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01. Jan. 2003

Welches Europa soll es sein? Interessenkonflikte im Vorfeld der Erweiterung

Interessenkonflikte im Vorfeld der Erweiterung

Der „Ernstfall Erweiterung“ (zehn neue EU-Mitglieder 2004) muss, so der Politikwissenschaftler von der Universität Erlangen, zu einem stärkeren finanziellen Engagement aller EU-Staaten führen. Mehrheitsentscheidungen auch zur Kostenreduzierung in der Agrarpolitik sind unabdingbar. Einer Renaissance der Nationalstaaten muss Einhalt geboten werden; die Frage nach der „europäischen Identität“ stellt sich immer dringlicher.

Die Wiedervereinigung Europas nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ findet ungeteilten Beifall. Aber welches Europa soll es sein? Eines steht zumindest fest: Europa soll es wirtschaftlich gut gehen und jedem einzelnen Mitgliedsland und jedem Beitrittsstaat besser als zuvor. Unter der Oberfläche der Rhetorik, die Demokratie und Menschenrechte zu Recht feiert und die Verantwortung gegenüber den Beitrittsländern betont,1 bleibt dies eine konstante Hoffnung.

Die Erwartung ökonomischer Vorteile durch die europäische Integration ist so alt wie diese selbst. In regelmäßigen Abständen wurde darüber hinaus ein unumkehrbarer Neustart in die Prosperität versprochen. Es ist schon fast in Vergessenheit geraten, dass beispielsweise vor zehn Jahren das Binnenmarktprojekt allen Beteiligten den Aufbruch in wirtschaftliches Wohlergehen zu garantieren schien. Im Cecchini-Bericht der EG-Kommission von 1988 konnte man die nach volkswirtschaftlichen Erkenntnissen zu erwartenden positiven ökonomischen Eckdaten nachlesen. Die noch gar nicht so alten Hinweise auf ökonomische Stabilität dank der Euro-Einführung klingen allen noch in den Ohren.

Im Vorfeld der Erweiterung ist der ökonomische Erfolg erneut fest eingeplant. Die britische Handels- und Industrieministerin, Patricia Hewitt, geht beispielsweise von 300 000 neuen Arbeitsplätzen in ihrem Land aus.2 Auch die Finanzierung des EU-Haushalts bis 2006, wie sie auf dem Berliner Gipfel von 1999 im Rahmen der Agenda-2000-Verhandlungen beschlossen wurde, setzt auf relativ optimistische Wachstumsraten nicht nur in den Beitrittsländern. Planungen dieser Art lassen allerdings regelmäßig zwei Gesichtspunkte außer Acht, die sich dann aber in einer Weise Beachtung verschaffen, die den überraschten politischen Entscheidern nicht selten Alpträume beschert.

Der erste Gesichtspunkt ist: Politische Entscheidungen – zumal die auf europäischer Ebene üblichen und im Lichte einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Logik nicht immer einleuchtenden Kompromisse in Form von gegenseitigem Geben und Nehmen – können gewünschte ökonomische Ergebnisse nicht herbeizwingen. Im Vorfeld der Erweiterung tauchte dieses Problem schon bei den Entscheidungen der Kommission auf. Der politische Wille zur Erweiterung kollidierte mit harten ökonomischen Fakten. So erfordert das Wohlstandsgefälle zwischen den EU-15 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2001 von durchschnittlich 23200 Euro und den Beitrittsländern, deren BIP pro Kopf sich zwischen 7700 Euro (Lettland) und 18500 Euro (Zypern) bewegt, ebenso eine politische Antwort wie Erhebungen,3 die eine besondere Korruptionsneigung in den Beitrittsländern gefunden haben wollen.

Rückständigkeit als Chance

Die positive Interpretation dieser Sachverhalte lautet: Die relative ökonomische Rückständigkeit der Beitrittsländer ist eine Chance. Durch den Beitritt werden hohe wirtschaftliche Wachstumsraten hervorgerufen bzw. erhalten und die gesamte EU wird von der wirtschaftlichen Dynamik in den Beitrittsländern profitieren.4 Die Korruptionsprobleme werden mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, den der wirtschaftliche Aufschwung hervorbringt, an Bedeutung verlieren. Was bei solcher Betrachtung in der öffentlichen Wahrnehmung ausfällt, weil Prosperitätszugewinne eben ungefragt unterstellt werden, ist eine „Worst-case“-Analyse, die der Wähler von verantwortungsbewussten Politikern eigentlich erwarten müsste.

