IP

01. Juni 2005

Warten auf politisches Tauwetter

Die Türkei muss den Völkermord an den Armneniern aufarbeiten

Der Völkermord an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs forderte mehr als eine Million Opfer. Trotz des internationalen Drucks bestreiten die türkischen Behörden bis heute eine systematische Verfolgung und Vernichtung. Nun verlangt auch der Deutsche Bundestag von Ankara eine Aufarbeitung der Geschichte und bekennt sich zur Mitverantwortung Deutschlands.

Die Versammlung, die am 15. März dieses Jahres auf dem Berliner Steinplatz stattfand, hatte etwas Gespenstisches an sich. Ein Kranz sollte niedergelegt werden, um des letzten Großwesirs des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg zu gedenken, der nicht weit von hier auf der Hardenbergstraße am 15. März 1921 gegen elf Uhr morgens von einem armenischen Attentäter erschossen worden war. Es war das erste Mal seit 84 Jahren, dass man dieser Tat an historischem Ort öffentlich gedachte.

Die Türkische Gemeinde Berlin hatte aufgerufen, um, so deren Vorsitzender Taciddin Yatkin, die Öffentlichkeit auf ein Problem aufmerksam zu machen. „Talaat Pascha wurde ermordet und sein Mörder für schuldig befunden“, erklärte Yatkin den Sinn der Veranstaltung: „Dennoch haben ihn damals die Deutschen freigelassen, unter dem Vorwand, der Mann sei geisteskrank gewesen.“1 Die Deutschen, darin war sich der verstreute Haufen am Steinplatz einig, seien den Türken aus diesem Grund noch etwas schuldig.

Tatsächlich hatte das Landgericht Moabit den Mörder des nach dem Krieg in Berlin unter falschem Namen untergetauchten und in Istanbul von einem Kriegsgericht wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilten Großwesirs Talaat in einem Aufsehen erregenden Prozess im Juni 1921 auf der Grundlage eines medizinischen Gutachtens wegen Unzurechnungfähigkeit zur Zeit der Tat freigesprochen. Höchst effektvoll hatte zudem die Verteidigung den Attentäter Soghomon Tehlirjan in einem leidenschaftlichen Plädoyer als eine Art armenischen Wilhelm Tell porträtiert.2

Talaat Pascha, das war der deutschen Öffentlichkeit bekannt, und das hatte der Gerichtsprozess noch einmal verdeutlicht, galt als Drahtzieher der Armenierverfolgungen, denen in den Jahren 1915 bis 1917 über eine Million Armenier im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen waren. „Obwohl die Verteidigung von Tehlirjan auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädierte“, kommentierte die New York Times damals das überraschende Urteil, „war seine wirkliche Verteidigung die entsetzliche Vergangenheit von Talaat Pascha, wodurch der Freispruch des Armeniers von der Anklage des Mordes in deutscher Sicht zum Todesurteil für den Türken wurde.“3 Es war einer der denkwürdigsten Prozesse, der jemals in Deutschland stattgefunden hat.

Mit Sicherheit wäre Tehlirjan nicht freigesprochen worden, wenn dem Gericht die Hintergründe der Tat bekannt gewesen wären. Tehlirjan war persönlich nicht das Opfer, als das er sich vor Gericht präsentiert hatte. Er war ein armenischer Revolutionär, wie ihn die türkische Propaganda nicht besser hätte zeichnen können, und er hatte die Tat keineswegs nur aus persönlichen Motiven, sondern im Auftrag einer armenischen Racheorganisation mit dem Namen „Nemesis“ begangen. Nachdem das Kriegsgericht 1919 über Talaat und 16 weitere Haupttäter wegen des Völkermords an den Armeniern, wörtlich wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“, das Todesurteil verhängt hatte, musste man feststellen, dass die meisten von ihnen flüchtig waren. „Nemesis“ hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese flüchtigen Delinquenten zu jagen. „Sollte das Schicksal, oder der Gendarm, sie eines Tages erreichen“, kommentierte das Berliner Tageblatt damals die Istanbuler Urteile gegen Talaat und andere, „so hätte man keinen Anlass, diesen Tag als Trauertag zu begehen“.4 Das war jetzt geschehen: „Nemesis“ hatte im Herbst 1920 Tehlirjan nach Berlin geschickt und ihm im März 1921 die Weisung erteilt, „Talaat sofort zu töten“.

