Weltspiegel

30. Okt. 2023

Warum Multipolarität richtig ist

Sie ist weniger Zustandsbeschreibung als Konzept und Leitbild: zur schärfer werdenden politischen Auseinandersetzung über ­einen umstrittenen Begriff.

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Bild: US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz
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Es ist zum Gemeinplatz in der strategischen Debatte geworden, dass die Welt in Unordnung geraten sei. Großmachtrivalitäten und Konflikte zwischen divergierenden Gesellschaftssystemen unterminieren die westlich-liberale regelbasierte Weltordnung, die zumindest seit dem Ende des Kalten Krieges mit einer globalen Hegemonialstellung der USA einhergegangen war. So weit ein breiter Konsens! Weitaus umstrittener ist hingegen die Frage, auf welche Ordnung sich die Welt denn zubewegt beziehungsweise zubewegen sollte.

Die Nationale Sicherheitsstrategie versucht sich hier an einer Antwort: „die Welt des 21. Jahrhunderts ist multipolar“, schreibt Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Vorwort. Damit wiederholt er an prominenter Stelle, was er selbst und andere Mitglieder der Bundesregierung immer wieder hervorgehoben haben: Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung orientiert sich an dem Leitbild der Multipolarität – vor allem als pragmatische Reaktion auf die Machtverschiebungen der vergangenen beiden Jahrzehnte.

Diese Orientierung erfährt vielfältige, zum Teil scharfe Kritik, die sich wiederum in vier Kategorien zusammenfassen lässt.



Begriff und Konzept in der Kritik

Erstens wird der Begriff der Polarität sehr kritisch in der Theorie der internationalen Beziehungen reflektiert. Unter anderem wird kritisiert, dass er mit dem Fokus auf die Staatenwelt die Bedeutung nichtstaatlicher und supranationaler Akteure vernachlässige. Zudem würde die Prägung des Polaritätsbegriffs durch die Naturwissenschaften ein binäres Denken der Abstoßung und Anziehung nahelegen. An dieser Stelle kann eine vertiefte theoretische Debatte nicht geführt werden. Die Erörterung der Multipolarität soll im Folgenden jedoch allein auf zwischenstaatliche Verhältnisse bezogen werden und keinesfalls negieren, dass es außerhalb der Staatenwelt andere Ordnungsmuster der internationalen Beziehungen gibt.

Zudem hat sich die politische Diskussion über Polarität schon lange vom ursprünglichen physikalischen Verständnis gelöst. Sonst wäre tatsächlich nur Platz für zwei Pole beziehungsweise würde deren Existenz unbedingt erfordern.

Wirklich aufgeladen ist die Kontroverse über Polarität in den internationalen Beziehungen allerdings nicht in Theoriedebatten, sondern in politischen Auseinandersetzungen, u.a. geführt auch in dieser Zeitschrift. Deshalb soll die Aufmerksamkeit zunächst der Kritik am Leitbild der Multipolarität gelten, beginnend mit der Feststellung, es sei unrealistisch. Es gäbe auf lange Sicht nur zwei Länder, die das Potenzial hätten, Pole zu bilden und diese seien bereits seit geraumer Zeit in einem Konflikt gebunden, der sowohl eine normativ-systemische Aufladung wie auch eine hegemoniale Prägung hätte: der bisherige demokratische Hegemon, die USA, und der autoritäre Herausforderer China. Alle anderen hätten nur die Wahl, sich dem einen oder anderen anzuschließen, und für Europa/Deutschland sei die Entscheidung pro USA alternativlos.

 

Die Annahme einer bipolaren Weltordnung wird der Realität auf dem Globus in keiner Weise gerecht

 

Die hieraus abgeleitete Unvermeidbarkeit einer bipolaren Weltordnung vernachlässigt jedoch zum einen die erhebliche Ausdifferenzierung der politischen Systeme weltweit. Zwischen Norwegen und Nordkorea liegt eine große Bandbreite unterschiedlich verfasster Staaten. Nur eine Minderheit von ihnen lässt sich eindeutig den Kategorien Demokratie oder Autokratie zuordnen. Und selbst jene, die unzweifelhaft demokratisch oder autokratisch sind, wollen sich in einem bipolaren Hegemonialkonflikt weder dem einen noch dem anderen Lager zuordnen lassen. Darüber hinaus verdrängt das bipolare Weltbild eine weitere Realität: Dass die Spannungen zwischen liberal-demokratischen und autoritär-populistischen Gesellschaftsmodellen nämlich nicht nur die Beziehungen zwischen Staaten, sondern auch deren jeweilige Innenpolitik beeinflussen. Die Grenze zwischen illiberaler Demokratie und gemäßigtem Autoritarismus ist fließend und könnte nicht nur in fragilen Staaten Afrikas oder Asiens, sondern auch in Europa oder ­Amerika durchbrochen werden.