Inzwischen sollte jedem Verantwortlichen klar geworden sein, dass „Worst-case“-Analysen nicht nur eine Übung für Europa-Skeptiker sind. Haben die deutschen Verhandlungsführer, als sie 1996 den Dubliner Vertrag über einen Stabilitäts- und Wachstumspakt5 verhandelten, je daran gedacht, dass sie selbst einmal in Konflikt mit den Stabilitätskriterien kommen könnten? Wohl nicht. Aber sie hätten es aus heutiger Sicht tun sollen. Oder war zu erwarten, dass die EU-Mitgliedstaaten, die in den Genuss des Kohäsionsfonds kamen, um sich für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion fit zu machen, diesen auch nach der nationalen Euro-Einführung für sich weiter reklamieren würden? Dies ist nur ein weiteres der zahlreichen möglichen Beispiele.

Der zweite Gesichtspunkt hängt eng mit dem ersten zusammen. Tritt der Idealfall ökonomischer Prosperität nicht ein, entstehen Kosten, die verteilt werden müssen. Diese kommen zu den Kosten hinzu, die die derzeitige EU-Politik insbesondere in den zentralen Feldern der europäischen Ausgabenpolitik, also in den Bereichen der Agrar- und Strukturpolitik, bereits verursacht. Der kritische Punkt in diesem verlustreichen Spiel ist erreicht, wenn die Kosten steigen, die ökonomische Prosperität aber ausbleibt. Dies verschärft die üblichen Verteilungskämpfe um finanzielle Mittel in der EU, weil neue Mittel nur noch durch Umverteilung und nicht mehr – zumindest teilweise – auch über Zuwächse mobilisiert werden können.

In dieser Situation ungefähr befinden wir uns. So lautet der Ernstfall. Es wäre nicht überraschend, würde Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Aussage von 1999 angesichts der heutigen Haushaltslage wiederholen. Er sagte nämlich: „In der Vergangenheit sind die notwendigen Kompromisse häufiger zustande gekommen, weil die Deutschen sie bezahlt haben. Diese Politik ist an ihr Ende gekommen.“6 Aus einer solchen Zustandsanalyse kann zweierlei geschlossen werden: Erstens, alle Europäer müssen sich finanziell engagieren und/ oder zweitens, problematische Politiken können nicht in der alten Form weitergeführt werden. Für beides gilt es, Verbündete zu finden, nicht zuletzt, weil EU-Entscheidungen in Finanzfragen weiterhin im Konsens gefällt werden müssen.

 

Einwohner

BIP pro Kopf

Arbeitslosen- quote in %

Wirtschafts- wachstum in %

EU

379,6

23 200

7,4

3,2

Estland

1,4

9 800

11,5

5,0

Lettland

2,4

7 700

14,0

7,7

Litauen

3,5

8 700

16,5

5,9

Malta

0,4

11 700*

6,0

-0,8

Polen

38,6

9 200

13,6

1,1

Slowakei

5,4

11 100

15,7

3,3

Slowenien

2,0

16 000

6,8

3,0

Tschechien

10,3

13 300

7,1

3,3

Ungarn

10,2

11 900

7,4

3,8

Zypern

0,8

18 500

4,3

4,0

Quelle: Europäische Kommission, Brüssel 2001(*: 1999).

Neue Ideen haben es schwer, zumal der allgemein gehaltenen Feststellung aller Betroffenen zugestimmt werden kann, dass nach der Nizza-Konferenz immer noch die Instrumente fehlen, um über Fragen der Agrar- und Strukturpolitik mit Mehrheitsentscheidungen zu befinden, weshalb Entscheidungen in der erweiterten EU schwieriger werden als bisher. Hieraus ergäbe sich eigentlich eine unmittelbare Aufforderung zu Reformen. Den Beitrittsländern ist sicherlich nicht der Vorwurf eines mangelnden Innovationswillens zu machen. Sie haben durch die Übernahme des Acquis communautaire in hohem Maße Flexibilität bewiesen, und ihnen nun die Fixiertheit auf den Acquis vorzuwerfen, wäre heuchlerisch.