Wer war Talaat Pascha?

Talaat Pascha war ein Mann von hoher Intelligenz und absolut funktionalen Moralvorstellungen. „Ich bin der Überzeugung, dass die Welt es bewundert und moralisch für gerechtfertigt hält, wenn eine Nation die eigenen Interessen an die erste Stelle setzt und damit Erfolg hat“,5 pflegte er zu sagen. Nach der Revolution gegen Sultan Abdul Hamid II. von 1908 und besonders seit dem jungtürkischen Staatsstreich von 1913 war er schnell zum einflussreichsten Mann des in Istanbul diktatorisch herrschenden nationalistischen Komitees für Einheit und Fortschritt aufgestiegen. Mehmet Talaat, so der deutsche Botschafter in der Türkei Wolff-Metternich in einer Depesche an Reichskanzler Bethmann-Hollweg Ende 1915, war ohne Zweifel die kaltblütige „Seele der Armenierverfolgungen“.6 Talaat Pascha war aus diesem Grund die Nr.1 auf der Liste von „Nemesis“.

Viel wichtiger für die Außenwirkung und Bedeutung des Prozesses als der terroristische Hintergrund Tehlirjans war jedoch, dass er die Welt mit seinen Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten auf ein völkerrechtliches Dilemma aufmerksam machte. Robert M. Kempner, der als junger Berliner Jurastudent unter den Zuschauern im Moabiter Landgericht saß und später zum zweiten Hauptankläger der Nürnberger Prozesse werden sollte, hatte das sofort begriffen. „Zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte“, meinte er später, sei, wenn nicht de jure, so doch durch den Gesamtverlauf des Prozesses und seine Außenwirkung, der Grundsatz zur Anerkennung gekommen, „dass grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten“.7

Fast noch bedeutsamer als dieser Kommentar Kempners ist die unmittelbare Reaktion Raphael Lemkins, des späteren „Vaters der UN-Völkermordkonvention“, der als Student im damals ostpolnischen Lvov (Lemberg) von der Ermordung Talaat Paschas und dem Prozess gegen Soghomon Tehlirjan durch die Zeitung erfahren hatte. „Tehlirjan hatte sich selbst zum Vollstrecker des Gewissens der Menschheit ernannt“, notierte er sich ins Tagebuch: „Doch kann jemand sich selbst dazu ernennen, Gerechtigkeit auszuüben? Wird eine solche Art von Gerechtigkeit nicht eher von Emotionen beherrscht sein und zur Karikatur ausarten? In diesem Augenblick erhielt der Mord an einem unschuldigen Volk eine größere Bedeutung für mich. Ich hatte zwar noch keine endgültigen Antworten, aber das sichere Gefühl, dass die Welt ein Gesetz gegen diese Form von rassisch oder religiös begründetem Mord erlassen musste. (...) Souveränität, meinte ich, kann nicht als das Recht missverstanden werden, Millionen unschuldiger Menschen umzubringen.“8

Hinter den wilhelminischen Mauern des Landgerichts in der Moabiter Turmstraße wurde im Juni 1921 ein kleines Kapitel Weltgeschichte geschrieben. Raphael Lemkin, der sich als Jurist seit Ende der zwanziger Jahre mit dem Problem der Aggression von Staaten gegen ihre Minderheiten und den Möglichkeiten internationaler Gerichtsbarkeit beschäftigt hatte, war dabei ganz wesentlich durch die Erfahrungen des Völkermords an den Armeniern und die Widersprüchlichkeiten des Aufsehen erregenden Prozesses gegen Soghomon Tehlirjan in Berlin beeinflusst worden. Seine Abhandlung über die Besatzungspolitik der Achsenmächte, die er 1944 als Professor für Völkerrecht in Yale publizierte und die zum ersten Mal den Begriff „Genozid“ genau definierte, war eine der wichtigsten Quellen für die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Inzwischen hatte ein weit größeres Verbrechen – die Vernichtung der europäischen Juden durch die deutschen Nazis – die armenische Urkatastrophe im Ersten Weltkrieg überschattet.

