Wege zur Innovation
China arbeitet intensiv daran, sich von der Werkbank der Welt zur Innovationsökonomie zu entwickeln. Nur steht es sich oft selbst im Weg, weil die Politik auf Kontrolle nicht verzichten mag. Entstehen aber Freiräume, entwickeln sich auch enorme Potenziale, vor allem in der IT-Branche, der Medizintechnik und der Biotechnologie.
Die Volksrepublik China ist Patentweltmeister und König der Raubkopierer. Man baut digitalisierte Fabriken, gleichzeitig wird in den meisten chinesischen Produktionsstätten noch von Hand gefertigt. Man träumt vom „Internet Plus“, bremst aber die Informationsströme mit Zensur und Kontrolle. Manche innovativen Bereiche wie die IT-Start-up-Szene boomen, doch in weiten Teilen der Wirtschaft sucht man bisher vergebens nach bahnbrechenden Produktentwicklungen. Ohne gesteigerte Innovationsfähigkeit droht der chinesischen Wirtschaft jedoch eine harte Landung.
Die Werkbank der Welt schließt ihre Tore. Jahrzehntelang hat Chinas scheinbar unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften die Welt mit Massenprodukten versorgt. Riesige Fabrikhallen, in denen Tausende von Arbeiterinnen Kuscheltiere ausstopfen, Kleidung nähen oder Schuhe fertigen – das alles gehört untrennbar zu unserem Bild von China. Das Land hat diesen Wettbewerbsvorteil ausgiebig genutzt. Eine lange Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums war der Lohn. Doch der Exporteinbruch im Zuge der globalen Finanzkrise legte das Unausweichliche offen: Chinas Zeit als Billiglohnland geht dem Ende entgegen. Löhne steigen, der Kostenvorteil einer Produktion in China ist weitgehend geschmolzen. Die Alterung der Gesellschaft wird Arbeitskraft in Zukunft deutlich verteuern. Wachstum durch Mehrarbeit ist keine Option für eine wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft.
China will nicht – wie viele Länder zuvor – in dieser Phase wirtschaftlicher Entwicklung stecken bleiben. Es tritt die Flucht nach vorne an und unternimmt enorme Anstrengungen, um den großen Sprung zu schaffen, an dem bereits so viele scheiterten: den Sprung in ein Wirtschaftsmodell, das Wachstum aus höherer Wertschöpfung, aus Effizienz und Produktionssteigerung schafft. Der Schlüssel hierzu liegt in „eigenständiger Innovation“. Bereits seit Jahren kommt kein Entwicklungsplan, keine Regierungserklärung mehr ohne dieses Schlagwort aus. Chinas Investitionen in die eigene Innovationsfähigkeit sind riesig. Erste Erfolge sind sichtbar, in vielen Sektoren holt China auf. Doch von der technologischen Aufholjagd zur eigenständigen Neuentwicklung bleibt ein weiter Weg. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis China auch diese Hürde nimmt, oder verhindert das chinesische System echte Kreativität, Einfallsreichtum und Erfindergeist?
Verordnete Innovation mit einer Prise Wettbewerb
Rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investierte China 2013 in Forschung und Entwicklung und lag damit über dem europäischen Durchschnitt. Doch China investiert nicht nur, es versucht auch, Innovationen zu planen. Zentralstaatliche Programme wie der „Mittel- und langfristige Rahmenplan für die wissenschaftliche und technologische Entwicklung (2006–2020)“ legen Investitionsziele fest und benennen gleichzeitig ganz konkrete Schlüsseltechnologien, auf die sich Unternehmen, Universitäten und Forschungsinstitute konzentrieren sollen. Dies schränkt ein, gibt aber zugleich Planungssicherheit. Denn mit staatlicher Förderung geht die Politik auch eine langfristige Selbstverpflichtung ein, günstige Marktbedingungen für den Absatz der geförderten Technologien zu schaffen. Die Belohnung für Forschung und Entwicklung in den festgelegten Bereichen gilt damit als sicher, das Risiko als klein. Trotz dieser Anstrengungen in den vergangenen Jahren blieb der innovative Fortschritt ernüchternd gering. Denn wer sich der langfristigen Unterstützung des Staates sicher sein kann, hat wenig Anreize, Innovationen voranzutreiben und wettbewerbsfähige Ergebnisse zu erzielen.
Die zentrale Bedeutung von Wettbewerb als Treiber von Innovation ist der Führung durchaus bewusst. Um Neuentwicklungen zu unterstützen, muss es sich lohnen, immer einen Schritt schneller als die direkte Konkurrenz zu sein. Diese Dynamik will auch die chinesische Regierung nutzen. Nach dem Vorbild des Silicon Valley sollen zum Beispiel Hochtechnologieparks Abhilfe schaffen. Dort versucht China die lokale Vernetzung von Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen zu stärken und gleichzeitig Start-ups und innovativen Privatunternehmen günstige Bedingungen zu bieten. Darauf beruht zum Teil der Erfolg der äußerst agilen und erfolgreichen Unternehmen der Informations- und Kommunikationsbranche. Die IT-Start-up-Szene erlebt momentan einen wahren Gründerboom und ist zweifellos einer der offensten und innovativsten Bereiche der chinesischen Wirtschaft.