Das Problem liegt bei den Mitgliedstaaten und deren unterschiedlichen Interessen. Agrarkommissar Franz Fischler wird nicht müde, die EU-15 auf ihre beschränkte Weltsicht in der Agrarpolitik hinzuweisen. Die EU-Subventionspolitik muss sich, ob einzelne Staaten dies wollen oder nicht, an den Maßstäben der WTO messen lassen. Und deshalb hat Fischler versucht, einen Vorschlag vorzulegen, der beides leistet: die weltweiten Kritiker des europäischen Agrarprotektionismus zu besänftigen und gleichzeitig die Logik der EU-Agrarpolitik neu zu bestimmen. Er schlägt eine Kürzung der Direktzahlungen an die Landwirte um bis zu 20% vor und kommt damit der internationalen Kritik an der Subventionierung der europäischen Landwirtschaft entgegen.7 Das durch diese „Modulation“ eingesparte Geld geht aber den Mitgliedstaaten nicht verloren, sondern wird auf diese verteilt und kann von ihnen dann ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nach eigenem Gutdünken eingesetzt werden.

Problem Agrarpolitik

Die Grundsatzfrage, ob die EU nicht zu viel für ihre Landwirtschaftspolitik ausgibt und ob dies dazu führt, dass es in der Zukunft schwierig werden dürfte, die Osterweiterung zu finanzieren, lässt Fischler unbeantwortet. Aus britischer Sicht wäre eine Kostenreduzierung geradezu der Kern einer Agrarreform, aus deutscher Sicht wäre diese willkommen.

Für Paris hingegen ist weder eine Ausgabenreduzierung noch eine Umstrukturierung der Mittelverteilung attraktiv, und vor allem wäre jeder Einstieg in eine nationale Kofinanzierung der Landwirtschaft – und sei es nur durch das nationale Ausgeben von EU-Mitteln – der „Kriegsfall“. Frankreich pocht auf die Kohäsionsformel des EG-Vertrags und sieht die erreichte Integration auf den Gebieten der Agrar- und Strukturpolitik als unumkehrbar an. Implizit bedeutet dies aber auch, dass aus budgetärer Sicht die EU eine Art Finanzausgleich betreiben muss, der Mittel von den reicheren in die ärmeren Länder abführt, was die Frage nach der Bereitschaft und der Fähigkeit der reicheren Länder, diesen Transfer zu finanzieren, aufwirft.

Grenzen der Bereitschaft wurden beispielsweise von Großbritannien deutlich gesetzt, das seinen Beitragsrabatt, den Premierministerin Margaret Thatcher 1984 in Fontainebleau ertrotzte, auch für die nötige Finanzierung der Osterweiterung nicht aufgeben will. Deutschland sieht sich derzeit nicht im Stande, mehr zu tun. Aus dieser Gemengelage entstand im Oktober 2002 beim Brüsseler EU-Ratstreffen8 ein Finanzierungskompromiss, der in Kopenhagen im Wesentlichen bestätigt wurde. Er greift einen alten Verhandlungstrick auf: das Spiel mit der Zeitschiene. Auch der gegenwärtige „worst case“ der deutschen Haushaltskrise wird in einer lichten Zukunft politisch wegdefiniert, in der dann der verabredete deutsche Beitrag zur Finanzierung der EU wieder leichter finanzierbar erscheint. Dies hat den Vorteil, dass grundsätzliche Fragen der EU-Agrarreform, die bereits 1999 auf das Jahr 2005 verschoben worden waren, noch weiter in die Ferne rücken. Aber es hat auch den Nachteil, dass es wenig wahrscheinlich wird – sollte es dem Konvent bei der Niederschrift eines europäischen Verfassungsentwurfs gelingen, die europäische Kompetenzordnung in neue Formen zu gießen –, dass dabei die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten in der Agrarpolitik im deutschen Sinne des Einstiegs in eine nationale Komponente der Finanzierung ausgestaltet werden kann.