Ende April 2005 waren die Ereignisse in Anatolien während des Ersten Weltkriegs Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag, die im Juni fortgesetzt wird. Die Deutschen sollten sich hüten, den von ihnen verursachten Holocaust zu relativieren, indem sie die „armenischen Vorfälle“ in eine Vergleichsperspektive rücken, meinte schon vorher warnend der ehemalige türkische Diplomat Gündüz Aktan.9 Für Aktan hat es einen Völkermord an den Armeniern ohnehin nie gegeben. Das ist nach wie vor auch die offizielle Haltung der türkischen Politik. Der türkische Botschafter Mehmet Ali Irtemcelik bezichtigte „unsere Freunde in den Unionsparteien“, die den interfraktionellen Antrag im Bundestag initiiert hatten, sie würden damit eine „plumpe Verleumdung der türkischen Geschichte“ betreiben und „insbesondere unsere hier lebenden Bürger (...) beleidigen und auf diese Weise den Integrationsprozess (...) beeinträchtigen“, weil sie sich mit ihrer Initiative zum „Sprecher des fanatischen armenischen Nationalismus“ gemacht hätten.10 Noch klarer, aber der Sache nach nicht wesentlich anders, ging Mitte März ein Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei in Istanbul mit den Deutschen ins Gericht. „In der Armenierfrage sind wir die Ankläger“,11 meinte er trotzig. Das sind, vorsichtig formuliert, recht asymmetrische Argumentationsmuster.

Die Wahrheit ans Licht bringen

Die türkische Politik wird es sich gefallen lassen müssen, dass ein nicht unerheblicher Teil der internationalen Öffentlichkeit da anderer Meinung ist, und das nun schon seit 90 Jahren. Was mit Pogromen und Massakern im Frühjahr 1915 in den ostanatolischen Provinzen begann, hatten die alliierten Kriegsmächte Frankreich, Großbritannien und Russland bereits am 25. Mai in einer gemeinsamen offiziellen Erklärung als „Verbrechen der Türkei gegen die Menschlichkeit und Zivilisation“12 bezeichnet. Zu dieser Zeit befanden sich die großen Deportationen, mit denen in den folgenden Monaten ganz Anatolien mit Ausnahme der Hauptstadt Istanbul und der Hafenstadt Smyrna (Izmir) von Armeniern regelrecht entvölkert wurde, allerdings erst im Vorbereitungsstadium. Einen Monat später waren bereits über 200 000 Armenier aus dem oberen Euphrattal und den umliegenden Gebieten vertrieben.

Und es war erst ein Anfang. „Seitdem hat die Pforte beschlossen, diese Maßregel auch auf die Provinzen Trapezunt, Mamuret ul-Aziz und Siwas auszudehnen“, meldete der deutsche Botschafter Wangenheim am 7. Juli 1915 aus Istanbul an Reichskanzler Bethmann-Hollweg nach Berlin.13 Bei diesen Deportationsmaßnahmen der Regierung, hatte Talaat wörtlich Generalkonsul Mordtmann gegenüber zugegeben, handle es sich um nichts anderes als darum, „die Armenier zu vernichten“.14 Die türkische Regierung, so Talaat, wolle den Weltkrieg dazu benutzen, „um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslands gestört zu werden“.15 Mit einer methodischen Gründlichkeit, berichtet die New York Times im August, seien die Türken dabei vorgegangen, die so niemand von ihnen erwartet hätte.16

