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27. Apr. 2018

Was Europa verbindet

Stärkerer Zusammenhalt in der EU ist machbar, aber Berlin muss mehr tun

Dass Europas Integration derzeit ins Stocken geraten ist, ist nichts Neues. Aber was wissen wir wirklich über den Zusammenhalt in der EU? Damit beschäftigt sich der EU Cohesion Monitor des European Council on Foreign Relations. Die Ergebnisse für 2007–2017 liegen jetzt vor – und sie zeigen zum Teil durchaus erfreuliche Trends.

Debatten über den Zusammenhalt der EU gleichen nicht selten Glaubenskämpfen. Vereinfacht gesagt, gibt es diejenigen, für die der Niedergang nur noch eine Frage der Zeit ist. Ihnen zufolge habe die Union ihre schlimmste Zeit noch vor sich. Von wegen: Allen Unkenrufen zum Trotz sei die EU auch in den schwersten Krisen doch nicht auseinandergeflogen, halten diejenigen dagegen, die weiter an Europas Zukunft glauben.

Einig sind sich beide Lager in der Beobachtung, dass der Zusammenhalt in der EU zuletzt strapaziert wurde wie nie zuvor. Für die deutsche Europapolitik sind das keine guten Nachrichten. Die neue Bundesregierung hat sich jetzt einen „neuen Aufbruch für Europa“ vorgenommen. Aber setzt sie im Koalitionsvertrag auch die richtigen Akzente für die Stärkung des Zusammenhalts in der EU?

Auf den Zusammenhalt angewiesen

Unübersehbar gehen tiefe Risse durch den Kontinent. Neue Gräben sind in den vergangenen Jahren aufgebrochen – und sie reichen auch tief in die europäischen Gesellschaften hinein. Aber was wissen wir wirklich über den derzeitigen Zusammenhalt in der EU? Wo liegen die Hauptkonfliktlinien und inwieweit trägt noch der „unsichtbare Kit“ der EU-Mitgliedschaft, wie es der Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar einmal beschrieben hat? Und was heißt all das für die Europapolitik der neuen Bundesregierung?

Als eine Institution, die Entscheidungen auf der Basis von Zusammenarbeit und Konsens trifft, ist die Europäische Union auf den Zusammenhalt ihrer Bürger wie ihrer Mitgliedstaaten angewiesen. Diese Form strukturierter Zusammenarbeit macht sie in wachsendem Maße zu einer Exotin in der internationalen Politik. Dass internationale Zusammenarbeit nicht viel mehr bedeutet als eine freiwillige Kooperation souveräner Staaten, prägt nicht mehr nur die chinesische oder russische, sondern inzwischen auch die amerikanische Politik. Auch in EU-Mitgliedstaaten, selbst in Deutschland, gibt es verstärkt Tendenzen der (Re-)Nationalisierung durch neue Parteien und Bewegungen, die bereits jetzt Spuren in der Politik hinterlassen haben – der Austritt der Briten aus der EU ist das anschaulichste Beispiel.

Mit dem EU Cohesion Monitor hat der European Council on Foreign Relations (ECFR), unterstützt von der Stiftung Mercator, ein Instrument zur Messung des Zusammenhalts in der EU entwickelt. Der Monitor unterscheidet 32 Faktoren, die den Zusammenhalt zwischen Bürgern und Staaten beschreiben, und trägt diese in zehn Indikatoren für jeden der 28 Mitgliedstaaten zusammen. Die jüngsten vorliegenden Daten nehmen die Veränderungen des Zusammenhalts in der EU von 2007 bis 2017 in den Blick – zweifellos einer der spannendsten Entwicklungsmomente in der Geschichte der Europäischen Union. In der Gesamtschau der Ergebnisse des aktuellen EU Cohesion Monitor zeigen sich zwei Scheidelinien des Zusammenhalts in der EU: die eine verläuft zwischen Ost und West, die zweite zwischen Nord und Süd. Diese Befunde bestätigen auf den ersten Blick die aktuellen Konfliktlinien der Europapolitik, bieten aber gleichzeitig einen neuen Zugang zu ihrer Analyse an.