Der Agrarkompromiss vom Oktober 2002, der die Osterweiterung finanzierbar halten soll, reduziert die Beträge, die nach Frankreich und Spanien fließen. Es wurde für die Agrarausgaben – allerdings nur für Direktzahlungen und Preisstützung – vereinbart, dass diese mit einem Inflationsausgleich von einem Prozent von 2007 bis 2013 eingefroren werden sollen. Für Frankreich war dieses Opfer weniger groß, als es auf den ersten Blick scheint, denn die Regelungen für die Beitrittsländer vermeiden eine Umverteilung in großem Stil zu deren Gunsten und zum Nachteil der bisherigen Nettoempfänger wie Frankreich. Wollte die Bundesregierung tatsächlich die neuen Mitgliedstaaten zum Opfer des deutsch-französischen Kompromisses machen, den Euphoriker möglicherweise voreilig schon als Wiedergeburt der deutsch-französischen Achse in der EU feierten? Oder hatten der britische Premierminister, Tony Blair, und eine Reihe ungenannter Diplomaten Recht, die meinten, Frankreichs Präsident, Jacques Chirac, habe mit seiner Expertise als ehemaliger französischer Landwirtschaftsminister den deutschen Bundeskanzler ausgetrickst?9

Die Beitrittsländer wurden auf die Zeitschiene vertröstet, wobei es erneut um die Sicherung jenes Status quo in der Agrarpolitik ging, den die jetzigen Nettozahler strukturell nicht für zukunftsfähig halten. Blair zog den Zorn der französischen Delegation auf sich, als er feststellte, dass es extrem heuchlerisch sei, sich in der europäischen Runde besorgt über die wachsende Verarmung des afrikanischen Kontinents zu äußern, gleichzeitig aber in der EU alles dafür zu tun, um afrikanische Agrarprodukte von europäischen Märkten fern zu halten. Die EU habe der WTO so nichts anzubieten.10

In den Beitrittsländern dürfte es schwierig werden, den Agrarkompromiss als zukunftsweisend zu vermitteln. Sie steigen 2004 mit 25% des Niveaus an Direktzahlungen ein, 2007 sollen 40% erreicht sein und in 10%-Schritten 100% im Jahre 2013. Zwar wird den Beitrittsländern garantiert, dass sie nach dem Beitritt bei der Betrachtung aller Finanzzuflüsse aus der EU und Zahlungen an diese nicht schlechter gestellt sein werden als vorher. Dies ist aber ein schwacher Trost. Wer mit einem Wohlfahrtsgewinn gerechnet hat, der kann sich kaum für das Ausbleiben eines Wohlfahrtsverlusts begeistern. Entsprechend kompliziert wird es werden, politisch in den Beitrittsländern für einen EU-Beitritt zu werben, nicht zuletzt angesichts möglicher Referenden.

In Kopenhagen wurden noch einige Finanzreserven zu Gunsten der Beitrittsländer mobilisiert, nicht ohne den gleichzeitigen Beschluss, ihr Wohlverhalten bis zum Beitritt zu überwachen. 433 Millionen Euro zusätzlich stehen nun für die zehn EU-Neulinge bereit. Polen, das am dringendsten glaubte, auch aus innenpolitischen Gründen einen Verhandlungserfolg vorweisen zu müssen, erhält den größten Anteil und zusätzliche Mittel durch vorgezogene Zahlungen. Die Oppositionsparteien in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik nahmen sofort die Gelegenheit wahr, ihre Regierungen an den leichtfertig zur Quasi-Staatsraison erhobenen Maximalforderungen zu messen. Das Klima eines unguten Referendumswahlkampfs zu Lasten der europäischen Idee zeichnet sich ab.

Falsche Kompromisse

Bei den Brüssel-Kopenhagener Finanzbeschlüssen kommt wieder eine ganze Reihe von Problemen der Europäischen Union zusammen, so beispielsweise die Vorliebe für – gemessen an Problemlösungen – falsche Kompromisse, die Reformen vermeiden und eifrig die Zeitschiene bedienen. Es wäre ohne Zweifel möglich gewesen, gegenüber den Beitrittsländern deutlich großzügiger zu sein und die Übergangsfristen drastisch zu verkürzen – aber eben nicht bei einer unreformierten Agrarpolitik. Alternativen liegen zu Hauf vor; Fischlers Vorschläge sind ein Teil der Lösung des Problems. Der zweite Teil wäre, die Grundfinanzierung der Landwirtschaft in der EU sicherzustellen, z.B. durch einen Fonds für die bedürftigsten Länder. Aber nationale Autonomie hinsichtlich der Sonderfinanzierung von Landwirtschaft aus sozial- bzw. wahlpolitischen Gründen wird nicht hinreichend politisch wahrgenommen und unterstützt.