Ohne Wettbewerb keine Innovation – darin ist sich die chinesische Regierung mit anderen Ländern einig. Doch für China folgen hieraus keineswegs uneingeschränkt offene Märkte und ungebremster internationaler Wettbewerb. Vielmehr sieht die Regierung zu starken Wettbewerb aus dem Ausland nach wie vor als Gefahr für die Entwicklung eigenständiger Innovationsfähigkeit. Damit beraubt sich China zwar eines Teils der innovativen Dynamik, die aus dem globalen Wettbewerb der Ideen entsteht. Gleichzeitig hat der Schutz eigener Industrien auch Erfolge erzielt. Chinas starke Internetunternehmen wie Alibaba, Tencent und Baidu wären wohl schon zu Beginn zerschlagen oder aufgekauft worden, wenn der Staat sie nicht vor schlagkräftigen Wettbewerbern wie Google und Co. geschützt hätte. Alibaba wäre heute nicht so innovativ, wenn es nicht auf dem heimischen Markt einem intensiven Wettbewerb chinesischer Gegenspieler ausgesetzt gewesen wäre. Um einen solchen innerchinesischen Wettbewerb zu entfesseln, ist der Rückzug des Staates aus dem Markt unabdingbar. In der Internetbranche hat dies funktioniert. In anderen Bereichen der Wirtschaft ist eine solche Lockerung staatlicher Kontrolle für Peking jedoch weiterhin keine Option.
Patentweltmeister mit wenig Erfindergeist
Die politischen Ziele zur Innovationssteigerung führen in China nicht selten zu skurrilen Ergebnissen. Ein Beispiel hierfür sind Patente: Anhand der Anzahl von Patenten bemisst China, ob ein Staatsunternehmen oder Forschungsinstitut die Zielvorgaben für „eigenständige Innovationen“ erfüllt. Dies hat zu einer wahren Patentflut geführt, die China innerhalb weniger Jahre zum Patentweltmeister gemacht hat. Wurden 2008 rund 400 000 Patente erteilt, waren es 2013 bereits mehr als 1,3 Millionen. Die beeindruckenden Zahlen gaukeln einen Erfolg der staatlichen Innovationsstrategie jedoch nur vor: Die Patentlawine besteht in erster Linie aus Gebrauchsmustern und Designs, oftmals in viele Einzelpatente zerlegt, um die Zahl hochzutreiben. Nach wie vor finden sich wenige ernstzunehmende Erfindungen unter den chinesischen Patenten.
Positiv jedoch ist, dass sich der Schutz geistigen Eigentums in China verbessert hat. Das liegt vorwiegend an der wachsenden Zahl innovativer chinesischer Unternehmen, die am effektiven Schutz ihrer eigenen Patente interessiert sind und die ihren Einfluss nutzen, um auf eine Verbesserung des Systems zu drängen. „Nur mit Schutz geistigen Eigentums können wir voranschreiten, erst dann werden die Menschen zu tieferer Forschung bereit sein“, sagte Song Liuping, Vizepräsident des Telekommunikationsausrüsters Huawei.
Die Zahl der Patentrechtsklagen, die an Zivilgerichten verhandelt wurden, hat sich in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht. Fälle mit ausländischer Beteiligung spielen hierbei die weitaus geringere Rolle. Die Anzahl der Fälle von Streitigkeiten zwischen chinesischen und ausländischen Firmen belief sich 2014 auf rund 2000; dagegen stehen rund 96 000 Verhandlungen zwischen chinesischen Unternehmen. Zur Kehrseite dieser Entwicklung gehört, dass das Patentrechtssystem durch die plötzliche Schwemme von Klagen hoffnungslos überlastet ist. Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis sich ein reibungsloser Ablauf eingespielt hat.
Trotz der Fortschritte im Innovationsschutz bleibt Technologieraub ein großes Thema. Technologisches Wissen in China wirkungsvoll zu schützen, ist weiterhin eine anspruchsvolle Aufgabe. Eine Schwachstelle, die sich kaum schließen lässt, ist die Abwanderung von F&E-Mitarbeitern. Diese werden oft für hohe Summen von der Konkurrenz abgeworben. Die Weitergabe von Informationen ist in diesen Fällen kaum kontrollierbar. Dies führt dazu, dass oft nur ein kleiner Kreis von Personen an der Entwicklung von Produkten beteiligt ist. Doch gerade in mittelständischen Unternehmen ist der kontinuierliche Austausch mit Produktion und Vertrieb für die Produktentwicklung von größter Bedeutung. Die internen Kommunikationskanäle zu kappen, schadet der Innovationsfähigkeit des Unternehmens.
