Essay

01. März 2016

Warum Amerika nach links rückt

Die liberale Ära, die Barack Obama startete, hat gerade erst begonnen

Wer immer die US-Wahlen im November gewinnt, der wird eine linkere Politik betreiben als der Amtsvorgänger aus seiner Partei. Eine kühne Prognose? Nein. Auch ein republikanischer Präsident müsste Rücksichten nehmen: auf die Minderheiten, die Millennial-Generation – und auf ein Land, dessen ideologisches Spielfeld sich nach links verschoben hat.

In den vergangenen 18 Monaten haben folgende Ereignisse die USA erschüttert: Im Juli 2014 wurde Eric Garner, ein Afroamerikaner, der illegal Zigaretten verkauft haben soll, von einem New Yorker Polizisten zu Tode gewürgt. Im August erschoss der weiße Polizeibeamte Darren Wilson den afroamerikanischen Teenager Michael Brown in Ferguson, Missouri. In den folgenden zwei Wochen lieferten sich Demonstranten heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Danach, so Missouris Gouverneur Jay Nixon, ähnelte die Stadt einem Kriegsgebiet. Im Dezember 2014 erschoss ein vorbestrafter Afroamerikaner zwei New Yorker Polizisten, um den Tod Garners und den Browns zu rächen. Auf deren Beerdigung wandten hunderte Polizisten New Yorks liberalem Bürgermeister Bill de Blasio demonstrativ den Rücken zu.

Im April 2015 starb in Baltimore ein weiterer junger Afroamerikaner, Freddie Gray, unter ungeklärten Umständen in Polizeigewahrsam. Wiederum folgten Unruhen, bei denen 200 Geschäfte zerstört, 113 Polizisten verletzt und 486 Menschen festgenommen wurden. Im Juli vergangenen Jahres störten Aktivisten der Black Lives Matter-Bewegung, die seit Browns Tod landesweit Aufmerksamkeit erregt hatte, die Reden von zwei demokratischen Präsidentschaftskandidaten in Phoenix, Arizona. Sie skandierten: „Falls ich in Polizeigewahrsam sterbe, rächt meinen Tod! Mit allen erforderlichen Mitteln!“ Und: „Falls ich in Polizeigewahrsam sterbe, brennt alles nieder!“

Diese Slogans kennt jeder, der mit der amerikanischen Geschichte vertraut ist. Malcolm X machte den Ausspruch „mit allen erforderlichen Mitteln“ („by any means necessary“) in einer Rede im Juni 1964 populär. Nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. im April 1969 brannte Baltimore – so wie viele andere Städte während der Rassenunruhen, die zwischen 1964 und 1969 in jedem Frühjahr und Sommer von Neuem ausbrachen. Im November 1969 benutzte Präsident Richard Nixon in einer aus dem Oval Office übertragenen Rede den Begriff einer „schweigenden Mehrheit“, der schnell zum Kürzel für weiße Amerikaner wurde, die sich in den sechziger und siebziger Jahren entsetzt über Kriminalität und Rassismus von der Demokratischen Partei abwandten. Für Amerikaner mit einem Sinn für historische Analogien mag die Rückkehr von Slogans aus jener Zeit eine erneute starke, konservative Gegenbewegung ankündigen.
 

Seitenverkehrtes Spiegelbild der Sechziger

Davon jedenfalls ging ich aus, als ich mit der Recherche zu diesem Essay begann. Aber ich lag falsch. Die jetzige Situation ist eher ein seitenverkehrtes Spiegelbild der sechziger Jahre. Es gibt zwar eine Protestbewegung gegen den Liberalismus der Obama-Ära. Doch die ist eher laut als stark. In Wirklichkeit bewegt sich das Land nicht nach rechts, sondern nach links.

Das bedeutet nicht, dass die Republikaner im Kongress und in den Parlamenten der Bundesstaaten an Stärke einbüßen würden. Es bedeutet auch nicht, dass die Grand Old Party nicht wieder einen Präsidenten stellen könnte. Aber es bedeutet, dass sich das Gravitationszentrum innenpolitischer Debatten in den USA weiter nach links verschieben wird. In den späten sechziger und siebziger Jahren endete eine liberale Ära im Strudel von linker Militanz und Rassenkonflikten. Inmitten von linker Militanz und Rassenkonflikten hat heute eine neue liberale Ära gerade erst begonnen.