Die Kluft zwischen Ost und West zeigt sich mit Blick auf die strukturellen Faktoren des europäischen Zusammenhalts. Diese Faktoren erfassen die Verflechtung unter den Staaten auf der Makroebene. Dazu gehören neben Finanzierung, wirtschaftlicher Verflechtung, Geografie und Nachbarschaft die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, der Grad der Integration in die EU-Politiken und die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich.

Mit Ausnahme von Zypern und Österreich weisen alle EU­-Staaten östlich von Deutschland im Jahr 2017 höhere Werte an strukturellem Zusammenhalt auf als noch 2007. Den stärksten Anstieg an strukturellem Zusammenhalt verzeichnen – in absteigender Folge – Ungarn, Rumänien, Polen, die Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien, Malta und Estland. Im Ergebnis hat die Entwicklung dieser Staaten die Kluft zwischen Ost und West geschlossen, die 2007, kurz nach den Erweiterungsrunden, noch deutlich sichtbar war. Ein Jahrzehnt später verzeichnen sie allesamt relativ hohe strukturelle Werte.

Im Westen der EU dagegen wird der strukturelle Zusammenhalt schwächer. Diejenigen Faktoren, die den strukturellen Zusammenhalt im Osten gestärkt haben – die Finanzflüsse aus dem EU-Haushalt, die wachsende Integration in den Binnenmarkt oder der Beitritt zu Währungsunion oder ­Schengen­-Raum –, haben sich im Westen seit 2007 kaum verändert. Stattdessen haben die Finanz­- und Schuldenkrise die Kraft zur Krisenbewältigung und die wirtschaftliche Entwicklung geschwächt und dadurch die Ko­-Finanzierung von Investitionen durch die EU vermindert. Den so erzeugten Rückgang strukturellen Zusammenhalts zeigt der EU Cohesion Monitor in absteigender Folge vor allem für folgende Länder: die Niederlande, Italien, Spanien, Großbritannien und Portugal.

Da auch Frankreich einen Rückgang an strukturellem Zusammenhalt aufweist, bewegen sich nun vier der sechs großen EU-Staaten in die entgegengesetzte Richtung zum Osten der EU. Eine Entwicklung, die Berlin Sorgen bereiten sollte. Während Deutschlands Position bisher unverändert bleibt, wächst in der EU nicht nur die Kluft zwischen Ost und West; es schrumpft der strukturelle Zusammenhalt auch bei für Deutschland wesentlichen Partnern deutlich.

Individuell isoliert

Die zweite große Scheidelinie betrifft den individuellen Zusammenhalt, und diese verläuft zwischen Nord und Süd. Individueller Zusammenhalt speist sich in der Definition des Cohesion Monitor aus zwischenmenschlichen Bezügen und individuellen Erfahrungen. Dazu zählen die Begegnung mit dem „Anderen“, etwa durch Reisen oder Spracherwerb, die Beteiligung an und die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen, generelle Einstellungen zur EU wie das Vertrauen in ihre Institutionen sowie der Grad der Zustimmung zu Politikfeldern, die europäisch organisiert werden oder werden sollen.

Europas Süden hat über die vergangenen zehn Jahre erheblich an individuellem Zusammenhalt eingebüßt, am stärksten in Griechenland und Italien, aber auch in Frankreich und Spanien. Bedeutsam aus deutscher Sicht an dieser Kluft ist, dass mit Italien, Frankreich und Spanien drei der großen EU-Staaten in beiden Dimensionen des Zusammenhalts, strukturell und individuell, verloren haben. Kritisch erscheint diese Entwicklung vor allem für Italien, wo der kombinierte Rückgang stärker ausfällt als irgendwo sonst in der EU – und das in einem Land, das über viele Jahre zu den integrationsfreundlichsten Mitgliedstaaten zählte.