Ausdifferenzierung von Macht

Zum anderen ignoriert die Annahme, eine erneut bipolare Weltordnung sei unvermeidlich, sowohl die funktionale als auch geografische Ausdifferenzierung von Machtressourcen. Das vergangene Vierteljahrhundert war geprägt durch eine deutliche Relativierung der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Macht der USA und Europas, aber auch ihrer normativen und kulturellen Anziehungskraft. Zwar verfügen die USA nach wie vor über die mit Abstand größten militärischen Fähigkeiten, doch hat sowohl der Abzug aus Afghanistan deren Grenzen aufgezeigt wie auch die Bereitschaft der amerikanischen Administration abgenommen, diese weltweit einzusetzen.

China scheint seinerseits nicht bereit, diese Lücke zu füllen und muss nach Jahrzehnten des unaufhaltsamen wirtschaftlichen Aufstiegs selbst eine Abschwächung des Wachstums erfahren. Zugleich ist die Rolle anderer großer Länder – Indien, Indonesien, Brasilien, Türkei und perspektivisch vielleicht auch Nigeria, Vietnam oder Mexiko – ungleich bedeutsamer als noch während und unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Es ist vor allem der Bedeutungszuwachs potenzieller Führungsmächte in Asien, Lateinamerika und Afrika, der gegen eine erneute Zweiteilung der Welt spricht.

Der zweite Kritikpunkt – das Leitbild der Multipolarität wecke falsche, zum Teil gefährliche Erwartungen – lässt sich aus dreierlei Warte vorbringen. Eine davon nimmt das Eintreten Chinas und Russlands für Multipolarität als Ausgangspunkt. Beide Länder verbinden dieses Ordnungsmodell sehr offensiv mit der Forderung nach einer Revision der bestehenden Weltordnung. Obwohl sie diese offiziell nach wie vor in der UN-Charta basiert sehen, wird ihnen nicht zu Unrecht unterstellt, dass für sie Multipolarität das Recht von Polen impliziere, für sich Einflusssphären in Anspruch zu nehmen und dort ihr Verständnis von Recht und Ordnung durchzusetzen. Die Verwendung des Begriffs Multipolarität durch die Bundesregierung signalisiere diesen beiden, dass Deutschland ebenfalls Revisionsbedarf sehe beziehungsweise diesen impliziten Anspruch hinnehme.

Zugleich sei aber das Bekenntnis zur Multipolarität synonym mit einer Relativierung der Bedeutung der transatlantischen Allianz. Diese Position wird zum Teil auch in Washington eingenommen. Wenn Deutschland und vor allem Frankreich von Multipolarität sprechen, dann doch wohl mit der Absicht, Europa selbst zu einem Pol zu machen und nicht einen gemeinsamen mit den USA zu bilden. Daran knüpft auch der dritte Kritikpunkt bezüglich des Weckens falscher Erwartungen an: Europa, genauer gesagt die EU, sei in der gegenwärtigen Verfasstheit überhaupt nicht in der Lage, einen Pol zu bilden – Deutschland allein schon gar nicht. Deswegen könne bereits aus diesem Grund kein Interesse an Multipolarität bestehen.