Nichts davon ließ sich verbergen. Überall im Land gab es deutsche, österreichisch-ungarische und bis 1917 auch amerikanische Konsulate. Es gab amerikanische und deutsche Missionsstationen, Angestellte der Bagdadbahn, deutsche und österreichische Militärs. Das, was sie gesehen und erlebt hatten, haben sie in detaillierten Berichten an ihre Vorgesetzten weitergegeben. „Diese Aussiedlung großen Maßstabs kommt Massakern gleich“,17 meldet das deutsche Konsulat im ostanatolischen Erzurum Anfang Juni 1915. Die Vertreibung bedeute in der Art und Weise, wie sie ausgeführt werde, „eine absolute Ausrottung“.18 Ende Juni telegraphiert Konsul Bergfeld aus Trapezunt: „Ich teile die Ansicht meiner sämtlichen Kollegen, dass der Transport der Frauen und Kinder unter den (...) geschilderten Verhältnissen an Massenmord grenzt.“19 Im Juli beobachtet Konsul Rößler aus Aleppo, wie einen ganzen Monat lang täglich zusammengebundene Menschenbündel den Euphrat hinuntertreiben. „Die Leichen waren alle in der gleichen Weise, zwei und zwei auf Rücken, gebunden“, meldet er an Reichskanzler Bethmann-Hollweg in Berlin, was in seinen Augen darauf hindeutet, „dass es sich nicht um Metzeleien, sondern um Tötung durch Behörden handelt“.20

Nach wie vor lagern allein im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin Unmengen von Akten aus dieser Zeit, aus denen man manchmal ganze Ta-gesabläufe im Detail rekonstruieren kann und aus denen die Selektions-, Massaker- und Sammelplätze, die Zeit, der Umfang, der Mechanismus, die politischen Verantwortlichen der Vernichtungspolitik und die mörderischen Aktivitäten der SS-ähnlichen „Spezialorganisation“ mit dem Namen Teskilati Mahsusa genauestens hervorgehen. Auf sie hat der dem Bundestag vorliegende Antrag ausdrücklich Bezug genommen. Der Vorwurf von Botschafter Irtemcelik, man habe sich nicht die Mühe gemacht, „Quellen außerhalb der armenischen Propagandamaschinerie hinzuzuziehen“, spricht da nicht gerade für eine entwickelte Dialogkultur. Ist das deutsche Auswärtige Amt vielleicht eine insgeheim besonders wirksame „armenische Propagandamaschinerie“?

Der 7. Juli 1915 war für die deutsche Bewertung der Vorgänge in der Türkei, wie man den Akten des Auswärtigen Amtes entnehmen kann, ein einschneidendes Datum. Bis dahin hatte man lange Zeit lokal begrenzte Maßnahmen vermuten können, und auch die tödlichen Konsequenzen der angeblich kriegsbedingten Deportationen hatten sich erst mit der Zeit und durch die Fülle übereinstimmender Berichte zu einem zweifelsfreien Bild verdichtet. Seit dem 7. Juli stand für Botschafter Wangenheim in Konstantinopel und für die Reichsregierung unter Kanzler Bethmann-Hollweg in Berlin jedoch eindeutig fest, dass die türkische Regierung mit ihrer Deportationspolitik „tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“.21 Dieses Urteil, dass es sich bei der türkischen Armenierpolitik um eine von der politischen Zentrale geplante Vernichtungspolitik gehandelt hat, ist in Berliner Regierungskreisen seitdem nie in Frage gestellt worden, auch wenn die Militärzensur und die diplomatischen Vertretungen im Ausland bemüht waren, so wenig wie möglich davon nach außen dringen zu lassen.

Eine politisch gewollte und organisierte Vernichtung

Keineswegs ist die Frage des Völkermords an den Armeniern ein Problem, das in seinem Wahrheitsgehalt immer noch grundsätzlich von Historikern zu klären ist, wie die türkische Regierung und auch Botschafter Irtemcelik gern behaupten. Es hat, das wussten am besten die engsten Verbündeten der Türkei im Ersten Weltkrieg, nachweislich eine politisch gewollte und organisierte Vernichtung der osmanischen Armenier gegeben. „Nach allem Vorgefallenen kann folgendes als sicher angenommen werden“, urteilt der mit den inneren Strukturen der ausführenden Paramilitärs und der Rolle der mit ihnen verbundenen politischen Kommissare des Komitees bestens vertraute Oberstleutnant Stange in einem Bericht an die deutsche Militärmission in der Türkei: „Die Austreibung und Vernichtung der Armenier war vom jungtürkischen Komitee in Konstantinopel beschlossen, wohlorganisiert und mit Hilfe von Angehörigen des Heeres und von Freiwilligenverbänden (der SS-ähnlichen Teskilati Mahsusa, R.H.) durchgeführt.“22