Um die Gründe zu verstehen, muss man zunächst erklären, warum die Demokratische Partei – und noch wichtiger: das ganze Land – liberaler wird. Die Geschichte der Links-Bewegung in der Demokratischen Partei hat zwei Kapitel. Das erste handelt von George W. Bushs Präsidentschaft. Vor Bush gehörte ein kompromissloser Liberalismus nicht zum Grundgerüst der Demokraten. Die Partei verfügte über eine starke gemäßigte Mitte, die im Kongress durch weiße Südstaatler wie Tennessees Senator Al Gore verankert war, der Reagans Sicherheitspolitik in weiten Teilen unterstützte, oder Georgias Senator Sam Nunn, der im Gegensatz zu Bill Clinton Homosexuelle vom Dienst im Militär ausschließen wollte. Als Kompass dienten den gemäßigten Demokraten der Democratic Leadership Council, der eine Erhöhung des Mindestlohns ablehnte; das Magazin The New Republic, das sich gegen die so genannte „positive Diskriminierung“ und gegen die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs zu Schwangerschaftsabbrüchen im Fall „Roe v. Wade“ wandte; und Washington Monthly, das Bedürftigkeitsprüfungen für Sozialleistungen einführen wollte.

Die Demokraten der Mitte glaubten, dass Reagan wohl einige Fehler begangen, aber auch vieles richtig erfasst habe: Die Sowjetunion war böse, die Steuern zu hoch, die Gerichte zu nachsichtig mit Kriminellen und exzessive staatliche Regulierung hatte das Wirtschaftswachstum erstickt. Viele Demokraten der Mitte waren überzeugt: Solange sich ihre Partei nicht mit diesen Grundannahmen arrangierte, würde sie auch keine Präsidentschaftswahl gewinnen können. In den achtziger und neunziger Jahren glaubten viele einflussreiche und der Demokratischen Partei verbundene Politiker, Strategen und Journalisten, dass eine Kritik am Liberalismus von rechts moralisch und politisch notwendig sei.

Es war vor allem die Politik George W. Bushs, die dafür sorgte, dass dieses Netzwerk zerfiel. Er verankerte die Republikaner stärker im Süden (Reagans politische Basis lag im Westen) und trug dadurch dazu bei, dass es immer weniger weiße Südstaatler gab, die bei den Demokraten ihre politische Heimat sahen – ein Trend, der schon mit der Öffnung der Partei für die Anliegen der Bürgerrechtler begonnen hatte. Zudem zerstörte Bush die Mitte der Demokratischen Partei auch intellektuell. Mit seiner Präsidentschaft war eine glaubwürdige Kritik des Liberalismus von rechts unmöglich geworden.
 

Der Irak-Krieg und die Folgen

In den achtziger und neunziger Jahren hatten Demokraten der Mitte noch argumentiert, dass Reagans Senkung des Spitzensteuersatzes von 70 auf 50 Prozent und die Lockerung der staatlichen Regulierung das Wirtschaftswachstum beflügelt hätten. Als jedoch Bush 2001 den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent senkte und die staatliche Regulierung noch weiter einschränkte, wuchsen Ungleichheit und Schuldenberg, aber nicht die Wirtschaft. Und dann folgte die Finanzkrise. In den Achtzigern und Neunzigern waren die Demokraten der Mitte überzeugt, dass Reagans sprunghaft gestiegenen Verteidigungsausgaben und seine Hilfen für die afghanischen Mudschaheddin entscheidend zum Sturz des Sowjetimperiums beigetragen hätten. Als Bush 2003 im Irak intervenierte, löste er die größte außenpolitische Katastrophe der USA seit Vietnam aus.

Die Lehre aus der Reagan-Ära war, dass Demokraten einen republikanischen Präsidenten auch mal machen lassen sollten. In den Bush-Jahren zog man die Lehre, dass genau das in die Katastrophe führte. Bushs Steuersenkung war mit zwölf demokratischen Stimmen durch den Senat gekommen; den Irak-Krieg befürworteten sogar 29 demokratische Abgeordnete. Als die unheilvollen Konsequenzen dieser Zustimmungen klar wurden, zerstörte die darauffolgende Revolte den zentristischen Flügel der Demokraten.

Im Februar 2003 forderte Howard Dean, der einstige Gouverneur von Vermont: „Ich will wissen, warum um alles in der Welt die Führung der Demokratischen Partei den unilateralen Angriff des Präsidenten auf den Irak unterstützt. Ich will wissen, warum die Parteispitze der Demokraten Steuersenkungen unterstützt.“ Am Ende des Jahres war Dean, der sich neben einer Schar von Irak-Krieg-Unterstützern um die demokratische Präsidentschaftskandidatur bewarb, klarer Favorit auf die Nominierung durch seine Partei.