Alle drei Argumente haben Substanz, lassen sich aber auch entkräften. Die Tatsache, dass ein wirkmächtiger Begriff von bedeutsamen Gegenspielern in einer bestimmten Weise verwendet oder von Partnern negativ wahrgenommen wird, sollte nicht bedeuten, dass man selbst auf dessen Verwendung verzichtet. Vielmehr sollte es eine Aufforderung sein, diesen Begriff im eigenen Sinne zu definieren und damit verbundene Erwartungen deutlich zu machen. Die Skepsis hinsichtlich der Fähigkeiten der EU, einen Pol mit globaler Anziehungskraft zu bilden, bezieht sich wiederum weniger auf das Potenzial dazu, sondern vielmehr auf ihr Versagen, dieses politisch in Wert zu setzen. Daraus muss sich ein politischer Gestaltungsauftrag ­ableiten und kein Verzicht auf Gestaltung. Zu beidem weiter unten mehr.

Der letzte, hier aufgegriffene Kritikpunkt steht in engem Zusammenhang mit den beiden anderen. Das Leitbild der Multipolarität sei unbrauchbar, nicht weil es unrealistisch sei oder falsche Erwartungen wecke, sondern weil es eine Abkehr vom bisherigen Bekenntnis zur regelbasierten multilateralen Weltordnung bedeute, in der Deutschland wie kaum ein anderes Land reüssieren konnte.

 

Eine bipolare Weltordnung verspricht nur auf den ersten Blick offenkundige Vorteile wie relative Stabilität und Sicherheit

 

Unter dem Schutz des sicherheitspolitischen Hegemons USA und mit multilateralen Institutionen als Garanten verlässlicher diplomatischer, handels- und finanzpolitischer Beziehungen sei es Deutschland nicht nur gelungen, die Friedensdividende zur Stabilisierung seines Sozialsystems zu nutzen, sondern auch weltweit Märkte zu erschließen und globale Wertschöpfungsketten aufzubauen. Der Wohlstand Deutschlands basiert wesentlich auf seiner exportorientierten Volkswirtschaft. Selbst wenn diese Ordnung – „zugestandenermaßen“ – durch die zunehmende Ineffektivität multilateraler Organisationen, durch Finanzmarktkrise, Pandemie, chinesischen Revisionismus und russischen Imperialismus in die Krise geraten sei, müsse sich doch deutsche Außen- und Sicherheitspolitik primär für ihre Revitalisierung und Stärkung einsetzen.

Diese Forderung lässt zwei entscheidende Perzeptionen außer Acht. Die Mehrheit der zuvor genannten potenziellen Führungsmächte, aber auch viele andere kleinere Länder Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas nehmen die einstige regelbasierte internationale Ordnung als eine wahr, die im Wesentlichen von einer kleinen Gruppe nordamerikanischer und europäischer Staaten in dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg definiert wurde – also in einem Zeitraum, in dem sie selbst entweder noch nicht als unabhängige Staaten existierten oder zu unbedeutend waren, um Gehör zu finden. Zum anderen – so die zweite Perzeption – würden es sich die „Erfinder“ dieser Ordnung erlauben, bei deren Durchsetzung doppelte Standards anzuwenden. Diese beiden Perzeptionen gepaart mit der oben beschriebenen Machtverschiebung haben zur Folge, dass jegliche Wiederbelebung einer regelbasierten Weltordnung eine partielle Neuaushandlung und damit erhebliche Kompromissbereitschaft seitens westlich-liberaler Systeme voraussetzt.



Bipolarität als Alternative?

Wenn eine wiederbelebte regelbasierte Weltordnung auf absehbare Zeit nicht zu realisieren ist oder letztendlich inakzeptable Zugeständnisse seitens westlich-­liberaler Systeme erfordern würde, wäre dann eine bipolare Ordnung nicht die bessere Alternative?

Ihre Vorteile scheinen offenkundig: Auf den ersten Blick verspricht sie Sicherheit und Stabilität. Ein nordamerikanisch-­europäischer Machtblock, erweitert um Staaten wie Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland u.a. würde weiterhin unter dem Schutzschirm militärischer Dominanz der USA prosperieren und könnte kaum offen von anderen herausgefordert werden. Und Bipolarität bedeutet relative Stabilität. Es würde die Beziehungen zwischen zwei Blöcken strukturieren und verlässlich machen und allen anderen Staaten außerhalb der Blöcke eine klare Selbstverortung ermöglichen.

