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01. Nov. 2007

Welchen Weg schlägt die AKP ein?

Die Türkei zwischen traditionellem Kemalismus und liberalen Reformen

Der Wahlerfolg der regierenden AKP vom 22. Juli 2007 löste eine breite Debatte in der Presse und den Medien aus, die sich auf die Hintergründe und Ursachen dieses Sieges konzentrierte. Interessant ist, dass trotz ideologisch-politischer Differenzen vor allem folgende Aspekte als bedeutend hervorgehoben wurden: die erzielten wirtschaftlichen Erfolge, der Reformprozess und die massiven Einmischungen des Militärs in die Politik (bei der Wahl des Staatspräsidenten) in Form von Memoranden (zuletzt vom 27.4.2007).

In diesem Sinne äußerten sich beispielsweise die nationalistisch-islamistisch orientierte und regierungsnahe Tageszeitung Türkiye (23.7.2007) oder die linksliberale, regierungskritische Tageszeitung Radikal (23.7.2007). Gleichzeitig wurde die AKP-Regierung von liberalen bis konservativen Tageszeitungen aufgefordert, bei der künftigen Regierungsarbeit politische und gesellschaftliche Polarisierungen zu vermeiden und auf die wichtigen Themen Laizismus und Einheit Rücksicht zu nehmen. Diese Aufforderungen spiegeln die trotz des Wahlsiegs der AKP weiterhin bestehende Skepsis und das Misstrauen gegenüber der Partei wider.

Bereits im Vorfeld der Wahl des Staatspräsidenten im April 2007 versuchte der türkische Generalstab, der sich als Hüter der kemalistischen Republik und ihrer Grundsätze versteht, massiven Einfluss auszuüben, um die Wahl von Abdullah Gül zu verhindern. Das Militär und die säkularen Eliten des Landes werfen der AKP vor, die in der Verfassung festgeschriebene Trennung von Religion und Staat zu unterlaufen und die Türkei schleichend zu islamisieren. Am 12. April 2007 warnte der Generalstab auf seiner Homepage davor, dass einige Kräfte im Land versuchen würden, den Laizismus zu zerstören. Dies werde die Armee als Hüterin der Republik niemals zulassen. Die größte türkische Tageszeitung Hürriyet veröffentlichte am 13. August ein Interview mit dem ehemaligen Generalstabschef Hilmi Özkök, der die AKP ausdrücklich davor warnte, auf die Kandidatur von Gül zu bestehen. Hürriyet mahnte, dass der Staatspräsident die gesamte Türkei repräsentiere und es nicht richtig sei, diesen Posten so polarisierend zu besetzen.

Für die kemalistischsäkularen Eliten des Landes war es undenkbar, dass der Sitz des Staatspräsidenten als die Bastion der alten säkularen Ankara-Eliten nunmehr einen frommen Muslim als Hausherrn beherbergen sollte, der auch noch von einer Kopftuch tragenden Ehefrau begleitet wird. „Das Kopftuch ist auf dem Weg in den Präsidentenpalast“, hieß es in Cumhuriyet (14.8.2007), die im Namen des Kemalismus als letzte große türkische Zeitung konsequent regierungsfeindlich berichtet und kommentiert.

Türkiye (28.8.2007) zitierte Generalstabschef Yasar Büyükanit: „Die Bestrebungen der Separatisten, die die Einheit des Landes ablehnen, und die ständigen Bemühungen der bösen Zentren, die die laizistische Struktur der Republik unterminieren, werden von der Türkischen Nation ganz klar gesehen. Der Nationalismus von Atatürk und der Laizismus werden diese bösen Zentren mit dem Licht der Wissenschaft und der Vernunft unterdrücken und uns zu einer hellen Zukunft führen.“ Doch auch diese Warnung des Generalstabschefs konnte nicht verhindern, dass Abdullah Gül im dritten Wahlgang zum elften Staatspräsidenten der Türkei gewählt wurde.