Ein weiteres Problem: die Gleichzeitigkeit bei fehlender gleicher Ausrichtung von politischen Zielen wie Erweiterung, Agrarreform und Reform der Strukturfonds auf der einen Seite und mit diesen nicht vereinbare budgetäre Interessen auf der anderen. Wie, so ist zu fragen, können die EU-Mitgliedstaaten sich auf das Ziel der „Wiedervereinigung Europas“, die Vision eines friedlichen und wohlhabenden Europas verpflichten, ohne die finanziellen Folgen mit zu bedenken und mitzutragen? Oder soll die Weigerung Spaniens, Anteile an Strukturfondsmitteln abzugeben bzw. das Festhalten der britischen Regierung an ihrem Beitragsrabatt dahingehend interpretiert werden, dass in Spanien und Großbritannien quasi eine „natürliche“ deutsche Zuständigkeit für die Osterweiterung gesehen wird? Im Prinzip sind sich zwar alle einig, wie es im Gipfeldokument von Kopenhagen heißt, „das Vermächtnis von Konflikten und Spannungen in Europa zu überwinden“. Tatsächlich aber zeigt sich, wie der luxemburgische Ministerpräsident, Jean-Claude Juncker, etwas frustriert den Journalisten anvertraute: „Je einiger wir uns sind, dass wir keine Teppichhändler sein wollen, desto stärker kommt die erhöhte Basarstimmung auf.“11

Renaissance der Nationalstaaten

Drittens schließlich ist eine Renaissance der Nationalstaaten festzustellen. Für den mangelnden Willen zum Verzicht auf das Erreichen gemeinsamer europäischer Ziele ist inzwischen die schöne Formel gefunden worden, dass die nationale politische Ebene der europäischen an politischer Legitimität überlegen sei. Es gelte also vor allem hier politisch überzeugende Lösungen zu finden. Deshalb auch die Suche nach einer Rolle für nationale Parlamente in einer künftigen Verfassung der EU, deshalb auch die Vorschläge zur Stärkung des Rates. Weniger positiv formuliert, erhebt hier vielleicht doch der unreformierte Nationalstaat wieder sein Haupt. Ein schlechterer Zeitpunkt ist kaum denkbar.

Entsolidarisierung

Neben dem finanziellen Gerangel um Beiträge zur europäischen Integration wäre nun eine im Namen des politischen Realismus daherkommende, auch politische Entsolidarisierung gar mit institutioneller Unterfütterung ein wahrhaft famoses Vorbild für die Beitrittsländer. Nachdem diese mit Erfolg die sowjetische Vorherrschaft abgeschüttelt haben und sich dabei nicht zuletzt auf ihre nationalen Interessen zurückbesannen, fällt es den Beitrittsländern ohnehin nicht leicht, den europäischen Gedanken im Sinne des Souveränitätstransfers national zu verankern. Nicht nur die Völker, auch die Entscheidungsträger in den Beitrittsländern sind stärker an den wirtschaftlichen Perspektiven des Binnenmarkts als an der Europäisierung ihrer Politik mit möglichen Einschränkungen für ihre politische Handlungsfreiheit interessiert.

Der historische Fortschritt, den die europäische Integration bedeutete und weiterhin bedeuten kann, tritt nicht automatisch ein. Der Integrationswille in den Mitgliedstaaten muss täglich verdient und die europäische Integration muss kompetent und engagiert vermittelt werden. Die Rückkehr zum Nationalstaatsdenken unterminiert die EU, sie bereichert sie nicht, wie die neuen Bewunderer nationalstaatlicher Machtkontrolle in der EU meinen. Die Kapitulation vor der Integrationsverweigerung, die in Finanzfragen offensichtlich wird und nun auch andere Bereiche der EU erfasst, erschwert eine erfolgreiche Osterweiterung.