Mit Deans Kampagne begann in der Demokratischen Partei eine intellektuelle Revolution, in deren Verlauf Jon Stewart zu einer der einfluss­reichsten Fernsehpersönlichkeiten wurde, die Huffington Post als linkes Gegenstück zum Drudge Report geboren wurde, Joe Lieberman 2006 als einer der vehementesten Befürworter des Irak-Kriegs die Vorwahlen für die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten verlor, Barack Obama die Vorwahlen der Demokraten für die Präsidentschaftswahlen 2008 gegen Hillary Clinton gewann – unter anderem wegen ihrer Unterstützung des Irak-Kriegs.

Auch der Democratic Leadership Council, der seine politische Bedeutung schon verloren hatte, löste sich 2011 auf. Die Stimmung in der Partei hatte sich komplett gedreht. Während die Vordenker der Demokraten ihre Partei einst gedrängt hatten, liberale Axiome zu hinterfragen, kritisierten sie nun, dass liberale Grundideen nicht nachdrücklich genug vertreten würden. Bushs Präsidentschaft hatte die Demokraten zu entschiedenen Liberalen gemacht – und Obamas Präsidentschaft war dessen logische Folge.
 

Besetzt die Wall Street!

Doch das ist nur die halbe Geschichte. Denn nachdem George W. Bushs Miss­erfolge die Demokraten nach links getrieben hatten, trieb Barack Obama sie noch weiter nach links. George W. Bush ist für die liberalen Strukturen verantwortlich, die Obama ins Amt verhalfen. Und Obama hat unbeabsichtigt zur Entstehung zweier Bewegungen beigetragen, für die heute selbst der von Obama verkörperte Liberalismus nicht links genug ist: Occupy und Black Lives Matter.

Angesichts der verbissenen Blockade des Kongresses durch die Republikaner ist unklar, ob Obama die Finanzkrise hätte nutzen können, um die Macht der Wall Street entscheidend einzuschränken. Fakt ist: Er tat es nicht. Für junge Aktivisten war das ein Schock. Nur drei Jahre nach der Wahl eines Präsidenten, der sie wie kein anderer inspiriert hatte, sahen sie ein Land, in dem die Armen litten und Finanzhaie noch immer den Ton angaben. Die Antwort der Aktivisten war Occupy Wall Street.

Laut einer Studie der City University of New York hatten 40 Prozent der Occupy-Aktivisten 2008 in einer Wahlkampagne gearbeitet, die meisten für Obama. Viele von ihnen hatten gehofft, dass Obamas Präsidentschaft einen fundamentalen Wandel bringen würde. Diese Hoffnungen waren enttäuscht worden und nun forderten die Linken die Wall Street direkt heraus. Für eine kurze Zeit erhielt Occupy jede Menge Aufmerksamkeit, doch dann verlief die Bewegung im Sand. Das Thema soziale Ungleichheit aber hatte sie in die amerikanische politische Debatte hineingetragen.

Die Wut der Occupy-Bewegung, die nicht nur gegen die Wall Street, sondern auch gegen die verhätschelten demokratischen Eliten gerichtet war, ebnete den Weg der demokratischen Politiker Bill de Blasio und Elizabeth Warren zu landesweiter Bekanntheit. Ohne Occupy ist nicht zu verstehen, warum ein griesgrämiger „demokratischer Sozialist“ aus Vermont Hillary Clinton ernsthaft die ersten Vorwahlstaaten streitig macht. Und Occupy-Aktivisten gehören auch zu den wesentlichen Unterstützern der Sanders-Kampagne.

Doch wichtiger für den Erfolg des Wahlkampfteams ist die Reaktion demokratischer Spitzenpolitiker auf Sanders. In den achtziger und neunziger Jahren wäre ein erklärter Sozialist für eine Partei, die sich wirtschaftsfreundlicher aufstellen wollte, ein gefundenes Fressen gewesen. In der heutigen Demokratischen Partei jedoch stößt Sanders kaum auf ideologischen Widerstand, weder von Intellektuellen und Aktivisten noch von den Spendern. Die Democracy Alliance – der einflussreichste Spendenclub der Partei, dem Großinvestoren wie George Soros und Tom Steyer angehören – ist in den Obama-Jahren selbst nach links gerückt, wie John Judis im National Journal festgestellt hat. Als Elizabeth Warren 2014 auf dem jährlichen Wintertreffen der Gruppe sprach, wurde sie begeistert empfangen. Im vergangenen Frühling kündigte die Allianz an, ökonomische Ungleichheit zu ihrem Hauptthema zu machen.