Ein weiteres Muster im Verlust von Zusammenhalt zeigt sich in Bezug auf die sechs Gründerstaaten der EU, zu denen neben Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern auch Deutschland gehört. 2007 lagen diese Länder auf der Landkarte des Zusammenhalts noch recht nah beieinander. Die Krisen und Entwicklungen des Jahrzehnts bis 2017 haben dieses Muster aufgelöst. Italien und Frankreich zeigen insgesamt schwachen Zusammenhalt, während Belgien und Luxemburg einiges und die Niederlande viel an struktureller Kohä­sion verloren haben. Umgekehrt hat der individuelle Zusammenhalt in allen drei Benelux­-Staaten wie auch in Deutschland zugenommen. Im Ergebnis haben sich die Gründerstaaten in nahezu entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Italien befindet sich auf der Landkarte des Zusammenhalts nun sogar in Nachbarschaft zu Großbritannien. Belgien und die Niederlande haben sich zwar Deutschland angenähert – es wird aber niemanden verwundern, dass das Potenzial dieses Trios für die Gestaltung der Europapolitik begrenzt ist.

Immerhin: Aus einer weiteren vom ECFR durchgeführten Datenerhebung, dem Coalition Explorer, wissen wir, dass die Eliten in den sechs Gründerstaaten einander weiterhin als gleichgesinnte Partner und Gestalter in der Europapolitik sehen. Es gibt also offenbar einen Reflex zur Kooperation. In der Realität unterschiedlicher Ausgangsbedingungen aber haben die Regierungen immer weniger Spielraum, und das wirkt sich auf die Effektivität gemeinsamer europapolitischer Initiativen aus. Das kann nicht im Interesse deutscher Europapolitik sein. Es liegt deshalb nahe, das Potenzial von möglichen Partnern, deren Zusammenhaltsprofil und europapolitische Präferenzen insgesamt näher an Deutschland liegen, stärker zu heben als bisher.

Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise 2015/16 auf den europäischen Zusammenhalt werden in den bisher vorliegenden Daten bislang zwar nur ansatzweise erfasst, einige erste Schlussfolgerungen sind aber möglich. Unter den Indikatoren für individuellen Zusammenhalt reagieren vor allem die Indikatoren Einstellungen und Wahlverhalten auf die Flüchtlingskrise. Der Indikator „Einstellungen“, der die generelle Haltung der Menschen zur EU erfasst, steigt interessanterweise zwischen 2014 und 2017 EU­-weit leicht an. Diese positive Entwicklung finden wir insbesondere bei großen Staaten und bei den wohlhabenden kleineren EU-Mitgliedern. Die Werte für die Visegrád­-Staaten weisen in die entgegengesetzte Richtung. Den stärksten EU-kritischen Stimmungsumschwung verzeichnen seit 2014 die Tschechische Republik, Rumänien, die Slowakei und Polen.

Wenn wir auf diejenigen Staaten und Regionen schauen, in denen niedrige oder schwindende Zusammenhaltswerte das Bindegewebe der europäischen Integration strapazieren, dann zeigt sich dieser Effekt am deutlichsten beim individuellen Zusammenhalt. Zugleich sind es genau diese Staaten, die den Zusammenhalt der Europäer insgesamt belasten: Großbritannien durch den konfliktreichen Brexit­-Prozess, drei der vier Visegrád-Staaten durch ihre Blockadehaltung in der Migrationspolitik und darüber hinaus Griechenland und Italien durch ihr anhaltendes Defizit bei strukturellen Reformen. Koinzidenz begründet noch keine Kausalität, doch es gibt zu denken, dass ein niedriger Zusammenhalt auf der Ebene der Bürger offenbar einhergeht mit der Unterstützung integrationskritischer oder integrationsfeindlicher Politik. Längerfristig macht dieser Effekt den Interessenausgleich in der Europapolitik schwieriger. Dieser Zusammenhang verdient größere Aufmerksamkeit der deutschen Politik, denn er mindert die Gestaltungschancen Berlins.