Chinas Bildungssystem behindert Innovationskraft
Im Bildungs- und Wissenschaftssystem, das die Grundlage für Innovationen legt, hat die Politik enorme Herausforderungen zu bewältigen. Intransparenz und Korruption bei der Mittelvergabe sowie ineffektiver Ressourceneinsatz an Universitäten hemmen deren Leistungsfähigkeit. Zwar gehen eine Reihe erfolgreicher und innovativer chinesischer Unternehmen auf „Spin-offs“ von Universitäten zurück. Angesichts der großen Summen, die der Staat in die Schnittstelle zwischen Forschung und Unternehmen steckt, gelingt der Transfer von Forschungsergebnissen in marktreife Produkte jedoch zu selten. Zudem ist das prüfungsorientierte Bildungssystem, in dem noch immer das Auswendiglernen wichtiger für den Erfolg ist als der kreative Umgang mit Wissen, ein Hindernis auf dem Weg in eine innovationsfähigere Gesellschaft.
Der Reform des Bildungs- und Wissenschaftssystems bemisst die chinesische Führung höchste Priorität zu. 2014 hat sie ein Programm initiiert, das an den grundlegenden Strukturen des Wissenschaftssystems ansetzt. Forschungsförderung soll professionalisiert, die Mittelvergabe und Ergebnisevaluation sollen transparenter und effektiver werden. Auch Reformen der Hochschulaufnahmeprüfungen und der berufsqualifizierenden Ausbildung sind in Arbeit. Am Problembewusstsein und Reformeifer mangelt es also nicht. Trotzdem untergräbt die Regierung den Erfolg ihrer eigenen Reformen. Sie gefährdet die Bemühungen um ein innovativeres Bildungs- und Wissenschaftssystem durch eine zuletzt massiv verschärfte Kontrolle von Ideen und Kreativität. Die Einschränkung „ausländischen Gedankenguts“ an den Universitäten, die immer strengere Kontrolle und Zensur der Informationsflüsse insbesondere im Internet: Solch gravierende Eingriffe in die intellektuelle Freiheit lassen sich nicht mit dem Wunsch nach „eigenständigen Innovationen“ vereinbaren.
Erstarkende Konkurrenten verändern den globalen Wettbewerb
China arbeitet unermüdlich an Lösungswegen, um seine Innovationskraft zu stärken. Auch wenn es sich dabei zum Teil selbst im Weg steht, weil es die Spannungen zwischen politischer Kontrolle und innovativen Freiräumen nicht auflöst: Überall wo die Regierung Freiräume zulässt, tritt ein bemerkenswertes innovatives Potenzial zutage. In Zukunftsbranchen wie der Informations- und Telekommunikationstechnologie, der Medizintechnik und der Biotechnologie schließt China rasant auf und ist dabei, den Sprung zur globalen Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen. Innovationen gelingen zwar noch nicht systematisch und flächendeckend. Doch die punktuellen Erfolge zeigen, wie schnell China in der Lage ist, den Sprung zu einem auf Innovation basierenden Wachstum zu schaffen.
Wo immer dies gelingt, bedeutet es für den Rest der Welt vollkommen neue Wettbewerbsbedingungen – nicht nur auf dem chinesischen, sondern auch auf internationalen Märkten. Chinesische Unternehmen sind besonders unangenehme Konkurrenten: Sie werden nicht nur innovativer, sondern erhalten weiterhin Rückendeckung durch die aktive Industriepolitik der Regierung. Bisher hielt die Innovationslücke die chinesische Konkurrenz auf Abstand. Je mehr sich diese schließt, desto schärfer wird der Wettbewerb. Darauf sollten deutsche und europäische Politik und Wirtschaft vorbereitet sein.
Härtere Konkurrenten sind aber auch attraktivere Partner. Die wachsende Innovationskraft und Internationalisierung chinesischer Unternehmen eröffnen zahlreiche Möglichkeiten für neue, durchaus vielversprechende Partnerschaften. Chinesische Unternehmen haben die Fähigkeit, Technologie für verschiedene Märkte anzupassen – in China und in weniger entwickelten Ländern. Dadurch können sie wiederum interessante Mitstreiter sein, um Drittmärkte im globalen Süden oder entlang der „neuen Seidenstraße“ zu erschließen. In einigen Zukunftsbranchen werden sich die Verhältnisse bald umdrehen. Dann werden chinesische Unternehmen nach europäischen Partnern suchen, um ihre eigenen Technologien besser auf den Märkten Europas platzieren zu können.
Björn Conrad ist stellvertretender Direktor Forschung bei MERICS.
Mirjam Meissner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei MERICS.
IP Länderpoträt 2, Juli-Oktober 2015, S. 24-29