Diese Vorteile sind aber nur scheinbar offenkundig. Die Sicherheitserwartung basiert auf der Annahme, dass die USA nach wie vor in der Lage oder willens sind, die Rolle als ultimativer Sicherheitsgarant zu übernehmen. Die gesellschaftspolitische Polarisierung in den USA, die europäischen Erfahrungen mit der Trump-Administration, aber auch die in den USA zunehmende Wahrnehmung, in dieser Rolle überfordert zu sein und Schaden zu nehmen, säen berechtigte Zweifel an dieser Annahme.

Die Erfahrung aus 40 Jahren Bipolarität während des Kalten Krieges zeigt, dass auch die Stabilitätserwartung zumindest auf schwachen Füßen steht, wenn nicht sogar purem Zynismus entspringt. Die relative Stabilität zwischen den Blöcken bis 1990 stand zumindest zweimal auf der Kippe zur nuklearen Eskalation und war mit Millionen von Toten in Stellvertreterkonflikten in Korea, Vietnam, Kambodscha, Afghanistan, Äthiopien, Mosambik, Angola, Kolumbien, Peru, Nicaragua, El Salvador und einigen anderen Ländern verbunden. Und sie ging einher mit der vom Westen geduldeten Repression in den autoritären Staaten des Ostblocks.



Bipolarität macht vieles schwerer

Doch es ist nicht nur die Fragwürdigkeit der vermeintlichen Vorteile einer bipolaren Ordnung, die sie zu einem ungeeigneten Leitbild deutscher Außen- und Sicherheitspolitik macht, sondern auch deren Kosten und Nachteile. Bipolarität würde die Bewältigung globaler Herausforderungen noch mehr erschweren, als es die Großmachtrivalitäten und die Systemkonkurrenz ohnehin schon tun. Die Verhandlungen bei der Klimakonferenz COP 27, die Blockaden im UN-Sicherheitsrat und die Paralyse der WTO geben einen Vorgeschmack darauf. Eine erneute Blockkonfrontation würde Konsens und Kompromisse über den richtigen Umgang mit Klimawandel und Biodiversität, Pandemien, Verschuldung und Migration ­außerordentlich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.

 

Eine Blockbildung mit den USA würde Europa auf die Rolle eines Juniorpartners festlegen

 

Bipolarität würde auch den Rückzug aus Märkten und die Restrukturierung von Wertschöpfungsketten bedeuten, wofür seit einiger Zeit der Begriff Decoupling steht und die in Teilbereichen der Technologiepolitik schon stattfindet. Die volkswirtschaftlichen Folgen einer Abkopplung von China wären für Deutschland enorm und würden sich noch verstärken, wenn weitere autoritäre Staaten einen Block mit China bilden würden. Die sozialen Folgen dieser wirtschaftlichen Kosten wären außerordentlich: Sie würden sich nicht nur im Verlust von Arbeitsplätzen in export­orientierten Unternehmen niederschlagen, sondern auch in erhöhten Preisen für Konsumgüter und Vorprodukte. Diese Wohlfahrtsverluste hätten wiederum beträchtliche destabilisierende Effekte auf das politische System zur Folge.

Und schließlich: Die Blockbildung mit den USA hätte für Europa erneut die Konsequenz, in allen Politikfeldern – nicht nur in der Sicherheitspolitik – auf die Rolle eines Juniorpartners festgelegt zu werden. Diese Rolle mag durchaus akzeptabel erscheinen, wenn der Seniorpartner – wie gegenwärtig der Fall – sich als wohl­wollender Hegemon verhält und die Interessen und Vorstellungen seiner Partner berücksichtigt. Sie kann sehr viel unangenehmer und kaum durchhaltbar sein, wenn der Seniorpartner bedingungslose Gefolgschaft sowie die Beteiligung an Handelskriegen und fragwürdigen militärischen Einsätzen erwartet.



Multipolarität richtig verstanden

Die Nachteile bipolarer Blockkonfrontation, die Unwahrscheinlichkeit, dass sich die westlich-liberale regelbasierte Ordnung wiederbeleben lässt, sowie die Zumutungen, die eine durch autoritäre Staaten revidierte regelbasierte Ordnung für liberale Demokratien bedeuten würde, machen Multipolarität zu einer erstrebenswerten Rückfallposition, allerdings mit temporärem Charakter. Doch wie sähe eine solche multipolare Ordnung aus? Sechs Charakteristika würden sie prägen.

