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01. Nov. 2012

Was wurde denn nun entschieden?

Ein Protokoll des historischen EU-Gipfels vom 28. und 29. Juni 2012

Der Gipfel Ende Juni war einzigartig: EU- und Euro-Zonen-Treffen vermischten sich, die innen- und europapolitische Debatte überlappten sich wegen der Bundestagsabstimmungen über Fiskalpakt und ESM wie noch nie. Italiens Regierungschef brachte die Planung vollends durcheinander – und die Medien fragten sich, was überhaupt beschlossen wurde.

Der Gipfel ist ein Lehrstück über die Informationsprobleme der europäischen Politik in verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten. Wegen seines einzigartigen Charakters sollen Ablauf und Weitergabe der Information nachgezeichnet werden. Grundlage sind Gespräche mit rund einem Dutzend der Beteiligten sowohl in Brüssel wie Berlin.1

Die Crux mit dem Erwartungsmanagement – die Ausgangslage

Anders als vor den meisten anderen EU-Gipfeln befindet sich die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem 28. Juni eher in einer Position der Defensive. Auf europäischer Ebene wollen Italien und Spanien unbedingt Erleichterung angesichts der hohen Risikozuschläge für ihre Staatsanleihen. Der innenpolitisch unter Druck stehende italienische Ministerpräsident Mario Monti hatte bereits eine Woche zuvor auf dem G-20-Gipfel im mexikanischen Los Cabos gefordert, dass die Europäische Zentralbank automatisch in den Kauf von Staatsanleihen einsteigen solle, wenn die Zinshöhe eine bestimmte Schwelle überschreitet. Die spanische Regierung hofft, mit der Bankenunion noch im Herbst leichten Zugang zu Mitteln des neuen Euro-Rettungsschirms ESM zu bekommen. Außerdem soll der bevorzugte Gläubigerstatus des ESM bei den Bankenhilfen für Spanien fallen.

Innenpolitisch steckt Merkel in einem Dilemma: Die Opposition hat die entscheidende Abstimmung über Fiskalpakt und ESM auf den Nachmittag des 29. Juni verschoben, denn sie erwarten von Angela Merkel in Brüssel ein verstärktes Engagement für Wachstum. Da die Kanzlerin schon aus verfassungsrechtlichen Gründen beide Projekte mit den Stimmen von Regierungskoalition und Opposition beschlossen haben möchte, weiß sie, dass sie „auf Bewährung“ nach Brüssel fährt. Die Forderung der Opposition zu erfüllen, dürfte allerdings nicht ganz so schwierig sein: Für den Gipfel ist die Verabschiedung des neuen europäischen Wachstumspakts geplant.  

Aus Sicht der Bundesregierung entspannt sich in den Tagen vor dem Gipfel wenigstens die europäische Debatte, denn Frankreichs Präsident François Hollande betont, dass keine neuen Instrumente notwendig seien. Die Wünsche der Spanier und Italiener erwähnt sie in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag am 27. Juni nicht. Mit Blick auf die Forderungen der Opposition spricht sie ausführlich über beschäftigungsfördernde Maßnahmen und betont dann nur: „Zumindest die systemrelevanten Banken sollten künftig einer verstärkten gemeinsamen Aufsicht unterliegen. Hierzu müssen wir einen konkreten Fahrplan entwickeln und bald die ersten Schritte gehen.“

Auch in dem traditionellen Regierungs-Briefing zum EU-Gipfel am 27. Juni entsteht eher der Eindruck, dass in Brüssel keine neuen Grundsatzentscheidungen fallen würden. „Ich glaube nicht, dass es jetzt beim Europäischen Rat förmliche Beschlüsse dazu geben kann, wer dieses oder jenes macht, sondern es geht darum, auch in dieser Frage ähnlich wie bei den anderen Fragen der Fortentwicklung konkrete Arbeitsaufträge für die kommenden Wochen oder Monate, je nach Thema, zu vergeben“, sagt ein hoher Regierungsvertreter. Gelächter gibt es während des Briefings bei der Antwort auf die Frage, was man den Spaniern und Italienern sagen werde. „Ich gehe davon aus, dass sie die Themen, die sie nennen, auf dem Gipfel auch zur Sprache bringen werden. Insofern sehen wir der Diskussion entgegen.“ Die Stimmung fasst Spiegel Online unter dem Titel „Merkel lässt Monti abblitzen“ zusammen. Das von der Bundesregierung gesteuerte Erwartungsmanagement sieht für den Gipfel also einen Schlagabtausch der Argumente vor, aber keine Entscheidungen in der Sache – auch das erklärt die spätere Verunsicherung der Journalisten.

