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01. Jan. 2010

Wahrheit, Gerechtigkeit, Heilung

Was für eine Aufarbeitung nötig ist

In den meisten Ländern, die schwerste Menschenrechtsverletzungen oder gar einen Völkermord erlebt haben, müssen Täter und Opfer wieder einen Modus des Zusammenlebens finden. Wie aber lässt sich ein gesellschaftlicher Frieden herstellen und eine Fortsetzung des Konflikts vermeiden? Eine Handreichung in sechs Kategorien.

Wie können Länder, in denen ein Völkermord oder schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, ihre Gesellschaften wieder stabilisieren? Welcher Mittel wollen sie sich bedienen und welche Ziele wollen sie angesichts unterschiedlicher politischer, sozialer, rechtlicher oder wirtschaftlicher Voraussetzungen erreichen? Wahrheitskommissionen in einigen lateinamerikanischen Ländern wollten meist „nur“ eine Aufklärung über die Verbrechen, die vorwiegend von den Eliten der jeweiligen Länder begangen wurden. Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission garantierte den führenden Vertretern des Apartheid-Regimes Amnestie, sofern sie ihre Verbrechen gegen die schwarze Bevölkerung gestanden, und erklärte „Versöhnung“ explizit zu ihrem Anliegen. Auch der von den Vereinten Nationen etablierte Internationale Gerichtshof für Ruanda konstatierte, dass die Bestrafung der Schuldigen des Genozids an den Tutsi zu einem „Prozess der nationalen Aussöhnung und damit zur Wiederherstellung und Bewahrung des Friedens“ diene.

Grundsätzlich stellen sich also zwei Fragen: Ist es notwendig und realisierbar, die Verantwortlichen von Massenverbrechen zu bestrafen? Und was will man mit einer Verurteilung erreichen – soll sie eine moralische Verpflichtung erfüllen, Schuldige zur Verantwortung ziehen, abschrecken oder sogar noch umfassenderen Anliegen wie einer Versöhnung dienen? Keine Post-Konflikt-Gesellschaft kann sich diesen Fragen entziehen, aber jede setzt andere Schwerpunkte. Und selbst, wenn sich die Ziele durchaus ähneln, so werden sie doch ganz unterschiedlich interpretiert. Um einen theoretischen Rahmen zu schaffen, sollen hier sechs grundsätzliche Kategorien vorgestellt werden: Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit, Heilung, Vergebung und Wahrheit. Jedes dieser Ziele ist für sich genommen von äußerster Wichtigkeit für Post-Konflikt-Gesellschaften, die sich entscheiden müssen, welche sie vornehmlich verfolgen wollen, selbst wenn diese Kategorien eng miteinander verbunden sind. Weitere Ziele wie die Herstellung von Ordnung und Sicherheit oder eine Kompensation für die Opfer können wir als Teile dieser Grundkomponenten betrachten. Sicherheit und Ordnung beispielsweise gehören zur Kategorie „Recht und Gerechtigkeit“.

Versöhnung

Das Thema „Versöhnung“ geriet erst in jüngster Zeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit; eine genaue Definition des Begriffs steht jedoch noch aus. Hier soll Versöhnung als ein Zusammenfügen der Verbindungen zwischen den Gruppen einer Gesellschaft verstanden werden, mit dem Zweck, eine sinnvolle Inter-aktion wiederherzustellen. Versöhnung bedeutet wesentlich mehr als die Abwesenheit von Gewalt, denn in diesem Übergangszustand könnten die Antagonisten einander ja schlicht aus dem Weg gehen und eine soziale Distanz der Wiederherstellung zerbrochener Bindungen vorziehen. Versöhnung umschreibt zugleich einen Prozess und ein Ziel und ist in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtet. Sie verlangt Interaktion und Kooperation unter schwierigsten emotionalen Bedingungen und erfordert eine ehrliche Aufklärung der Ursachen des Konflikts, um erneute Konflikte zu vermeiden.

Versöhnung ist nicht mit „Frieden“ zu verwechseln oder den mit dieser Kategorie verbundenen Mitteln wie Peacekeeping oder Peacekeeping-Missionen. Die Herstellung von Frieden ist aber eine notwendige Voraussetzung, um einen Prozess der Versöhnung einleiten zu können. Versöhnung unterscheidet sich auch von der Kategorie „Heilung“, die ja auf die Überwindung erlittener Traumata abzielt. Es mag durchaus sein, dass einige Gruppen in einer Gesellschaft (oft die Täter) nicht das Gefühl haben, ein Trauma erlitten zu haben. Dennoch dürften deren Beziehungen zu anderen Gruppierungen empfindlich gestört sein. Jene wiederum, die ein Trauma erlitten haben, müssen zunächst mit Gefühlen von Hass, Angst und Verlust zurechtkommen, bevor sie fähig sind, sich auf eine Versöhnung einzulassen.