All dies hat auch die Reaktion der Clinton-Kampagne auf Sanders beeinflusst. In der ersten Fernsehdebatte der Demokraten sagte Clinton, dass sie „lieber die Exzesse des Kapitalismus“ beschneide anstatt das Wirtschaftssystem komplett aufzugeben. Als konkreten politischen Unterschied zu Sanders betonte sie allerdings ausgerechnet ihren Wunsch nach schärferen Waffengesetzen – mit dem sie ihn von links attackierte.

Die Occupy-Warren-Sanders-Achse hat auch Hillary Clintons Wirtschaftsprogramm beeinflusst, das heute deutlich linker ist als noch 2008. Sie hat eine schärfere Regulierung der Finanzmärkte gefordert, über höhere Sozialabgaben für Reiche nachgedacht und das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP kritisiert, das sie einst vehement befürwortet hatte.
 

Black Lives Matter

Wenn Occupy ein ungeplantes Vermächtnis der Obama-Ära ist, dann ist Black Lives Matter ein weiteres. Diese Bewegung nahm ihren Anfang 2013, nachdem eine Jury den weißen Polizisten George Zimmerman 2013 vom Mordvorwurf an dem afroamerikanischen Jugendlichen Trayvon Martin freisprach. Sie ist eine Reaktion auf die seit Jahrzehnten wachsende Zahl von Inhaftierungen und auf die sprunghaft angestiegene Zahl von Tötungen durch Polizeikräfte, von denen einige auf Video festgehalten wurden. Sie ist aber auch ein Ausdruck der Enttäuschung über Obama. Staatliche Gewalt gegen Afroamerikaner ist kein neues Phänomen. Dass sich nichts daran änderte, als ein schwarzer ­Präsident das Weiße Haus regierte, überzeugte viele junge Afroamerikaner von der Unfähigkeit des Establishments, einen strukturellen Wandel herbeizuführen. Nur Druck von der Straße könnte diesen bringen.

Hätte es Black Lives Matter schon zu Zeiten der Wahlkampagne Bill Clintons gegeben, hätte er sich wohl gegen sie gewandt. Immerhin hatte ­Clinton 1992, nur drei Wochen vor den ersten Vorwahlen die Exekution von Ricky Ray Rector in Arkansas beaufsichtigt. Rector war ein geistig behinderter Afroamerikaner, der zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung nicht einmal mehr wusste, dass er Menschen erschossen hatte. Und im Juni 1992, nach Unruhen in Los Angeles, kritisierte Clinton die Rapperin Sister Souljah scharf, weil sie über afroamerikanische Demonstranten gesagt haben soll, dass es doch in Ordnung sei, wenn Schwarze eine Woche lang Weiße umbringen, wo doch weiße Menschen jeden Tag Schwarze töten würden. Mit seiner Positionierung gegen den Protest so vieler Afroamerikaner ergriff Clinton die Gelegenheit, sich noch stärker in der politischen Mitte zu verankern.

Heute dagegen reagiert das demokratische Parteiestablishment auf Black Lives Matter so, wie es schon auf Occupy reagiert hatte: mit Applaus. Auf der Netroots Nation-Konferenz im Juli in Phoenix unterbrachen Aktivisten von Black Lives Matter wiederholt die Reden von Bernie Sanders und dessen Mitbewerber Martin O’Malley. Einmal kamen die Aktivisten auf die Bühne und erklärten, die Konferenz fände „auf indigenem Land“ statt, dessen Grenzen unter weißer Vorherrschaft gezogen worden seien. 15 Minuten lang hielten die Aktivisten ihre Reden, während O’Malley keinen Ton von sich gab. Nicht nur das: O’Malley steckte Kritik dafür ein, dass er sich den Aktivisten gegenüber nicht noch offener gezeigt hätte – und schloss sich dieser Kritik an. Wenig später präsentierte er einen ambitionierten Plan, mit dem er Polizeigewalt und die Inhaftierungsraten reduzieren sowie das Wahlrecht per Verfassungsänderung schützen lassen wollte. Auch Sanders bat um Entschuldigung. Er heuerte einen Black Lives Matter nahestehenden Pressesprecher an, fügte seiner Website den Abschnitt „Rassengerechtigkeit“ hinzu und begann, öffentlich die Namen von Afroamerikanern zu rezitieren, die von Polizisten getötet worden waren. Hillary Clinton, die bereits geschworen hatte, die von ihrem Ehemann und anderen Demokraten in den Neunzigern eingeleitete „Ära der Masseninhaftierungen“ zu beenden, hat sich bereits zweimal mit Black Lives Matter-Aktivisten getroffen.
 