Ein Gipfel gerät außer Tritt – Auftakt in Brüssel, 28. Juni

Nach ihrer Ankunft in Brüssel am 28. Juni äußert sich Kanzlerin Merkel beim Treffen der EVP-Fraktion und später vor der EU-Ratssitzung ähnlich wie am Vortag. Es gehe vor allem um Wachstum und Beschäftigung. „Alles andere werde ich Ihnen morgen erzählen“, reagiert sie auf die üblichen Fragen etwa zu Euro-Bonds. Zunächst läuft alles nach Plan. Überlegt wird zu diesem Zeitpunkt, ein gesondertes Treffen der Euro-Zonen-Chefs erst am Freitag nach Abschluss des EU-Gipfels stattfinden zu lassen. Das würde den Zeitrahmen für eine Debatte über die Ideen des italienischen Premiers Monti beschränken – die deutsche Delegation verweist bereits darauf, dass die Kanzlerin unbedingt pünktlich nach Berlin zurück müsse. Am Nachmittag sind im Bundestag die Abstimmungen über den Fiskalpakt und den ESM geplant. Monti dagegen hatte zuvor betont, er wolle notfalls bis Sonntag weiter verhandeln. Für 19 Uhr planen Hollande und Merkel ein Pressestatement zum Wachstumspakt, der noch am ersten Gipfeltag beschlossen werden soll.

Um 18 Uhr beginnt hinter verschlossenen Türen eine Parallelrunde: Im 5. Stock des Ratsgebäudes treffen sich die Chef-Berater der Euro-Gruppe und Vertreter der 17 Euro-Finanzministerien zum ersten Mal im Beratungssaal „Anna Lindh“, um über die Bankenunion und die Wünsche der südlichen Euro-Länder zu beraten. Frans van Daele, Kabinettschef von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, gibt einen ersten Überblick, was aus Sicht des Ratspräsidenten beschlossen werden könnte. Deutschland und andere Euro-Regierungen bremsen sofort. Gegen 20 Uhr findet eine zweite Runde statt, in der die Experten nun über ein erstes Papier beraten. Was sonst in wochenlangen Abstimmungen ausgearbeitet wird, soll nun sehr schnell gehen. Als man um 23 Uhr erneut zusammenkommt, wird vom Ratssekretariat ein letztes, aber nicht konsentiertes Papier für die Chefs erstellt. Deutschland und andere erheben weiter Einspruch dagegen, dass Banken direkten Zugang zum ESM bekommen sollen, ohne dass vorher eine straffe Bankenaufsicht etabliert worden ist.

In der Chefrunde gibt Monti bekannt, dass er dem eigentlich längst aus­gehandelten Wachstumspakt nicht zustimmen wolle, sollten seine Anliegen zum sofortigen Kampf gegen hohe Zinsaufschläge nicht berücksichtigt werden. Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy schließt sich an. Die Gipfeldramaturgie gerät durcheinander. Die deutschen Journalisten werden nicht, wie geplant, um 19 Uhr, sondern erst nach 20 Uhr zu einem Statement der Kanzlerin zum Wachstumspakt bestellt, mit der sie Vollzug zurück nach Berlin senden möchte. Dann werden sie hingehalten und als klar ist, dass es eine formelle Einigung nicht mehr vor den „Tagesthemen“ geben wird, erfolgt die Absage.

Auch das traditionelle nächtliche „Kamingespräch“ entfällt, in dem die Kanzlerin den Journalisten von den Verhandlungen des ersten Tages berichtet und damit eine wichtige Orientierung für den zweiten Gipfeltag gibt. Denn das Sondertreffen der Euro-Zonen-Chefs wird vom Freitag in die Nacht vorverlegt. Erstmals entsteht im Brüsseler EU-Ratsgebäude so etwas wie Krisenstimmung. Teilnehmer kolportieren später die Bemerkung der sozialdemokratischen dänischen Ministerpräsidentin, Monti und Rajoy nähmen den EU-Gipfel als Geisel. Die Wahrheit ist: Der EU-Gipfel der 27 Mitglieder bietet diesmal nur den Rahmen für das eigentlich entscheidende Treffen – das findet nur zwischen den 17 Euro-Staaten statt.