Die Regierung des Deutschen Reiches kannte die tatsächlichen Verhältnisse nur allzu gut. „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten“, hatte Reichskanzler Bethmann-Hollweg als Devise ausgegeben, „gleichgültig ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht“.23 Ohne den Schutz des verbündeten Deutschen Reiches wäre der Völkermord an den Armeniern nicht möglich gewesen. Einzelne deutsche Offiziere waren sogar direkt in das Deportationsgeschehen involviert.24 Deutschland hätte aber immerhin, wie es beispielsweise Botschafter Wolff-Metternich gefordert hatte, der von ihm abhängigen Türkei „Furcht vor den Folgen einflößen“ und „in unserer Presse den Unmut über die Armenierverfolgungen zum Ausdruck“ bringen können.25 Doch davon wollte niemand etwas wissen. „Einen Bruch mit der Türkei wegen der armenischen Frage herbeizuführen“, meinte das Auswärtige Amt, „hielten und halten wir nicht für richtig“.26 Für diese Haltung wurde im April im Bundestag eine deutsche Entschuldigung bei den Opfern eingefordert und auch der Türkei eine entsprechende Geste für ihre ursächliche Verantwortung nahe gelegt.

Nach wie vor reagiert die offizielle türkische Politik so, als habe man ihr den Krieg erklärt, wenn vom Völkermord an den Armeniern die Rede ist. Die Argumente der Leugnung sind dabei immer noch dieselben wie im Ersten Weltkrieg. Es ist unvorstellbar, aber wahr, dass im Frühjahr 2003 ein Ministerialerlass des türkischen Bildungsministers sämtliche Schulen der Sekundarstufe aufforderte, einen Aufsatzwettbewerb zum Thema „Die Rebellion der Armenier im Ersten Weltkrieg und ihre Taten“ durchführen zu lassen. Ein frei gestelltes Thema für mündige Schüler eines demokratischen Landes ist das allemal nicht.

Zwischen zehn- und zwanzigtausend Türken sind tatsächlich armenischen Racheaktionen, meist in den zeitweilig von Russland okkupierten Gebieten Ostanatoliens in den späteren Kriegsjahren, zum Opfer gefallen. „Doch die Frage ist nicht“, meint der in Istanbul lehrende Historiker Halil Berktay, „ob sie nur verhältnismäßig wenige töteten und die Osmanen viele. Die Sache ist vielmehr so, dass die Aktivitäten armenischer Guerillabanden generell nur in lokalem Maßstab stattfanden und isolierte kleine Aktionen darstellten.“27 Von einer allgemeinen, die Existenz des Osmanischen Reiches bedrohenden „Rebellion der Armenier im Ersten Weltkrieg“ kann also, laut Berktay, aus der wissenschaftlichen Sicht des Historikers keine Rede sein.

Das deutsche Konsulat in der damaligen ostanatolischen Grenzstadt Erzurum hat jeden Plan einer armenischen Rebellion in den ersten Kriegsmonaten sogar energisch bestritten, als dort im Mai/Juni 1915 die groß angelegten Entvölkerungsaktionen mit aller Heftigkeit begannen. Angesichts der Tatsache, dass sich zehntausende Deportierte von gerade einmal 30 Bewachern klaglos abführen ließen, gab es für eine bevorstehende „Rebellion“ zu Gunsten der vorrückenden russischen Armee nicht die geringsten Anzeichen. Der Konsul kannte die für die Deportation Verantwortlichen sehr genau. Nicht die Verhinderung eines Aufstands, sondern eine „militärisch unbegründete, meines Erachtens nur auf Rassenhass zurückzuführende Anordnung“,28 so seine Beobachtung, sei bei ihnen der wirkliche Grund für diese Maßnahme gewesen.