Die Basis rückt nach links

Dass Präsidentschaftskandidaten versuchen, sich ihren Wählern an der Basis anzunähern, ist in Wahlkämpfen alles andere als ungewöhnlich. Nicht der Linksruck Hillary Clintons oder der Demokratischen Partei ist deshalb ungewöhnlich, sondern die Bereitschaft der amerikanischen Öffentlichkeit, ihnen zu folgen. In den sechziger Jahren lösten Unruhen der Afroamerikaner eine entschiedene und im Verlauf der Unruhen wachsende Gegenreaktion unter Weißen aus. Heute passiert das Gegenteil. Im Juli 2014 stimmten laut Pew-Forschungszentrum 46 Prozent der Amerikaner der Aussage zu, das Land müsse „sich weiter verändern, um Schwarzen die gleichen Rechte wie Weißen zu geben“. Ein Jahr später, nach den Unruhen in Ferguson und Baltimore und nach dem Aufstieg von Black Lives Matter, waren schon 59 Prozent dieser Meinung. Zwischen Sommer 2013 und Sommer 2015 fiel laut Gallup der Anteil der Amerikaner, die sich „mit der Art und Weise, wie Schwarze in der US-Gesellschaft behandelt werden, zufrieden“ erklärten, von 62 auf 49 Prozent. Im Jahr 2015 sank das öffentliche Vertrauen in die Polizei auf den tiefsten Stand seit 22 Jahren.

Selbst in der Republikanischen Partei hat sich etwas getan. Die Anzahl der Republikaner, die Veränderungen zugunsten der Gleichberechtigung von Schwarzen für nötig hielten, erhöhte sich zwischen Januar und April 2015 laut einer YouGov-Umfrage um 15 Prozent. Das ist ein größerer Anstieg als bei ­Demokraten und unabhängigen Wählern im gleichen Zeitraum. Im vergangenen Jahr erklärte der damalige Sprecher des Repräsentantenhauses John Boehner: „Wir haben eine Menge Leute in den Gefängnissen, die meiner Meinung nach wirklich nicht dort sein sollten.“ Im Oktober unterstützte eine Gruppe konservativer republikanischer Senatoren eine demokratische Gesetzesinitiative, mit der unter anderem die vorgeschriebenen Mindeststrafen für gewaltlose Drogenkriminalität gesenkt werden sollten.

Noch interessanter ist der Ansatz von Senator Marco Rubio, dem republikanischen Kandidaten mit dem feinsten Gespür für die allgemeine Wählerschaft. Im August fragte ihn ein Fox News-Moderator nach Black Lives Matter. Anstatt die Bewegung zu kritisieren, erzählte Rubio die Geschichte eines afroamerikanischen Freundes, der in den vergangenen 18 Monaten mehrere Male von der Polizei angehalten worden sei, obwohl er nie eine Straftat begangen hätte, und von jungen Afroamerikanern, die wegen gewaltloser Delikte festgenommen und dann von überlasteten Pflichtverteidigern in einen Deal über das Strafmaß getrieben würden. Es sei die Pflicht der Regierung zu verhindern, dass junge Menschen so früh in ihrem Leben ins Gefängnis kämen und dadurch stigmatisiert würden. In den neunziger Jahren wären solche Töne von konservativen Politikern nicht zu hören gewesen. Das ist ein weiterer Hinweis, dass das Land nicht nach rechts, sondern nach links rückt.

Gleiches gilt auch für andere Bereiche. Noch vor zehn Jahren galt eine offene Unterstützung der Homoehe als politischer Selbstmord. Heute ist diese Debatte längst vorbei. Liberale drängen nun auf weitergehende Antidiskriminierungsgesetze, die Transgender-Menschen einschließen – dabei war diese Gruppe vielen Amerikanern nicht einmal bekannt, bevor Caitlyn Jenner Schlagzeilen machte. Auf den ersten Blick scheinen das für eine Gesellschaft zu viele, zu schnelle Veränderungen zu sein: Die Öffnung der Ehe verschafft Schwulen und Lesben Zugang zu einer fundamental konservativen Institution. Und die Transgender-Bewegung stellt noch eine viel radikalere Frage: Sollten Menschen ihr Geschlecht selbst bestimmen können, unabhängig von biologischen Definitionen?