Welch seltsame Blüten diese Stimmung nationalstaatlicher Renaissance treiben kann, zeigte jüngst der Fall des irischen Nizza-Referendums, das mit massivem finanziellen Aufwand (die Pro-Kampagne gab zehn Mal so viel Geld aus wie die Nizza-Gegner) und personellem Einsatz sowie Hilfen aller Art bis hin zur Verlegung des Wahltags (traditionell Donnerstag, nun Sonntag) zur Erleichterung der europäischen Staats- und Regierungschefs von den Nizza-Gegnern verloren wurde. Der Fall Irland macht aber gerade die Bedeutung einer eigengewichtigen europäischen Identität deutlich. Ist Europa nur eine ökonomische Vorteilsgemeinschaft, wird die EU in Frage gestellt, wenn ökonomische Vorteile zu schwinden drohen. Im irischen Fall ist dies die nicht unrealistische Annahme, dass Irland nach einer langen Phase sehr erfolgreicher wirtschaftlicher Aufbauhilfe auf dem Weg zum Nettozahler ist.

Euroskepsis

Nach dem heutigen Stand der Dinge kann Irland durchaus paradigmatisch für die Beitrittsländer sein, denen nicht zufällig Irland häufig als Erfolgsmodell präsentiert wurde. Würde die irische Entwicklung Schule machen, wäre die Regel für Zukunftsprognosen: Je erfolgreicher, desto euroskeptischer. Und in Zukunft ist sogar noch mehr als Euroskepsis möglich: Im Verfassungsentwurf von Konventspräsident Valéry Giscard d‘Estaing steht eine Austrittsoption.12  In diesem Zusammenhang drängt sich der Verdacht auf, der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, könnte möglicherweise die Folgen nicht bedacht haben, als er in seiner Geheimstudie zur europäischen Verfassung unter dem Codenamen „Penelope“ allen Gegnern des Verfassungsentwurfs mit Rausschmiss drohte. Gibt es erst einmal den Präzedenzfall eines Austritts, wird die Europäische Union nicht kohärenter, sondern beliebiger.

Der Ernstfall Erweiterung hat nicht zuletzt deutlich gemacht, dass die jetzigen Mitgliedstaaten bereits auf dem Wege in eine andere Europäische Union sind. Die Osterweiterung kann beginnen. Sie führt in zehn Jahren, vielleicht auch schon früher, zu einer erneuten Finanzkrise der Union, und sicherlich wird sich bis dahin der Ruf nach einer EU-Steuer als Ausweg aus dem Finanzierungsdilemma verstärken. Die Zahl der Mitglieder der Europäischen Union wächst, die Fähigkeit ihrer Mitglieder, anders als in nationalen Kategorien zu denken, entwickelt sich dagegen zurück. Verzicht für die Sache Europas, gar für eine europäische Vision, ist angesichts der Bürgerferne der europäischen Institutionen und der nationalstaatlichen Interessenpolitik für politische Entscheidungsträger kein wählerwirksames Thema und wird es immer weniger sein.

Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei hat die Frage nach der „europäischen Identität“ aufgeworfen. Die Frage nach der Identität Europas außerhalb des geistigen Horizonts, den die Hoffnung auf eine Zone ökonomischer Prosperität absteckt, wäre zunächst weit dringlicher im Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union zu beantworten.

Anmerkungen

1  Vgl. Matthias Ecker-Ehrhardt, Die Deutsche Debatte um die EU-Osterweiterung – Ein Vergleich ihres ideellen Vorder- und Hintergrundes, Berlin 2002.

2  Vgl. The Independent, 3.12.2002, S. 8.

3  Vgl. Financial Times (FT), 9.10.2002, S. 11.

4  Daniel Gros, Health not Wealth: Enlarging the EMU, in: West European Politics, Jg. 25, Nr. 2, 2002, S. 141–151.

5  Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 13./14.12.1996 in Dublin, in: Internationale Politik (IP), 3/1997, S. 88 ff.

6  Vgl. Der Spiegel, 4.1.1999, S. 44.

7  Fischlers Vorschläge sind nachzulesen in seiner Rede vom 10.7.2002 in Brüssel, in: IP, 8/2002, S. 116 ff.

8  Vgl. Auszüge aus den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 24./25.10.2002 in Brüssel, abgedruckt in diesem Heft S. 79ff.

9  Vgl. FT, 26./27.10.2002, S. 1, sowie Ulrike Guérot, Annäherung in der Agrarpolitik. Trägt der deutsch-französische Kompromiss?, in: IP, 11/2002, S. 53–56.

10Vgl. The Economist, 2.11.2002, S. 40.

11 Vgl. Der Tagesspiegel, 14.12.2002, S.2.

12Auszüge aus dem Verfassungsentwurf sind  abgedruckt S. 87 ff.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 3 - 10

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