Pole sind Staaten oder Gruppierungen von Staaten, die zum einen in der Lage sind, über ihre innere Verfasstheit autonom zu bestimmen, zum anderen durch ihre kulturelle und wirtschaftliche Attraktivität (Soft Power) anziehend auf andere Länder wirken beziehungsweise durch ihre politische, wirtschaftliche oder militärische Macht (Hard Power) Einfluss auf diese ausüben.

Pole sind nicht gleich groß. Auf globaler Ebene spielen die USA und China in einer anderen Liga. Nur wenige andere Pole können oder könnten in Anspruch nehmen, eine globale Rolle zu spielen: die EU und Indien, vielleicht auch ein nicht kriegführendes Russland, ASEAN, die Golfstaaten, Japan/Südkorea – mit größeren Zweifeln behaftet: Brasilien, Nigeria oder Indonesien. Die Wirkungskraft anderer Pole wird regional begrenzt (Nigeria in Westafrika, Australien im Südpazifik, Türkei im Nahen und Mittleren Osten) oder politikfeldbezogen (Brasilien in der Klimapolitik) sein.

Pole stehen nicht in Äquidistanz zu­einander. Die EU wird auf absehbare Zeit den USA näherstehen als allen anderen Polen. Die Distanz zwischen den Polen ist abhängig von ihren jeweiligen normativen Orientierungen und ihren Interessen. Die Beziehungen zwischen ihnen werden einer jeweils spezifischen Mischung aus Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität unterliegen.

Die Pole zeichnen sich durch ausgeprägte Unterschiede in ihrer politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung aus. Die Möglichkeiten eines Pols, das System in einem anderen zu verändern, sind definitionsgemäß (s. erster Punkt) gering. Systeme können und werden sich allerdings von innen heraus verändern.

Multipolarität erfordert die Einhaltung eines Mindestmaßes an völkerrechtlichen Regeln. Dazu gehören der Respekt grundlegender Menschenrechte, nationaler Souveränität und territorialer Integrität sowie der Gewaltverzicht bei zwischenstaatlichen Konflikten. Daraus folgt, dass der Einfluss von Polen auf andere Staaten (s. erster Punkt) nicht gleichbedeutend mit der Abgrenzung von Einflusssphären ist.

Da in einem multipolaren System kein Pol beziehungsweise keine internationale Organisation die Autorität besitzt, die Einhaltung dieser Regeln durchzusetzen und systemische Unterschiede und konkurrierende Ordnungsvorstellungen permanenten Veränderungsdruck erzeugen, ist eine solche Ordnung inhärent instabil. Sie ist deshalb kein erstrebenswerter Dauerzustand. Eine aus europäischer Sicht vorteilhafte stabile und regelbasierte Weltordnung setzt jedoch eine systemische Konvergenz in Richtung liberale Demokratien voraus. Das heißt: Sollten demokratische Reformbewegungen in mächtigen autoritären Staaten deren Systeme verändern, besteht die Chance auf eine Transformation der multipolaren in eine erneut regelbasierte multilaterale Ordnung.



Aufgaben der deutschen Außenpolitik

Aus diesen Elementen lassen sich sieben vordringliche Gestaltungsaufgaben für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ableiten.

Kein EU-Mitglied kann für sich allein in Anspruch nehmen, einen eigenen Pol zu bilden. Deutschland muss seine Anstrengungen forcieren, die Europäische Union zu einem handlungsfähigen globalen Pol zu machen und um jene Staaten zu erweitern, denen der Beitritt in Aussicht gestellt wurde. In Bezug auf Europa, die Mittelmeeranrainer und wesentliche Teile Afrikas sowie in den Politikfeldern Klima-, Handels- und Entwicklungspolitik ist die EU bereits heute zweifellos ein Pol. Die zentralen Defizite bestehen derzeit in den Entscheidungsstrukturen und -prozessen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der militärischen Handlungsfähigkeit der EU

 

Multipolarität erfordert die  Einhaltung eines Mindestmaßes an völkerrechtlichen  Regeln. Dazu gehört der ­Respekt der nationalen Souveränität und territorialen Integrität

 

Eine zentrale politische Kommunikationsaufgabe besteht gegenüber den USA: Deutlich zu machen, dass das Eintreten für Multipolarität und strategische Souveränität des Pols EU keine Abkehr von der transatlantischen Allianz oder ein Infragestellen der NATO bedeutet, sondern durch die Stärkung des europäischen Pfeilers diese Allianz sicherheitspolitisch stabiler wird. Zugleich ist aber zu kommunizieren, dass ein Pol EU seine Interessen in Politikfeldern wie der Handels-, Energie-, Rohstoff- und Technologiepolitik sowie ­gegenüber anderen Ländern eigenständig verfolgen wird.