Nächtliches Ringen – die Nacht vom 28. zum 29. Juni

Freitagmorgen, 1 Uhr: Während François Hollande im französischen Presse­raum nun doch eine längere Pressekonferenz abhält und sich als treibende Kraft hinter dem Wachstumspakt präsentiert, kommen die anderen Euro-Chefs bereits zusammen. Getagt wird bis 4.30 Uhr, immer wieder unterbrochen von bilateralen Gesprächen. Dass diese relativ neuen Runden der 17 Euro-Zonen-Chefs eher improvisiert sind, zeigt sich im Fehlen formeller Regeln für die Teilnahme. In den Runden der 27 EU-Länder beraten nur die EU-Chefs. In der Nacht wird die Kanzlerin aber von ihrem europapolitischen Berater Nikolaus Meyer-Landrut begleitet, der auch die Sherpa-Verhandlungen am Abend geführt hatte.

Im Gegensatz zum Eindruck, der im Nachhinein entsteht, verlaufen die Gespräche nach Aussagen von Beteiligten ruhig und sachlich. Am Ende hat die deutsche Delegation nicht den Eindruck, dass sich wirklich Entscheidendes bewegt hat. Statt sofortiger Hilfen glaubt man Monti mit einer fintenreichen Darstellung des alten Sachverhalts zufriedengestellt zu haben – allerdings öffnet man nach der Etablierung einer straffen Bankenaufsicht das Tor für eine direkte Rekapitalisierung der Banken beim ESM und damit die Aussicht auf billigeres Geld. In der Chefrunde aber wird die Übergangslösung gekippt, mit der einige Staaten schon vor dem Inkrafttreten der Bankenaufsicht direkten Bankenzugang zum Rettungsfonds haben wollten. Es bleibt bei der alten Schrittfolge. Auch Monti scheint zufrieden. Rajoy ist es ohnehin, weil er die Zusicherung bekommen hat, dass der ESM bei den Bankenkrediten für das Land keinen bevorzugten Gläubigerstatus erhalten wird. Hier liegt schließlich ein Sonderfall vor. Spanien beantragt die Hilfen noch beim vorläufigen Rettungsfonds EFSF, der diesen Gläubigerstatus ebenfalls nicht hat.

Gegen 4.45 Uhr verlässt Angela Merkel das EU-Ratsgebäude. Sichtlich übermüdet läuft sie am Pulk der noch wartenden deutschen Journalisten vorbei und stellt sich vor die Kameras eines türkischen und eines österreichischen Journalisten. Ihre Äußerungen bleiben im Ungefähren, man habe einen guten Kompromiss erzielt. Dann fährt sie mit ihrem Tross in das Hotel der deutschen Delegation. Ähnlich knapp bleiben auch Hollande, Rajoy und Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Man hatte verabredet, dass nur EU-Ratspräsident Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident Barroso reden.  

Van Rompuy erklärt in seiner Pressekonferenz, dass die Rettungsschirme künftig flexibel und effizient eingesetzt würden und der „Teufelskreis“ zwischen Hilfen für Banken und Verschuldung von Regierungen durch die direkte Rekapitalisierung beim ESM durchbrochen sei. Schon das schürt die Erwartung eines schnellen, einfachen Einsatzes der Hilfsfonds. An den asiatischen Märkten steigt der Euro auf ein Acht-Monats-Hoch, die Risikoaufschläge für spanische und italienische Staatsanleihen sinken in den folgenden Stunden.  

Während die Kanzlerin auf dem Rückweg ins Hotel ist, tritt aber auch Mario Monti vor die Journalisten und teilt mit, dass der erste Schritt zu einer Vergemeinschaftung der Schulden, also zu Euro-Bonds getan sei. Er vermittelt den Eindruck, Italien und Spanien hätten sich bei der Forderung nach weitgehend konditionslosen Hilfen für Banken und beim Ankauf von Staatsanleihen durch den ESM durchgesetzt. „Länder, die diese Stabilitätsmechanismen nutzen wollen, können dies tun (...) ohne Sonderkonditionen oder ein Programm und ohne die Aufsicht durch die Troika“, sagt er.

