lässt ihn anklingen, um der schillernden Person Charles de Gaulles habhaft zu werden, vertieft die Problematik aber nicht. Sie ist längst als urwestliche Frage auch für das Völkerrecht und Global Governance entscheidend, hätte also mehr Aufmerksamkeit verdient.

Ein drittes Beispiel kommt aus Amerika. Nur ganz en passant wird Barry Goldwater genannt, der Vater des modernen amerikanischen Konservatismus. Die gescheiterte Präsidentschaftskandidatur des Hardliners aus Arizona im Jahre 1964 läutete die so genannte Reagan-Revolution ein und gebahr die neokonservative Bewegung in den USA – eine der entscheidenden ideengeschichtlichen Wegmarken für die innerwestliche Debatte und für die Wahrnehmung des Westens in der Welt.

Heinrich August Winkler schreibt derzeit am vierten Band seines Opus magnum. Er wird die Geschichte des Westens bis in unsere Tage fortsetzen. Es wäre wünschenswert, wenn der Autor diesen Band für das Heraus­arbeiten einiger dieser für den Westen so wichtigen Grundkonflikte und Ideenentwicklungen nutzen würde. Vielleicht klingt dieser Wunsch vermessen angesichts der Großleistung, die Winkler schon jetzt vollbracht hat. Angesichts seines selbst gewählten Anspruchs erscheint er aber nicht unangebracht.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. München: C.H.Beck 2014, 1258 Seiten, 39,95 €

Jan Techau ist Direktor von Carnegie Europe, Brüssel, und Associate Fellow der DGAP.

  • 1Jan Techau: Unseren Niedergang besorgen wir selbst. Buchempfehlungen für das Nachdenken über den Westen, IP September/Oktober 2012, S. 136–140.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S.138-141

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