Geld ist nicht alles

Die Landkarte des strukturellen Zusammenhalts vermittelt noch eine andere Botschaft. Es ist die einer Erfolgsgeschichte der ostmitteleuropäischen Staaten. Im Erfolg liegt aber zugleich das Risiko des Rückschlags – wenn etwa die Mittelzuflüsse aus Brüssel sinken oder wenn die wirtschaftliche Integration der Region in die EU ihren Höhepunkt erreicht. Dann kippt die Entwicklungslinie des strukturellen Zusammenhalts ab, während das individuelle Zusammenhaltspotenzial zu schwach ist, um die Trendwende aufzuhalten. Die Entwicklung der Indikatoren strukturellen Zusammenhalts in anderen peripheren Räumen der EU lassen erkennen, dass starke Treiber wie der Indikator Finanzierung dort nicht zu einer Verbesserung der individuellen Zusammenhaltswerte geführt hat. Vielmehr haben sich zwischen 2014 und 2017 außerhalb der ostmitteleuropäischen Staaten die individuellen Zusammenhaltsfaktoren als bedeutsamer für die Entwicklung des Gesamtniveaus erwiesen. Unter diesem Blickwinkel sollte Berlin in Zukunft weniger auf die zusammenhaltsfördernden Effekte von Subventionen oder wirtschaftlicher Verflechtung setzen als vielmehr auf Faktoren, die für die Menschen selbst unmittelbar erfahrbar sind.

Denn die individuellen Komponenten von Zusammenhalt können offenbar – sowohl positiv als auch negativ – kurzfristiger verändert werden als die Faktoren auf struktureller Ebene. Ungeachtet der wachsenden Unterschiede im Zusammenhaltsprofil der EU-Staaten ist der individuelle Zusammenhalt zwischen 2007 und 2017 insgesamt zumindest leicht gestiegen, und dies trotz tiefgreifender Umbrüche und Krisen und kontroverser Debatten über die Zukunft der EU. Zwar schwanken einige der Faktoren für individuellen Zusammenhalt deutlich, vor allem beim Indikator Engagement, doch andere zeigen sich recht stabil. Die Indikatoren, bei denen die Erfahrungen und Begegnungen von Menschen sowie ihre Haltung zu den Leistungen von Integration erfasst werden, haben im Untersuchungszeitraum die Ausschläge im Wahlverhalten ausgeglichen; ihr Gewicht wog schwerer als die Gewinne der populistischen Parteien und das Wachsen EU-kritischer Einstellungen. So altbacken es für viele klingen mag: Programme, die Kompetenzen, Erfahrungen und das gemeinsame Handeln von Menschen stärken, können europäischen Zusammenhalt auf der Mikroebene fördern.

Besonders die Länder mit stark asymmetrischem Zusammenhaltsprofil erfordern die Aufmerksamkeit der Europapolitik: Das gilt etwa für Ungarn und die Tschechische Republik, in denen sehr hohe strukturelle Werte sehr geringen individuellen Werten gegenüberstehen. Mehr Aufmerksamkeit sollte auch ein Land wie Irland erfahren, selbst wenn die dortige Asymmetrie hoher individueller Werte bei niedrigen strukturellen Werten weniger problematisch erscheint. Die schwache strukturelle Verflechtung mit der EU könnte dann politisch brisant werden, wenn sich das Land gezwungen sähe, als Folge des Brexit zwischen tieferer Integration in der EU und Fortsetzung des Verhältnisses zu Großbritannien zu entscheiden. Italien verdient ebenfalls größeres Augenmerk, denn dort könnten beide Quellen des europäischen Zusammenhalts versiegen, wenn sich die Entwicklung seit 2007 weiter fortsetzt. Lösen sich die Bindungen des Landes an Europa weiter, so könnte die italienische Politik mit ihrer traditionell europa­freundlichen Haltung brechen und erhebliche politische Verwerfungen in der EU auslösen. Die jüngsten Wahlergebnisse stimmen hier nicht optimistisch.

Unsere Forschungsergebnisse sind ein Angebot, über den Begriff des „Zusammenhalts“ in der Europäischen Union mit neuen analytischen und empirischen Zugängen nachzudenken. Diese können als Ausgangspunkt für neue Akzente in der Europapolitik der neuen Bundesregierung dienen. Dazu gehört aber auch, sich von lieb gewonnenen Ritualen ein Stück weit zu verabschieden, in neuen Koalitionsoptionen zu denken und wieder stärker die menschliche Dimension von Zusammenhalt in den Blick zu nehmen.

Die Daten und Methodologien der beiden Monitore finden Sie ­unter www.ecfr.eu.

Josef Janning ist Senior Policy Fellow und leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign ­Relations (ECFR).

Almut Möller ist Senior Policy Fellow und leitet das Berliner Büro des ECFR.

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