Aus einigen Nachrichtenagenturen und Online-Medien erfährt kurz danach auch die deutsche Delegation von Montis Äußerungen. Man ist verdutzt. Regierungssprecher Steffen Seibert kontaktiert Agentur- und Fernsehjournalisten, die für die Morgenmagazine zuständig sind, und erklärt die deutsche Sichtweise. Auch das Kanzleramt erhält Informationen über die Beschlüsse der Nacht und eine Interpretation. Den Aussagen von Monti und Van Rompuy stehen nun die anders lautenden Interpretationen der Beschlüsse durch „deutsche Regierungskreise“ gegenüber.  

Verwirrung in Berlin

In die am Abstimmungstag in Berlin ohnehin nervöse Atmosphäre schlagen die ersten Medienberichte aus Brüssel ein wie eine Bombe. Erste Minister melden sich noch vor 7 Uhr bei der deutschen Delegation in Brüssel, um Aufklärung zu bekommen, ob wirklich rote Linien überschritten wurden. Um 7.30 Uhr gibt es in Berlin eine Telefonkonferenz der FDP, an der u.a. Parteichef und Vizekanzler Philipp Rösler sowie Generalsekretär Patrick Döring teilnehmen. Die Verwirrung über die vermeintlichen Beschlüsse in Brüssel und deren Bedeutung ist groß. Rösler will nach dem Treffen mit der Kanzlerin telefonieren.

Parallel tagt die Morgenlage der Union unter anderem mit Fraktionschef Volker Kauder und dem Parlamentarischen Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer. Hier ist die Unsicherheit ebenfalls groß, auch wenn immerhin der schriftliche Beschluss der Euro-Zonen-Chefs vorliegt, den das Kanzleramt übermittelt hat. Der stellvertretende Fraktionschef und Finanzexperte Michael Meister wird hinzugezogen; er beharrt darauf, dass der Internationale Währungsfonds bei den Kontrollen der Reformumsetzung an Bord bleiben müsse. Unklar ist vor allem, was es heißt, die Länder-Reformvorschläge der EU-Kommission würden als Konditionen für Ankaufprogramme von Staatsanleihen ausreichen. Kauder tauscht sich mehrfach am Morgen mit Merkel in Brüssel aus, die aber auch mit einigen anderen Spitzenpolitikern von CDU, CSU und FDP kommuniziert. Gegen 9 Uhr werden Kauder, FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt vom Kanzleramt gebrieft. Später finden weitere Erklärungsrunden mit Finanzminister Wolfgang Schäuble, Volker Kauder und Michael Meister statt. Die Fraktionsspitzen telefonieren mit Abgeordneten, um die Lage zu erläutern.

Doch nun entwickelt sich eine gefährliche Ungleichzeitigkeit: Bei der Spitzen der Koalition legt sich die Aufregung, an anderen Stellen aber beginnt sie erst jetzt. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnt, dass sie diese Politik nicht mehr mittragen könne, SPD-Haushälter Carsten Schneider spricht von einer „180-Grad-Wende“ der Kanzlerin. Bei den Parlamentarischen Geschäftsführern von Union und FDP laufen mehrere Dutzend Anrufe besorgter Unions- und FDP-Abgeordneter ein, die angesichts der Medienberichte Aufklärung wollen. Das ist ein Alarmzeichen für die Abstimmung am Nachmittag, in der die schwarz-gelbe Koalition eine Mehrheit braucht und neben den üblichen Euro-Kritikern auf keine weiteren Stimmen verzichten kann.  