Die systemischen Differenzen zu anderen Polen machen die Gestaltung geeigneter Schnittstellen für die Interaktion mit diesen zu einer primären Aufgabe deutscher Außenpolitik. Beispiele hierfür sind: Wie kann Datenaustausch zwischen Systemen organisiert werden, die prinzipiell unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des Datenschutzes haben? Welche Rolle kann staatlich kontrollierten Medien, Kulturinstituten und Mittlerorganisationen autoritärer Staaten im eigenen Land zugestanden werden? Welche Rolle soll Staatsunternehmen autoritärer Staaten in Marktwirtschaften eingeräumt werden, welche Begrenzungen muss es für staatliche Subventionen geben?

Eine weitere zentrale Aufgabe besteht darin, die richtige Balance zwischen Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität in den Beziehungen zu diesen Staaten zu finden und Akzeptanz für eine entsprechende Kompartmentalisierung dieser Beziehungen beim Gegenüber zu schaffen. Die kürzlich verabschiedete China-­Strategie enthält Hinweise für Ersteres, deren Umsetzung hängt an dem Gelingen von Zweitem.



Deutschland und Frankreich gefordert

Die globale Bedeutung des Pols EU hängt wesentlich davon ab, inwiefern es gelingt, intensive partnerschaftliche Beziehungen zu anderen Staaten zu pflegen. Dies erfordert eine bessere Abstimmung der diplomatischen Bemühungen einzelner EU-Mitglieder um Staaten außerhalb der Union (Team Europe). Hier sind besonders Deutschland und Frankreich gefordert. Es setzt jedoch auch eine Palette attraktiver Kooperationsangebote voraus: Handels- und Investitionsabkommen, Global-­Gateway-Projekte, Energie- und Rohstoffpartnerschaften, aber auch Solidarität in politischen Zwangslagen und Bereitschaft zur Rüstungskooperation.

 

Systemwandel in autoritären Staaten ist Voraus­setzung für eine Revitalisierung der regelbasierten Weltordnung – er kann aber nicht erzwungen oder auferlegt werden

 

Die Gestaltung einer multipolaren Weltordnung darf sich nicht in der Wahrnehmung bilateraler Beziehungen erschöpfen, sondern muss auch die pluri- und multilaterale Ebene erfassen. Dabei sollte deutsche Außenpolitik selektiver als bisher vorgehen: umfassendes und energisches Engagement in Gruppierungen wie den G7, in denen die normative Übereinstimmung und Interessenkongruenz groß ist, sowie in Gremien, die sich mit drängenden globalen Herausforderungen befassen, u.a. COP-Prozess und WHO; substanzielles Engagement in Organisationen und Gruppierungen, die globale Konsensfindung ermöglichen, wie in UN und G20, oder in politikfeldbezogenen Interessenkoalitionen. Zurückhaltendes Engagement hingegen in multilateralen Organisationen, die über bestehende Vereinbarungen hinaus kaum Aussichten auf weitere Fortschritte bieten: WTO sowie die eine oder andere Unterorganisation der Vereinten Nationen.

Systemwandel in autoritären Staaten ist Voraussetzung für eine Revitalisierung der regelbasierten Weltordnung. Dieser kann von außen nicht erzwungen oder auferlegt werden. Das bedeutet aber nicht den Verzicht auf politische und materielle Unterstützung jener, die von innen heraus demokratische und gesellschaftliche Veränderungen voranbringen wollen. Deshalb bleiben Demokratie- und Menschenrechtsförderung sowie kulturell-wissenschaftlicher Austausch eine wichtige Aufgabe deutscher Außenpolitik.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 82-89

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Dr. Stefan Mair ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit Sitz in Berlin.

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