In seiner Antrittsrede stellte Gül klar: Er werde sich an die „Grundsätze der Republik“ halten. „Ohne Laizismus gibt es keinen sozialen Frieden“, sagte er und erklärte: „Ich werde die Religionsfreiheit und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz achten.“ Die Wahl des Staatspräsidenten war zum Symbol für die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen dem Generalstab und der AKP geworden, aus der die AKP als Siegerin hervorging. Dass Büyükanit und andere Generäle der Vereidigung Güls im Parlament fernblieben oder bei einer Militärzeremonie das Protokoll missachteten, indem sie nicht vor dem Staatspräsidenten salutierten, waren Versuche der eigenen „Gesichtswahrung“.

Doch so langsam lässt die Spannung zwischen Staatspräsident und Armeeführung nach. Generalstabschef Büyükanit deutete bei einigen Empfängen an, dass die Armee den neuen Präsidenten trotz aller Vorbehalte akzeptiere. Diese Äußerungen des Generalstabschefs wurden von den Tageszeitungen aller Couleur mehrheitlich als Zeichen für die Überwindung der Spannungen zwischen der Armee und Gül bzw. der AKP gewertet. Insgesamt aber werden von den Medien nunmehr jedes Händeschütteln und jede Geste zwischen Gül und Büyükanit in ausführlicher Form analysiert und (über)bewertet.

Ein weiteres zentrales Thema der Tageszeitungen ist die Kurdenpolitik, insbesondere die Frage einer grenzüberschreitenden militärischen Bekämpfung der kurdischen PKK. Der Generalstab versuchte auch über dieses Thema, Einfluss auszuüben und die AKP zu schwächen. Der Generalstabschef forderte die AKP-Regierung wiederholt auf, die politische Direktive für einen militärischen Einmarsch im kurdischen Nordirak zur Bekämpfung der PKK auszusprechen, doch die AKP tat dies nicht. In der Presse wurden diese Aufforderungen immer wieder aufgenommen, wobei je nach Regierungsnähe oder -ferne und politischer Orientierung Befürworter (z.B. Türkiye, Cumhuriyet) und Gegner (z.B. Radikal, Milliyet) eines militärischen Einmarschs mit unterschiedlichen Pro- und Contra-Argumenten hantierten und entweder die Position des Generalstabs oder der AKP-Regierung vertraten. Unterstützung erhielt das Militär von den Oppositionsparteien CHP und MHP. Gefechte zwischen der türkischen Armee und der PKK am 7. Oktober 2007, bei denen 13 Soldaten starben, ließen die Emotionen wieder hochsteigen. Nach einem Dreiergipfel (Gül, Erdogan und Büyükanit) gab Ministerpräsident Erdogan grünes Licht für Militäreinsätze im irakischen Grenzgebiet. Verteidigungsminister Vecdi Gönül betonte, dass die Armee für größere militärische Operationen über die Grenze hinaus zwar die Erlaubnis des Parlaments einholen müsse (die das Parlament dann am 17. Oktober erteilte), nicht aber für die so genannte „heiße Verfolgung“ von fliehenden Terroristen. Hürriyet (11.10.2007) berichtete mit emphatischen Schlagzeilen über die Demonstrationen, die von rechten Parteien und nationalistischen Verbänden organisiert wurden.

Kritische Stimmen gegen einen grenzüberschreitenden militärischen Einmarsch gibt es aber auch. So kommentierte Can Dündar, Kolumnist von Milliyet (9.10.2007), dass eine grenzüberschreitende Operation zur Entstehung neuer Terrorbrennpunkte im Irak führen kann. Semih Idiz, ebenfalls Milliyet-Kolumnist und Chefredakteur von Radikal, warnte davor, in die Falle der PKK zu tappen, die die Aktionen der Türkei für eine grenzüberschreitende Operation zu erzwingen versuche, die sogar zu einer Auseinandersetzung internationalen Ausmaßes führen könne. Trotz vieler Warnungen, auch vom US-Außenministerium, meldete Hürriyet am 10. Oktober, dass die türkische Armee damit begonnen hat, Dörfer im Nordirak unter Beschuss zu nehmen, in denen Stellungen der PKK vermutet werden.

Bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung scheinen Spannungen zwischen dem Generalstab und der AKP wieder vorprogrammiert zu sein. Inzwischen veröffentlichen viele Zeitungen Auszüge aus einem neuen Verfassungsentwurf des fünfköpfigen Teams unter Leitung des renommierten Verfassungsrechtlers Ergun Özbudun. Die neue Verfassung soll bis Ende des Jahres im Parlament debattiert und im kommenden Jahr zur Volksabstimmung vorgelegt werden. Einige Auszüge rufen in der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP vehemente Kritik hervor. Die CHP bemängelt die Methode der AKP bei der Ausarbeitung des Entwurfs, CHP-Chef Deniz Baykal kritisiert das Fehlen von Vertretern bekannter Rechtsfakultäten und Rechtsinstitutionen in dem Ausschuss.

Eines der umstrittensten Themen ist das Kopftuchverbot in den Universitäten. Trotz des starken Widerstands der säkularen Elite und des Militärs will Ministerpräsident Erdogan das Kopftuchverbot an den Universitäten aufheben. Zugleich bekräftigte Erdogan, die neue Verfassung werde einen demokratischen, säkularen und sozialen Rechtsstaat garantieren. Der ehemalige Generalstaatsanwalt am Kassationsgerichtshof Sabih Kanadoglu sagte hingegen dem türkischen Nachrichtensender NTV (29.8.2007), dass der Verfassungsentwurf der AKP-Regierung ein ziviler Putsch sei. Er bezeichnete die Vorbereitungen für eine neue Verfassung als „ein Unternehmen islamistischer Oligarchie“.

Die konservative Tageszeitung Hürriyet (16.9.2007) schrieb, dass „jeder Kritiker der Religion um sein Leben fürchten müsse“ und bezeichnete den AKP-Verfassungsentwurf auch als „zivilen Putsch“. „Die Armee kommt und geht wieder, aber das hier kann ewig bleiben“, warnte die Zeitung. Als Beispiel nannte sie die von religiösen Reisenden erzwungenen „Gebetspausen“ in Reisebussen. Das Kopftuch werde wieder zum Symbol der Unfähigkeit der Türken zum Konsens, seufzte der Kolumnist Cüneyt Ülsever in Hürriyet (19.9.2007). Dabei geht unter, dass sich der AKP-Parteivorstand dafür ausspricht, dass sich Schüler künftig aus dem Religionsunterricht abmelden können und dass andere Unterrichtssprachen, wie das Kurdische, möglich sein sollen. Haluk Sahin von der linksliberalen Radikal (14.9.2007) beschrieb, dass dieser Prozess für liberale Kreise, die der AKP nahestehen, eine große Chance für eine demokratische Türkei sei. Aber für nationalistische Kreise, die der CHP nahestehen, sei das Ziel die Zerstörung der atatürkschen Grundsätze und die Bildung eines Rahmens für einen gemäßigten islamischen Staat. Sahin kritisierte den Verfassungsentwurf von der AKP-Regierung als unzureichend und forderte, dass die Türkei eine moderne und freiheitliche neue Verfassung brauche.

Die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen traditionellen Kemalisten und liberalen Kräften geht weiter und ist lange noch nicht entschieden. Sollte die AKP es schaffen, eine Verfassung im gesellschaftlichen Konsens zu erarbeiten, die eindeutig und ausschließlich auf den Grundsätzen einer liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie basiert, dann wird sie damit nicht nur das Land auf dem Wege der „Europäisierung“ voranbringen, sondern auch die eigene Glaubwürdigkeit (also keine Agenda zur Islamisierung des Staatswesens) unter Beweis stellen. Allerdings ist dieses Unterfangen mit erheblichen Hürden verbunden, wie bereits laufende Kontroversen um den Verfassungsentwurf zeigen. Die traditionellen Kemalisten in Politik und Gesellschaft werden mit Sicherheit nicht so schnell aufgeben. Auch wird es für die AKP nicht leicht werden, trotz des Widerstands eines Teiles der eigenen Basis den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.

CEYHUN KARA, geb. 1965 in der Türkei, arbeitet seit 17 Jahren als freier Journalist für Radio, Printmedien und TV.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S. 126 - 129.

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