Die Antwort der Nation lautet im Großen und Ganzen: Ja. Bei einer Untersuchung verschiedener Umfragen stellte das Williams Institute der UCLA School of Law fest, dass zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln der Amerikaner die Diskriminierung von Transgender-Menschen ablehnen. Außerdem zeigte sich ein exponentieller Anstieg bei jenen US-Bürgern, die Transgender-Diskriminierung als „ernstes Problem“ ansehen. Nach Aussage von Andrew Flores, der die Untersuchung durchführte, lässt sich die Einstellung einer Person zu Transgender-Rechten anhand ihrer Meinung zu Schwulen und Lesben vorhersagen. Mit anderen Worten: Die meisten Amerikaner sind zu dem Schluss gekommen, dass die Diskriminierung von Homosexuellen falsch war – und haben diese Sichtweise nun auf Transgender-Menschen übertragen. Flores spricht von einem „Mechanismus der Einstellungsgeneralisierung“.
 

Erfolge, von denen die Linke seit Langem geträumt hat

Auch in der Wirtschaftspolitik gab es nur wenig Gegenwind. Und das, obwohl Barack Obama stärker als jeder andere Präsident im vergangenen halben Jahrhundert regulierend in die Wirtschaft eingegriffen hat. In seinem ersten Amtsjahr schnürte er das größte Konjunkturpaket der amerikanischen Geschichte – inflationsbereinigt gab er mehr Geld aus als Franklin D. Roosevelt für seine gefeierte „Works Progress Administration“.

In seinem zweiten Jahr boxte Obama den allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung durch den Kongress – ein Erfolg, von dem Linke seit Langem geträumt hatten. Im gleichen Jahr unterzeichnete Obama ein Gesetz zur Regulierung der Wall Street. Außerdem gab er rund 20 Milliarden Dollar aus, um die US-Autoindustrie zu retten; er schrieb eine verbesserte Kraftstoffeffizienz von Fahrzeugen vor; verschärfte die Emissionsgrenz­werte für Kohlekraftwerke; autorisierte die Umweltbehörde zur Regulierung von CO2-Emissionen und die Food and Drug Administration zur strengeren ­Regelung des Tabakverkaufs; verdoppelte die vorgeschriebene Menge von Obst und Gemüse in Schulmittagessen; erklärte riesige Landflächen zu Wildschutzgebieten und schützte Fluss­abschnitte auf der Länge von mehr als 1000 Meilen.

Diese Eingriffe lösten zwar Verärgerung bei der republikanischen Rechten aus, aber nicht in der breiten Öffentlichkeit. In Umfragen sprechen sich die Amerikaner oft für einen schwachen Staat aus, unterstützen aber gleichzeitig viele konkrete Maßnahmen der Regierung. Als Bill Clinton 1993 Präsident wurde, übertraf der Anteil der Bürger, die eine „abgespeckte Regierung mit weniger Dienstleistungen“ einer „größeren Regierung mit mehr Dienstleistungen“ vorzogen, um 37 Prozentpunkte den Anteil der Befürworter der umgekehrten Position. Als Obama 2009 ins Amt kam, war der Unterschied auf acht Punkte zusammengeschmolzen. Und trotz seiner vielen Eingriffe in die Wirtschaft zeigte sich bei der jüngsten Umfrage im September 2014 das exakt gleiche Bild.
 

Eine andere Generation

Obwohl also scheinbar Altvertrautes über Bord geworfen wird, schreien die meisten Amerikaner nicht wie in den sechziger Jahren Zeter und Mordio. Und der wichtigste Grund dafür lautet: Wir haben es heute mit einer anderen ­Generation von Amerikanern zu tun.

In allen Politikbereichen sind es die Jungen, die am zufriedensten mit der liberalen Neuausrichtung unter Obama sind – und sie wollen noch mehr. 2014 ermittelte das Pew-Forschungszentrum: Unter-30-Jährige finden doppelt so häufig wie Über-65-Jährige, dass die Polizei „schlechte Arbeit“ bei der Gleichbehandlung der verschiedenen ethnischen Gruppen leiste. Außerdem stimmen fast doppelt so viele junge Leute der Aussage zu, wonach die Grand Jury mit der Nichtverurteilung von Darren Wilson im Fall Michael Browns falsch gelegen habe. Laut YouGov hält mehr als jeder dritte Amerikaner über 65 ein Transgender-Leben für „moralisch falsch“; unter den Unter-30-Jährigen denkt weniger als ein Fünftel so.

Die so genannten „Millennials“ – die um die Jahrtausendwende aufgewachsenen Amerikaner zwischen 18 und 35 Jahren – begreifen auch die Zuwanderung im Vergleich zu den Über-65-Jährigen deutlich seltener als eine „Belastung für den Staat“ (minus 21 Prozentpunkte), sondern sehen sie eher als „Chance“ (plus 25 Prozentpunkte). Die Millennials haben tendenziell auch eine wohlwollende Einstellung gegenüber Muslimen. Der Anteil der Amerikaner, die „traditionelle Werte verteidigen“ wollen, ist heute auf dem niedrigsten Stand, seit das Umfrageinstitut Gallup die Frage 1993 erstmals gestellt hatte. Gleichzeitig ist der Prozentsatz derer, die sich selbst als „sozialliberal“ bezeichnen, heute genauso hoch wie die Zahl der selbsternannten „Sozialkonservativen“ im Jahr 1999 war.