Für die türkischen Aktivisten dieser Zeit, in der das Land von dem nationalistischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“ unter der Führung Talaats diktatorisch regiert wurde, war das Denken in rassischen Kategorien alles andere als fremd. „In Wahrheit kann es für verschiedene Völker kein gemeinsames Zuhause und Vaterland geben“, hatte Ziya Gökalp, der mit Talaat eng befreundete Chefideologe des „Komitees“,29 als ethnisches Reinheitsgebot gelehrt: „Die neue Zivilisation wird von der türkischen Rasse geschaffen werden“.30 Ein vitalistischer politischer Darwinismus beherrschte die Köpfe der Aktivisten des Komitees, denen die Idee eines für die türkische Nation lebensentscheidenden Existenzkampfs seit langem eine vertraute Vorstellung war.

Denken in rassischen Kategorien

Wahrscheinlich ist die Entscheidung zu einer radikalen Lösung der armenischen Frage Mitte März 1915 auf einer Sitzung des Zentralkomitees des jungtürkischen Komitees gefallen, als eine alliierte Armada vor den Dardanellen Stellung bezogen hatte und die osmanische Hauptstadt Konstantinopel, das heutige Istanbul, bedrohte. Darauf deuten auch Berichte des deutschen Konsuls Schwarz hin, der sich am 16. März von dem Gouverneur Sabit Bey sagen lassen musste, „dass die Armenier in der Türkei vernichtet werden müssten und vernichtet würden“, weil sich ihr Reichtum und ihre Zahl derart vermehrt hätten, „dass sie eine Bedrohung für die herrschende türkische Rasse geworden seien“.31 Tatsächlich begann die systematische Verfolgung jedoch erst am 24. April, als die Alliierten mit Landungsaktionen auf der Halbinsel Gallipoli begannen, nachdem ihr Seekriegsunternehmen vom März gescheitert war. Die Vorstellung, die bedrohte Hauptstadt räumen und den Kampf von Anatolien aus neu organisieren zu müssen, machte nun für die herrschenden jungtürkischen Kader die dort lebenden Armenier zu einem in ihren Augen unerträglich gefährlichen Feind, dessen man auf die eine oder andere Weise habhaft werden musste.

Seit einer katastrophalen Niederlage im Kaukasus im Winter, bei der eine ganze osmanische Armee fast aufgerieben wurde, hatte es politische Morde und mörderische Terroraktionen gegen armenische Dörfer gegeben, weil man die Armenier pauschal für ein Desaster verantwortlich machen wollte, das in Wirklichkeit einer undurchdachten Kriegführung zuzuschreiben war. Die antiarmenische Propaganda, die mit der Suspendierung international vereinbarter Reformen in den armenischen Gebieten bereits bei Kriegsbeginn ein bedenkliches Ausmaß angenommen hatte, wurde nun noch einmal intensiviert, um eine solche Dolchstoßlegende der muslimischen Bevölkerung glaubhaft zu machen, die in diesen Monaten eher gemeinsam mit ihren armenischen Nachbarn unter den Anstrengungen des Krieges litt und kaum zu ethnischen Spannungen neigte. Das war während der Pogrome von 1895 anders, als es schon einmal große Massaker an mehr als hunderttausend Armeniern gegeben hatte. Im Frühjahr 1915 wurde jedoch, unter anderem durch mit Folter erzwungene „Geständnisse“ armenischer Führer, Intellektueller und Geistlicher, ein Feindbild regelrecht produziert, das es in dieser Schärfe zu Beginn des Krieges nicht gegeben hatte. Es sollte in den Armeniern die „Menge schädlicher Mikroben“ kenntlich machen, die nach den Worten des sehr modern denkenden Gouverneurs von Diyarbakir, des Arztes Mehmed Reschid, „den Körper des Vaterlands befallen hatten“, den man folglich einer gründlichen Therapie unterziehen musste.

