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01. Juli 2006

Weder Partner noch Gegner

Auch die USA suchen nach dem richtigen Umgang mit Russland

Beziehungen sind stets relativ. Zur Zeit ist es in Mode, das amerikanisch-russische Verhältnis als „Kalten Frieden“ zu beschreiben oder vom Aufziehen eines neuen Kalten Krieges zu sprechen. Doch sollte man die Dinge im Kontext betrachten: Das Russland von heute ist nicht die Sowjetunion, und die Beschwerden des Westens über Russlands Demokratielücke oder über die Divergenzen beim Umgang mit Herausforderungen wie dem iranischen Atomprogramm reflektieren Erwartungen, die wir nicht einmal in der Blütezeit unter Michail Gorbatschow hatten. Somit wird deutlich, dass die Hoffnung auf eine Sonderbeziehung, wie sie die Vereinigten Staaten mit engen Partnern wie Großbritannien, Deutschland oder Japan pflegen, zwischen Washington und Moskau bisher nicht realisiert wurde. Man kann jedoch ebensogut sagen: „Russland ist sicherlich kein Alliierter der Vereinigten Staaten, aber genauso wenig benimmt es sich wie ein Gegner.“1

In Washington besteht ein parteiübergreifender Konsens darüber, dass der Grund für Russlands fortgesetzte Distanz zu den USA die autoritären Bestrebungen der Regierung Putin sind. Anders ausgedrückt – so die Argumentation – würde die russische Außen- und Innenpolitik wesentlich stärker mit amerikanischen Präferenzen übereinstimmen, wenn die liberalen Parteien in Russland an der Macht wären. Aber dieser Ansatz hat seine Grenzen. Ein offenerer und transparenterer Entscheidungsprozess in der Außenpolitik hätte vielleicht geholfen, Pannen wie die Unterbrechung russischer Gaslieferungen an die Ukraine Anfang des Jahres zu vermeiden. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, ein größerer Grad an Demokratie im postsowjetischen Russland würde zu einer bedeutenden Neuorientierung in dessen Außenpolitik führen.

Sicher glauben einige amerikanische Politiker wie Vizepräsident Dick Cheney, die russische Unterordnung unter amerikanische Politikvorgaben in den neunziger Jahren beweise, dass ein sich demokratisierendes Russland pro-amerikanischer wäre. Faktisch ist das russische Nachgeben bei zahlreichen Themenkomplexen wie der NATO-Osterweiterung oder den Interventionen auf dem Balkan aber eher auf Moskaus damalige Schwäche als auf seinen Liberalismus zurückzuführen. Die Erholung der russischen Wirtschaft und hohe Preise für Energie und andere Rohstoffe haben der Regierung heute 225 Milliarden Dollar an Währungsreserven und einen mit über 60 Milliarden Dollar ausgestatteten Stabilisierungsfonds eingebracht. An westlichen Standards gemessen ist die russische Volkswirtschaft zwar vielleicht immer noch unterentwickelt – doch den eurasischen Raum dominiert sie allemal. Mehr als 75 Prozent des BIP im postsowjetischen Raum erzeugt Russland.

Wladimir Putins Bemühungen, die Macht weiter zu zentralisieren und den russischen Staat zu rekonstruieren, werden von der russischen Gesellschaft nach wie vor unterstützt, auch wenn es fortgesetzte Unzufriedenheit über die Korruption und Besorgnis über eine noch zu schwach ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit gibt, die keine effektive Kontrolle des Verwaltungsapparats gewährleisten kann. Gleichfalls belegen Meinungsumfragen, dass es wenig Enthusiasmus für jegliche Art „bunter“ Revolutionen in Russland gibt. Besonders gering ist das Potenzial hierfür bei der gebildeten Jugend, die in Putins Politik die Fundamente für Wohlstand und wachsende Chancen sieht. Der Abschwung der ukrainischen Wirtschaft nach der Orangenen Revolution hat sie in dieser Sichtweise noch bestärkt. Ebenso bedeutsam ist, dass von Russlands wichtigsten Wirtschaftspartnern Deutschland und China Signale kommen, man ziehe eine konsolidierte, staatlich gelenkte Reform einer Oligarchen-Ökonomie vor. Wenigen Amerikanern war bewusst, dass es die Deutsche Bank war, die für Gazprom eine Konsolidierungsstrategie für die russische Energieindustrie entworfen hat. Kontinentaleuropäern und Ostasiaten ist es in der Tat lieber, wenn der russische Staat das Kommando in der Wirtschaft hat.