Dank der Millennials wächst in der Bevölkerung die Unterstützung für einen starken Staat. Laut einer Pew-Studie von 2011 wollten die meisten älteren Amerikaner Obamas Gesundheitsreform rückgängig machen, während eine Mehrheit der Millennials sich sogar eine Ausweitung vorstellen konnte. Die jungen Menschen waren außerdem Occupy Wall Street um 25 Prozentpunkte stärker zugeneigt als die älteren Generationen und hatten eine um 36 Punkte positivere Haltung zum Sozialismus – den die Millennials dem Kapitalismus sogar mit 49 zu 46 Prozent vorzogen.
 

Säkular, ethnisch vielfältig, polyglott

In den Medien wird die amerikanische Politik gern als Kampf zwischen immer liberaleren Demokraten auf der einen und immer konservativeren Republikanern auf der anderen Seite porträtiert. Auf die Jungen trifft das nicht zu. Junge Demokraten mögen liberaler sein als die älteren, aber das sind die jungen Republikaner auch. Laut Pew findet eine klare Mehrheit des republikanischen Nachwuchses, dass Zuwanderer Amerika stärker machten. Jedem Zweiten sind die Profite der Unternehmen zu groß und knapp die Hälfte der jungen Republikaner sind der Meinung, dass strengere Umweltgesetze ihren Preis wert seien.

Mit diesen Antworten distanzieren sich die Jüngeren deutlich von den Älteren in der Grand Old Party. Junge Republikaner sind sogar eher als die ältesten Demokraten bereit, Marihuana zu legalisieren – und zählen fast genauso häufig zu den Befürwortern der Homoehe. Fragt man die republikanischen Millennials nach ihrer ideologischen Einstellung, charakterisieren sich mehr als zwei Drittel von ihnen entweder als „liberal“ oder „gemischt“, während sich weniger als ein Drittel als „konservativ“ bezeichnen. Unter den ältesten Republikanern ist die Verteilung fast genau umgekehrt.

Nun ist es laut einer Studie der American Sociological Revue keineswegs so, dass Amerikaner mit dem Alter auch konservativer würden. Und die Millennials sind nicht vor allem deshalb links, weil sie jung sind, sondern weil sie durch den Irak-Krieg und die Finanzkrise geprägt wurden und weil sie die säkularste, ethnisch vielfältigste und am wenigsten nationalistische Generation in der amerikanischen Geschichte sind.

Nun darf man sich getrost fragen, welche Rolle das spielt. Schließlich werden die USA nicht nach Umfragen regiert. Neustrukturierungen von Wahlkreisen, der Entzug des Wahlrechts bei straffällig gewordenen Bürgern und die Aufweichung der Gesetze zur Wahlkampffinanzierung tragen zur enormen Distanz zwischen Politikern und der Lebenswelt und den Ansichten der Durchschnittsamerikaner bei. Das nützt vor allem der Rechten. Trotz dieser strukturellen Probleme ist es Obama gelungen, eine konsequentere und progressivere Agenda durchzusetzen als seine beiden demokratischen Vorgänger. Es gibt Grund zu der Annahme, dass – unabhängig vom Sieger der Wahl im November – auch der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin progressiver sein wird als der Vorgänger der jeweiligen Partei.
 

Millennials und Minderheiten

Laut Microsofts Vorhersage-Plattform Predictwise stehen die Chancen für einen Einzug der Demokraten ins Weiße Haus bei über 60 Prozent. Das liegt nicht daran, dass Hillary Clinton, die (noch) die besten Aussichten hat, als Kandidatin nominiert zu werden, eine außergewöhnlich starke Kandidatin wäre. Vielmehr besteht die Chance, dass die Republikaner einen außergewöhnlich schwachen Kandidaten ins Rennen schicken könnten. Predictwise beziffert die Chance, dass die Republikaner mit Marco Rubio ihren wohl stärksten Gesamtwahlkandidaten nominieren werden, auf 57 Prozent (vor den ersten Vorwahlen waren es sogar nur 45 Prozent gewesen). Doch laut dem Portal besteht immerhin eine 37-prozentige Chance, dass die Wahl auf Donald Trump oder Ted Cruz fällt. In diesem Fall wäre der Wahlsieg für Hillary Clinton wohl so gut wie sicher.