Solche Säuberungsvisionen, befördert durch eine von den politischen Scharfmachern selbst erzeugte Bedrohungspsychose, öffneten sich seit Ende April stufenweise allen denkbaren Optionen, von gewaltsamen Strafaktionen und politischen Morden über die systematische Deportation bis zur Vernichtung. Sie hatten die radikale nationalistische Fraktion des herrschenden jungtürkischen Komitees zum Urheber, deren Köpfe ohnehin schon seit längerem von türkistischen Reinheitsideologien und antiarmenischen Stereotypen beherrscht waren. Ihr Hauptproblem bestand darin, dass man in dem Nationsbildungsprozess, der mit der Revolution von 1908, besonders aber nach den verheerenden Balkan-Kriegen 1912/13 eingesetzt hatte, die auf ihrer Autonomie beharrenden Armenier nicht zu Türken machen konnte.

Midhat Sükrü, der Chef der Deportationsbehörde von Aleppo, war einer von ihnen. Sükrü war jedoch nach dem Krieg bis 1938 auch Innenminister der türkischen Republik und Generalsekretär der von Mustafa Kemal „Atatürk“ gegründeten Republikanischen Volkspartei. Das sind die wirklichen Empfindlichkeiten und Verstrickungen, mit denen die sich nach wie vor über ihr kemalistisches Erbe definierende türkische Republik trotz aller unübersehbaren Anzeichen einer „Perestroika“ noch heute zu kämpfen hat.

Dabei hatte es nach dem Ersten Weltkrieg eine kurze Zeit gegeben, in der maßgebliche politische Kreise eine Aufarbeitung der Vergangenheit als notwendige Bedingung für einen politischen Neuanfang ansahen. „Hat die Nation nicht das Recht auf einen Bericht über die Gräueltaten?“ fragte der kurzzeitige Innenminister Djemal in Istanbul 1920. „Nur so wird die blutige Vergangenheit ausgelöscht.“32

1919 und 1920 hatte der türkische Kriegsgerichtshof unter dem Vorsitz von Nazim Pascha mit einer in der Geschichte bis dahin einzigartigen und beispielhaften Vergangenheitsbewältigung begonnen. „Was von uns erwartet werden kann, ist eine Gerechtigkeit im Namen der allgemeinen Menschenrechte“, so Staatsanwalt Mustafa Nazim bei der Eröffnung des Hauptverfahrens, das unter anderem dem in Berlin untergetauchten Talaat Pascha galt: „Die unschuldig Ermordeten werden wieder auferstehen.“33 Über Talaat wurde auf Grund zwingender Indizien und Zeugenaussagen am 5. Juli 1919 das Todesurteil in absentia verhängt.

Noch ist die Aufarbeitung der Vergangenheit politisch nicht gewollt

Für die politische Türkei ist dieses Kapitel ihrer eigenen Geschichte allerdings heute so gut wie inexistent, als wäre der vorbildliche Versuch einer Vergangenheitsbewältigung nur ein schlechter Traum gewesen. Das hat etwas damit zu tun, dass immer noch nationale Feindbilder wirksam sind, die überraschende Ähnlichkeiten mit denen der späten Sowjetunion aufweisen. Der Mythos des Staatsgründers bestimmt nach wie vor alles. Zwar hatte Mustafa Kemal „Atatürk“ nach dem Weltkrieg dem amerikanischen General James G. Harbord gegenüber zugegeben, dass rund 800 000 Armenier während der Deportationen umgekommen waren. Doch er hatte gleichzeitig dafür gesorgt, dass nach der Einnahme Istanbuls durch seine Nationalregierung 1922 die Kriegsgerichte aufgelöst und die Urteile revidiert wurden. Daher darf, was einmal als Recht erkannt wurde, bis heute aus nationalen Gründen in der Türkei kein Recht mehr sein.

Vielmehr muss jeder, wie zuletzt der international bekannteste türkische Schriftsteller, der bereits mehrmals als Nobelpreiskandidat gehandelte Orhan Pamuk, damit rechnen, wegen „Beleidigung der Türkei und ihrer Staatsorgane“ sowie „Aufhetzung des Volkes zum Hass“ nach den Artikeln 159 und 312 des Strafgesetzbuchs vor Gericht gestellt zu werden, wenn er öffentlich von der Vernichtung der Armenier spricht. Pamuk hatte dem Zürcher Tagesanzeiger in einem Interview gesagt: „Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht und eine Million Armenier.“ Dafür nannte ihn Hürriyet eine „elende Kreatur“.34 In seinem neuesten Roman „Schnee“ hatte Pamuks Protagonist sich in der eingeschneiten ostanatolischen Provinzstadt Kars beim Gang durch die ehemaligen armenischen Quartiere und beim Anblick zerstörter armenischer Kirchen Gedanken über die türkische Geschichte gemacht. Er wartete dabei, wie sein Land, auf das unausbleiblich eines Tages eintretende Tauwetter.