Aber der wahre Grund für die Verschlechterung des amerikanisch-russischen Verhältnisses besteht meiner Ansicht nach weniger im Demokratieniveau in Russland, in dessen tendenziösem Verhalten seinen Nachbarn gegenüber oder in seiner Zurückhaltung in Sachen Verhängung harter Sanktionen gegen den Iran, sondern vielmehr in der Tatsache, dass Russland ein „postamerikanisches Land“ geworden ist. Das bedeutet nicht, dass Russland keine wichtigen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hat. Noch immer gibt es zahlreiche globale Probleme, bei denen Russland und die USA eng zusammenarbeiten, etwa bei der Bekämpfung der Proliferation oder des internationalen Terrorismus.

Doch Amerika ist kein Schlüsselstaat mehr für Russland, und es wird von vielen Russen auch nicht mehr als Modell für die Gestaltung ihrer Innenpolitik und ihrer Institutionen betrachtet. Auf der Ebene der tagtäglichen Dinge, die jede Beziehung formen – Handel, persönlicher Austausch usw. – sind das russisch-europäische und besonders das russisch-deutsche Verhältnis den Russen inzwischen wesentlich wichtiger. Der Gipfel zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Wladimir Putin in Tomsk im April und der anschließende EU-Russland-Gipfel in Sotschi waren für die unmittelbaren Bedürfnisse der russischen Bürger viel relevanter – von wichtigen neuen Wirtschaftsabkommen bis hin zu Reiseerleichterungen zwischen Russland und der EU – als die verbalen Ausbrüche des amerikanischen Vizepräsidenten in Vilnius.

Natürlich gibt es in Washington auch Leute, die glauben, ein wieder erstarkendes Russland, der wachsende autoritäre Trend unter Putin und die immer größer werdende energiepolitische Macht des Landes bedrohten die Fähigkeit der USA, ihre vitalen nationalen Interessen zu sichern. In der Konsequenz müsse man Russland durch ein Netz aus proamerikanischen Staaten in seiner Peripherie eindämmen. Die Bereitschaft, die Kosten einer solchen Strategie zu tragen, ist allerdings nicht sehr ausgeprägt.

Putins Russland ist ein schwieriger Partner für die USA, aber jene Politiker und Experten, die dafür eintreten, Moskau gegenüber eine harte Linie zu verfolgen, müssen entweder darlegen, dass Russlands Unterstützung keine Bedeutung bei der Bekämpfung von Bedrohungen amerikanischer Sicherheit hat oder aber erklären, wie die USA wichtige russische Sorgen ignorieren und trotzdem eine ausreichende Beachtung ihrer Prioritäten sicherstellen können.

Russland ist weder Alliierter noch Gegner Amerikas, was sich in näherer Zukunft auch nicht ändern wird. Die Herausforderung besteht darin, in einer solchen Grauzone ein funktionierendes Verhältnis zwischen Moskau und Washington zu schaffen.

Dr. NIKOLAS K. GVOSDEV, geb. 1969, ist Herausgeber von The National Interest und Senior Fellow für Strategische Studien am Nixon Center in Washington D.C. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, darunter „The Receding Shadow of the Prophet: The Rise and Fall of Radical Political Islam“ (2004, mit Ray Takeyh).

  • 1Nikolas K. Gvosdev und Dimitri K. Simes: Rejecting Russia?, The National Interest, 2/2005.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 22‑23

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