Sollte Clinton gewinnen, wird sie in der Innenpolitik vermutlich links von Obama agieren. In der Außenpolitik, wo es keine starke linke Bewegung wie Occupy und Black Lives Matter gibt, sieht die politische Dynamik anders aus. Clintons bisherigen Wahlkampfideen deuten bereits auf einen Kursschwenk nach links hin. Beobachter ihrer Kampagne gehen davon aus, dass eine bezahlte Erziehungs- und Pflegezeit, niedrigere Studiengebühren und ein sinkendes Verschuldungsrisiko sowie ein allgemeiner Zugang zu Vorschulen auf Clintons Tagesordnung stehen werden.

Ebenso wie Clinton links von Obama regieren würde, wird ein möglicher republikanischer Wahlsieger wahrscheinlich links von George W. Bush regieren. Zunächst einmal aber wäre für den Sieg ein besonderes Bündnis vonnöten. Als Bush 2000 die Wahl gewann, durften erst sehr wenige der Millennials wählen. In diesem Jahr werden sie dagegen etwa ein Viertel der Abstimmenden stellen.

Während im Jahr 2000 nur 20 Prozent der Wähler Afroamerikaner, Hispanics und Asiaten waren, werden es diesmal schon über 30 Prozent sein. Whit Ayres, ein Berater des Wahlkampfteams von Marco Rubio, macht folgende Rechnung auf: Selbst wenn der republikanische Kandidat die Stimmen von 60 Prozent der Weißen holt (was in den vergangenen 40 Jahren lediglich ­Ronald Reagan 1984 gelungen ist), wird er beinahe 30 Prozent unter den Minderheiten erzielen müssen, um ins Weiße Haus einzuziehen. Mitt Romney erreichte bei der letzten Wahl gerade mal 17 Prozent.

Jeder republikanische Präsidentschaftsanwärter ist also gezwungen, die Stimmen der Millennials und der Minderheiten zu gewinnen, obwohl diese sowohl in kulturellen als auch in wirtschaftlichen Fragen eher nach links tendieren. Deshalb könnte ein Präsident Rubio eine Einwanderungsreform anstreben, die zwar auf strikte Durchsetzungsmechanismen baut, aber auch einen Weg in die Legalität und vielleicht sogar in die Staatsbürgerschaft aufzeigt. Tatsächlich unterstützt Rubio ein solches Modell – sehr zum Ärger seiner Partei. Wäre ein Präsident Rubio konservativer als Obama? Zweifellos. Eine Ära liberaler Dominanz bedeutet nicht, dass die ideologischen Differenzen zwischen Demokraten und Republikanern verschwinden. Sie bedeutet aber, dass sich das ideologische Spielfeld und gewissermaßen dessen Mittellinie nach links verschieben. Der nächste republikanische Präsident wird das Land deshalb nicht in die Prä-Obama-Ära zurückbringen können.
 

Reagan der Demokraten

Barack Obama strebte die Präsidentschaft mit dem Ziel an, der Reagan der Demokraten zu werden: ein Präsident, der Amerikas ideologischen Kurs nachhaltig prägt. Das ist ihm gelungen. Obama verschob die politische Agenda so radikal nach links wie Reagan sie nach rechts verschoben hatte. Genau wie unter Reagan wurde diese Veränderung von der Öffentlichkeit eher geduldet als zum Gegenstand einer Rebellion gemacht. Reagans krönender Erfolg war es, dass sich die Demokraten an die von ihm geschaffene politische Welt anpassten. Jetzt besteht Grund zu der Annahme, dass der nächste republikanische Präsident ebenfalls gezwungen sein wird, Zugeständnisse an die politische Realität nach Obama zu machen.

Doch auch dieser Politikzyklus wird irgendwann an sein Ende kommen. Ein dauerhafter Anstieg der Kriminalität etwa könnte zu Spannungen zwischen afroamerikanischen Aktivisten und jungen Weißen oder Latinos führen. Ein stockendes Wirtschaftswachstum und eine steigende Staatsverschuldung könnten die Öffentlichkeit gegen die interventionistische Wirtschaftspolitik der Regierung aufbringen – und die Demokraten dazu zwingen, die Schaffung von Wohlstand wieder über Verteilungsfragen zu stellen.

Wann die liberale Ära enden wird, steht in den Sternen. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie noch eine ganze Weile anhalten könnte.

Peter Beinart ist Associate Professor für Journalismus und Politikwissenschaft an der City University of New York und Senior Fellow der New America Foundation.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 118-129

Teilen