1 Cem Sey: Türken trauern um Osmanen, taz Berlin, 14.3.2005.

2 Der Prozess Talaat Pascha, Stenographischer Bericht, Berlin 1921, S. 123.

3 Why Talaat’s Assassin was Acquitted, NYT Current History, Juli 1921.

4 Berliner Tageblatt, 28.7.1919.

5 Vahakn N. Dadrian: Documentation of the Armenian Genocide in Turkish Sources, London/New York, 1991, S. 113.

6 Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 7.12.1915, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA) R 14089.

7 Robert M. W. Kempner: Vor sechzig Jahren vor einem deutschen Schwurgericht: Der Völkermord an den Armeniern. Recht und Politik, Nr. 3, 1980, S. 167.

8 Raphael Lemkin: Totally Unofficial. The Flight, Unveröffentlichte autobiographische Fragmente, S. 18/19. New York Public Library, Rare Books Division: Raphael Lemkin Papers, Reel 2.

9 Gündüz Aktan: Germany’s Responsibility, Turkish Daily News, 5.3.2005.

10 Erklärung des Botschafters Mehmet Ali Irtemcelik, Berlin, 27.2.2005.

11 Suzan Gülfirat: „Unschuldige werden zu Schuldigen“, Der Tagesspiegel, 21.3.2005.

12 Neue Zürcher Zeitung, 25.5.1915.

13 Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 7.7.1915, PAAA R 14086.

14 Aufzeichnung Mordtmann, 30.6.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 169.

15 Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 17.6.1915, PAAA R 14086.

16 New York Times, 21.8.1915.

17 Scheubner-Richter an Botschaft Konstantinopel, 2.6.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 169.

18 Scheubner-Richter an Botschaft Konstantinopel, 4.6.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 169.

19 Bergfeld an Botschaft Konstantinopel, 29.6.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 169.

20 Rößler an Bethmann-Hollweg, 27.7.1915, PAAA R 14087.

21 Wangenheim an Bethmann-Hollweg, 7.7.1915, PAAA R 14086.

22  Oberstleutnant Stange an deutsche Militärmission Konstantinopel, 23.8.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 170.

23 Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 7.12.1915; Notiz Bethmann-Hollweg 17.12.1915, PAAA R 14089.

24 Christoph Dinkel: German Officers and the Armenian Genocide, Armenian Review, 44,1/1973.

25 Wolff-Metternich an Bethmann-Hollweg, 9.11.1915, PAAA R 14089.

26 Zimmermann an Friedrich Faber, 4.10.1915, PAAA R 14088. 27 Interview Halil Berktay, Radikal, 9.10.2000.

28 Scheubner-Richter an Botschaft Konstantinopel, 26.6.1915, PAAA/Botschaft Konstantinopel 169.

32 Ziya Gökalp: The Ideal of Nationalism, in: Niyazi Berkes (Hrsg.): Turkish Nationalism and Western Civilisation. Selected Essays of Ziya Gökalp, S. 81.

33 Uriel Heydt: Foundations of Turkish Nationalism. The Life and Teachings of Ziya Gökalp, London 1950, S. 79.

31 James Bryce und Arnold Toynbee: The Treatment of the Armenians in the Ottoman Empire 1915–1926, London 1916, Doc.137.

32 Takvimi Vekayi, No. 3909, 21.7.1920. Dadrian, Turkish Sources, S. 110.

33 Taner Akcam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg, 1996, S. 209, 211.

34 Gerd Höhler: Der Tabubrecher, Frankfurter Rundschau, 6.4.2005.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 80 - 89.

Teilen