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01. Juli 2004

Wer soll die EU führen?

Das Gezerre um die Besetzung des Postens des Kommissionspräsidenten ist nur ein Indiz für tiefer
liegende Probleme, die sich bei der Frage nach der Führung der EU auftun. Weder reicht der
deutsch-französische Motor allein aus, noch kann eine „G-6“ aus den großen Mitgliedsländern
diese Aufgabe erfüllen. Führen sollte stattdessen, wer mehr Europa will – ob klein oder groß, ob
alt oder neu, sollte dabei keine Rolle spielen.

Die Würfel sind gefallen: wie aus dem Nichts wurde
der portugiesische Ministerpräsident José
Manuel Durão Barroso zum neuen Präsidenten der
Europäischen Kommission erkoren. Es wäre falsch,
voreilig über jemanden zu urteilen, den bisher kaum
jemand näher kennt, der in Portugal zumindest einiges
bewegt hat, und der vielleicht großes Potenzial
für die Union entfalten wird. Dennoch haftet dieser
Wahl gleich in doppelter Hinsicht ein schaler Beigeschmack
an. Zum einen mutet das wochenlange, zähe Gefeilsche
um den zukünftigen Kommissionspräsidenten
angesichts der großen Entscheidungen und
Herausforderungen, die der Union bevorstehen, fast surreal
an, denn ein historischer Verfassungsgipfel wurde fast
verpatzt durch die Energien, die eine einzige
personalpolitische Entscheidung bündelte. Zum anderen
ist es schlichtweg irritierend, dass das sich gerade
konstituierende Europa, das eigentlich stolz und energisch
einem neuen Kapitel europäischer Politik
entgegenstreben sollte, solche Mühe hat, eine seiner
Spitzenpositionen zu besetzen. „Europa – nein
danke“ war von den Favoriten für den Posten zu
hören.

Offenbar hat sich der Wind in Europa gedreht in den
letzten Wochen. Das Debakel der Wahlen zum
Europäischen Parlament, die Ernüchterung
über die Osterweiterung, anstehende, kritische
Referenden über die Verfassung, zu erwartende,
stürmische Verhandlungen über das nächste
EU-Budget, Spannungen mit Amerika: derzeit hat
offensichtlich niemand Lust, in der EU eine
Führungsrolle zu übernehmen.

Aber die Personalpolitik ist nur ein Indiz für
tiefer liegende Probleme, denn die Führungsfrage in
Europa ist nicht nur personalpolitischer Natur. Frankreichs
Wirtschafts-, Finanz- und Industrieminister Nicolas Sarkozy
hat mit seinem Interview in der Financial Times vom 23.
Juni 2004 ein Tabu gebrochen: Die
„deutsch-französische Achse“ reiche nicht
mehr aus, um die Union zu führen. Stattdessen sollten
die sechs großen EU-Staaten stärker zusammen
arbeiten.

Das ist zugleich richtig und falsch – vielmehr: es
wirft Probleme auf.

Richtig ist, die Schwäche des
deutsch-französischen Tandems zu thematisieren. In der
erweiterten Union wird das deutsch-französische Tandem
allein schon aus Gründen der physikalischen
Gesetzmäßigkeiten nicht mehr ausreichen, da zwei
Staaten zu wenig sind, um 25 zu ziehen. Auch haben
Deutschland und Frankreich in den vergangenen Monaten
selbst dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit ihrer
Führungsfähigkeit in Frage zu stellen. Was den
Stabilitätspakt anbelangt, kann moralisch derjenige
nicht Führung geltend machen und sich als
Großmeister der Integration gebären, der selber
Regeln bricht. Die jüngsten – verpatzten –
deutsch-französischen Initiativen in der
Industriepolitik haben ebenfalls den faden Beigeschmack
zurückgelassen, dass es um die
deutsch-französische Zusammenarbeit vielleicht doch
nicht so gut bestellt ist, wenn es ums
„Eingemachte“ geht. Und schließlich hat
das deutsch-französische Vorpreschen im Irak-Krieg
klargemacht, dass nicht Deutschland und Frankreich allein
die Positionierung der EU in so wichtigen Fragen wie dem
Verhältnis der Union zu Amerika bestimmen können
– auch wenn sie in der Sache vielleicht Recht hatten.
Insofern ist die Frage der neuen Führung in der EU
berechtigt, denn die EU bedarf zweifelsfrei der
Führung. Sarkozy – dem man für sein
Interview auch innenpolische Motive unterstellen darf,
insbesondere eine Abgrenzung von Präsident Jacques
Chirac – übersieht aber ein paar entscheidende
Punkte:

Erstens kann es nicht darum gehen, die
deutsch-französische „Achse“ zu begraben.
Sie ist nicht nur weiterhin wertvoll, sondern sie wird auch
weiterhin die Conditio sine qua non für Fortschritte
in Europa sein. Deutschland und Frankreich sind weiterhin
eine notwendige, wenn auch nicht mehr hinreichende
Bedingung. Denn die „deadlocking capacity“ von
beiden Staaten ist groß; beide bilden nach wie vor
die kritische Masse in der EU, und nichts dürfte, auch
in Zukunft, an ihnen vorbei oder um sie herum geschehen
– ob man dies mag oder nicht.

Zweitens übersieht Sarkozy die historische
Bedeutung der kleinen Staaten in der EU. Es war immer die
Stärke der Europäischen Union, eine gute Balance
zwischen großen und kleinen Staaten gefunden zu
haben. Hier liegt im Übrigen auch Barrosos Chance. Die
Benelux-Staaten zum Beispiel galten immer – und sind
es noch – als Schrittmacher der EU. Deutschland ist
immer „Anwalt der kleinen Staaten“ gewesen; und
wenn diese jetzt mehr und mehr missachtet werden, dann ist
dies vor allem ein Versagen der deutschen Europa-Politik in
den letzten Jahren – zu Lasten Europas.

Sarkozys Vorschlag der „großen Sechs“
übersieht auch, dass dann nur ein Land von diesen
sechs aus den neuen Mitgliedstaaten käme; ein
sträfliches Ungleichgewicht, das den
Führungsanspruch dieser Gruppe sogleich in Frage
stellen dürfte, und zwar doppelt: bei den
„Kleinen“ und bei den „Neuen“
– zumal die meisten „Neuen“ eben
„Kleine“ sind.

Weitaus stimmiger – und pro-europäischer
– wäre es, die Führungsgruppe nicht nach
Größe, sondern nach europapolitischer
Einstellung auszuwählen. Europa sollte führen,
wer mehr Europa will, nicht wer „groß“
ist. Eine solche Gruppe würde dann möglicherweise
aus Deutschland, Frankreich, Finnland, Luxemburg, Ungarn
und Slowenien bestehen. Niemand ist gegen Spanien oder
Italien, Polen oder Großbritannien in der
Führungsriege, im Gegenteil. Aber kann Führung
gut gehen, wenn die „Führer“ in
unterschiedliche Richtungen streben? Grund genug, den
Sechser-Kreis zu überdenken – oder ihn zumindest
um kleinere Staaten zu erweitern. Aber dann wird man
sicherlich zu dem Ergebnis kommen, dass man letztlich
für das Projekt Europa alle Staaten an Bord braucht,
und sich hier die „Kerneuropa“-Debatte im Kreis
dreht …

Einen Augenblick nachdenken sollte man auch über
die Frage, ob denn, und wenn ja, diese Führung
institutionalisiert werden sollte. Chirac hat unlängst
von einem „secrétariat“ gesprochen. Aber
ist das eine gute Idee? Denn ein solches Sekretariat
würde zweifellos bedeuten, dass die Führung
intergouvernementalisiert und damit von den
europäischen Institutionen abgekoppelt würde.
Diese aber waren und sind noch immer die eigentlichen
Träger der europäischen Integration. Die
Stärke der EU liegt gerade in ihren Institutionen.
Alle intergouvernementalen Prozesse, so wie etwa der so
genannte Lissabon-Prozess zur Ankurbelung der
europäischen Wirtschaft, verlaufen gerade deshalb im
Sande, weil die Kommission eben keine Mitsprache- oder
Evaluierungsrechte hat. Und ist nicht eine stärkere
Einbeziehung der Bürger eines der großen Themen?
Von einer intergouvernementalen Führungsriege
wäre aber gerade wieder das Europäische Parlament
ausgeschlossen. Wollen wir das?

Kurz gesagt: die EU braucht Führung. Heute mehr
denn je zuvor. Aber nicht ohne die Kleinen, nicht ohne die
Neuen, und nicht ohne die europäischen Institutionen!
Barroso wird dies alles zusammenbinden müssen.
„Vaste programme“ hätte Charles de Gaulle
gesagt.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 87-89

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