In Brüssel fällt die deutsche Delegation unterdessen zwei Entscheidungen: Um die Sachlage zu erklären, wird für 10 Uhr ein Briefing für die deutschen Journalisten angesetzt. Zweitens soll in die Abschlusserklärung des EU-Gipfels ein Passus aufgenommen werden, der festhält, dass sich an den Regeln des EFSF und des ESM nichts geändert hat. Als die Kanzlerin gegen 9 Uhr wieder im Ratsgebäude eintrifft, versucht sie erstmals selbst, die Drehung, die Monti dem Gipfelergebnis gegeben hat, öffentlich zu korrigieren. Sie pocht auf die für ihre Koalition sensiblen Punkte: Bei jeder Nutzung des ESM gebe es weiter ein Memorandum of Understanding. „Die Troika überwacht dann, so wie es in EFSF und ESM immer möglich ist, die Auflagen“, betont sie. Im Übrigen sei die Mitbestimmung des Bundestags auch bei dem geplanten Einstieg in die Bankenunion gewahrt – es gebe eine doppelte deutsche Veto-Möglichkeit, weil der EU-Rat einstimmig entscheiden müsse, ob die Bankenaufsicht ausreichend sei. Zudem müsse es ein einstimmiges Votum für den Einstieg in die direkte Bankenrekapitalisierung für ein Land geben. In jedem Einzelfall würde die Konditionalität festgelegt. „Insofern bleiben wir vollkommen in unserem bisherigen Schema: Leistung, Gegenleistung, Konditionalität, Kontrolle.“ Um sicherzustellen, dass die Abgeordneten in Berlin die Botschaft erhalten, wird der O-Ton als Datei an die Fraktionen verschickt. Um 10.15 Uhr werden die deutschen Journalisten in Brüssel in einem Hintergrundgespräch informiert.

Im Kreis der 27 EU-Staats- und Regierungschefs sowie parallel der Sherpas gehen die Beratungen weiter: Merkel kümmert sich persönlich darum, dass der besagte Satz zur Betonung des Status quo in der Abschlusserklärung des EU-Gipfels auftaucht.

Aufklärungsmarathon in Berlin und Brüssel

In Berlin erreicht die Welle der Verunsicherung ihren Höhepunkt. Um 11.22 Uhr veröffentlicht Spiegel-Online einen Bericht aus Brüssel mit einem eindeutigen Votum. Unter dem Titel „Die Nacht, in der Merkel verlor“, heißt es: „Italien und Spanien setzten sich in einem Brüsseler Verhandlungsmarathon fast vollständig durch“, für Merkel sei „das Verhandlungsergebnis eine herbe Niederlage“ und sie reise „als Geschlagene zurück nach Berlin, wo sie am Freitagnachmittag im Bundestag eine Regierungserklärung abgeben muss“. Erst gegen Ende wird erwähnt, dass die Kanzlerin selbst betone, die ESM-Regeln gälten weiter. Italien oder Spanien würden bei Inanspruchnahme des Rettungsschirms um eine Kontrolle durch die Geldgeber nicht herumkommen.

Wie verschieden die zwei mit dem Gipfel beschäftigten Welten sind, wird an diesem Tag während der turnusmäßig um 11.30 Uhr in Berlin stattfindenden Bundespressekonferenz deutlich. Es zeigt sich ein gänzlich unterschiedliches Selbstverständnis, aber auch der unterschiedliche Wissensstand von Regierungsvertretern und Hauptstadtkorrespondenten. Die in Berlin gebliebenen Journalisten wollen angesichts der mittlerweile widersprüchlichen Berichterstattung Aufklärung – die die Sprecher von Bundesregierung und Finanzministerium aber nicht liefern. Sie setzen ein Wissen voraus, das offenbar nicht überall vorhanden ist: „Aber Sie haben doch das Statement der Kanzlerin heute morgen in Brüssel beziehungsweise die Tickermeldungen gesehen“, meint etwa der Sprecher des Finanzministeriums. Diese seien „eindeutig und klar“. Zudem wird auf die Erklärung des Chefs der Euro-Zone verwiesen sowie auf die Regeln im ESM-Vertrag, die unterschiedliche Konditionen und Kontrollen für die verschiedenen Hilfsinstrumente vorsehen. Aber diese Feinheiten kennen nur die allerwenigsten Journalisten – oder auch Politiker.

Der Ton wird schärfer, vor allem als der Hinweis von Regierungsseite kommt, dass die Berichterstattung aus Brüssel sinnvoller sei als bohrende Nachfragen in Berlin, das diesmal nicht das Zentrum des Geschehens, wohl aber der Interpretationen und Verunsicherung ist. Die Journalisten verweisen vergeblich darauf, dass doch längst unterschiedliche Interpretationen öffentlich diskutiert würden.

In Brüssel versucht die Kanzlerin in ihrer Abschlusspressekonferenz um kurz nach 13 Uhr erneut, etwa die Sorgen einer Umgehung des Bundestags bei der Bankenaufsicht oder vor angeblichen neuen ESM-Regeln zu zerstreuen. Denn sie kennt mittlerweile aus vielen Gesprächen mit Berlin die große Nervosität. „Die Diskussion ging ja ein bisschen in eine Richtung, die es so aussehen ließ, als gäbe es keine Konditionalität mehr und als würde man von den normalen Abläufen im EFSF und ESM abweichen“, meint sie. Dies sei falsch. Allerdings verweist auch die Kanzlerin jetzt darauf, dass genau die ESM-Regeln, über die die Abgeordneten am Nachmittag abstimmen sollen, eben nicht in jedem Fall eine IWF-Beteiligung vorsähen. Der IWF kenne Instrumente wie die Bankenrekapitalisierung oder Programme zum Ankauf von Anleihen am Sekundär- oder Primärmarkt nicht. „Dabei sind immer nur die Kommission und die EZB im Geschäft.“ Nach ihrer Darstellung verkaufte Italiens Premier Monti also seiner nationalen Öffentlichkeit etwas als Durchbruch, was längst in den Abkommen steht. Die Zusage zu einer direkten Rekapitalisierung beim ESM beschreibt sie eher als Zukunftsprojekt. Dass es aber ganz offensichtlich Kommunikationsprobleme gäbe, räumt Merkel ein: „Ich glaube, dass, wenn man nachts so lange tagt, immer die Gefahr besteht, dass manches noch einmal geordnet werden muss.“

Noch während die Pressekonferenz der Kanzlerin in Brüssel läuft, verschickt Norbert Barthle, haushaltspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, in Berlin eine Aufklärungs- und Beruhigungsmail an alle Unions-Abgeordneten. „Die gestrigen Beschlüsse haben keine Auswirkungen auf das heute im Bundestag abschließend zu beratende Euro-Gesetzespaket. Für eine Verschiebung besteht keine Notwendigkeit“, heißt es darin.

Um 14 Uhr werden beim Sondertreffen des CSU-Landesgruppenvorstands auch die Christ-Sozialen wieder „eingefangen“. CSU-Chef Horst Seehofer hat von München aus übermitteln lassen, dass er für eine Zustimmung zu ESM und Fiskalpakt sei. Doch vor allem CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt meldet in der Sitzung noch Kritik an.

Vor der Sondersitzung des Haushaltsausschusses stellt der SPD-Haushälter Schneider nochmals in Frage, ob der Bundestag überhaupt abstimmen könne oder ob die Gipfelbeschlüsse nicht das vorliegende ESM-Gesetz überholten. In der Sitzung, an der auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) teilnimmt, verneint dies Finanzminister Schäuble und erläutert dann die Beschlüsse. Als Volker Kauder auf der Fraktionsebene eintrifft, gibt er sich nach dem vorangegangenen stundenlangen Beruhigungs- und Erklärungsmarathon demonstrativ entspannt. Das Votum im Bundestag und eine Mehrheit seien gesichert. Nach 15 Uhr geht die mittlerweile nach Berlin zurückgekehrte, sichtlich müde Kanzlerin in die Unions-, dann in die FDP-Fraktion und erklärt nochmals die Sachlage aus ihrer Sicht. Finanzminister Schäuble übernimmt diese Aufgabe bei den Fraktionen der Grünen und der SPD.

Gegen 17 Uhr gibt die Kanzlerin dann die zweite EU-Regierungserklärung innerhalb von zwei Tagen im Bundestag ab und wiederholt die Argumente nun auch vor allen Abgeordneten. In der Debatte wirft SPD-Chef Sigmar Gabriel ihr vor, sie habe in Brüssel das Gegenteil von dem vereinbart, was nun beschlossen werde. Als es zu den Abstimmungen geht, wird zunächst ein Antrag der Linkspartei auf Verschiebung der Voten über ESM und Fiskalpakt auch von SPD und Grünen abgelehnt. Am Abend werden dann beide europäischen Großprojekte mit großer, fraktionsübergreifender Mehrheit von 491 Ja-Stimmen gebilligt. Mit Nein stimmen 111 Parlamentarier. Am nächsten Morgen berichten die meisten Zeitungen, Merkel habe in Brüssel erheblich nachgeben müssen.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

  • 1Die bisher beste, sehr detaillierte Darstellung der Ereignisse in Brüssel stammt von Nikolaus Busse: Montis Morgenstreich, FAZ, 11.7.2012.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 22-29

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