Frieden

Die meisten für die Herstellung von Recht und Gerechtigkeit zuständigen Post-Konflikt-Institutionen wie die Gacaca-Gerichte in Ruanda oder das Internationale Tribunal für Ruanda fühlen sich auch dem Ziel verpflichtet, einen gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, indem sie die Drahtzieher und Täter eines Völkermords bestrafen und damit auch andere potenzielle Täter abschrecken. Tatsächlich herrschte in Ruanda lange eine „Unkultur der Straffreiheit“. Hochrangige Politiker wurden nur selten für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen. Das hat sie dazu ermutigt, Gewalt so weit zu instrumentalisieren, dass es schließlich auch zu einem Völkermord kommen konnte. Um eine Unkultur der Straffreiheit durch eine Kultur des Friedens zu ersetzen, schien eine Bestrafung der Schuldigen unerlässlich.

Unter diesem Aspekt der Abschreckung werden die Post-Konflikt-Institutionen oft als Bestandteil von Peacekeeping betrachtet. Auch der „Report of the Panel on United Nations Peace Operations“ (Brahimi-Report) betrachtet es als Aufgabe der Friedensmissionen, „Maßnahmen und Strukturen zu identifizieren, die den Frieden festigen und das Vertrauen und die Interaktion zwischen vormals verfeindeten Gruppen aufbauen können, um einen Rückfall in eine Konfliktsituation zu vermeiden“. Diese Definition umfasst zwei Aspekte von Frieden: einen „negativen Frieden“, verstanden nur als die Abwesenheit von Konflikt. Dieser Zustand muss bereits hergestellt worden sein und nun gefestigt werden. Er ist die Voraussetzung für einen „positiven Frieden“, den man gewissermaßen als Zukunftsprojekt betrachten kann und für den Vertrauen und eine größere Interaktion zwischen den verfeindeten Parteien wiederhergestellt werden müssen.

Recht, Rechtsprechung und Gerechtigkeit

Die beiden fundamentalen Fragen in Post-Konflikt-Gesellschaften – ob und wie die Täter zur Verantwortung zu ziehen wären und ob Amnestie nicht sogar eher zu einem gesellschaftlichen Frieden führen kann als eine Bestrafung – unterstreichen bereits die Bedeutung dieser Kategorie. Wie im Fall einer Versöhnung liegt aber auch in diesem Bereich kein klares Konzept vor, wie Recht und Gerechtigkeit wiederhergestellt werden können und welche Methoden zu diesem Ziel führen.

Grundsätzlich können wir drei Aufgaben einer Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit unterscheiden: vergelten, abschrecken und restaurieren. Eine vergeltende Rechtsprechung zielt darauf, den Verbrechern die Strafe zukommen zu lassen, die sie „verdienen“. Abschreckung dient selbstverständlich dazu, Straftäter davon abzuhalten, weitere Verbrechen zu begehen. Eine restaurative Rechtsprechung unterscheidet sich wesentlich von den beiden anderen Kategorien. Hier wäre eine Bestrafung der Schuldigen zwar notwendig, aber nicht ausreichend, denn sie muss Tätern und Opfern erlauben, wieder eine Beziehung zueinander herzustellen.

Diese Ziele ließen sich mit zwei verschiedenen Methoden erreichen: Durch „formale Verfahren“, die auf vorher festgelegten Rechtskodizes beruhen und bei denen eine Vernehmung und Anhörung des Verdächtigen nach festgelegten Regeln stattfinden. In einem „verhandelten Verfahren“ hingegen werden die Tathergänge vor einer Gemeinschaft erörtert. Sie debattiert über die verschiedenen Versionen des Geschehenen, die vorgetragen werden, und berät, welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollen.

Sowohl formale wie verhandelte Verfahren können die drei oben genannten Ziele einer Vergeltung, Abschreckung oder Restauration erfüllen. Vermutlich wäre eine restaurative Rechtsprechung am ehesten in verhandelten Verfahren gewährleistet. Man muss nicht nur eine Form der Rechtsinstitution wählen; vieles spricht dafür, eine Kombination zu bevorzugen.

Heilung

Die Tiefe und Schwere der physischen, emotionalen und psychologischen Traumata in einer Post-Konflikt-Gesellschaft kann man gar nicht überschätzen. In Ruanda war fast jeder einzelne Bürger von Gewalt betroffen – entweder weil er beteiligt war oder weil er selbst, Verwandte oder Freunde Opfer von Gewalt wurden. Traumata manifestieren sich oft in Rachegefühlen, Misstrauen, Wut oder Hilflosigkeit bis hin zum Suizid. Angesichts solch tiefgreifender und unterschiedlicher Bedürfnisse sind Konzepte von Heilung von größter Bedeutung, um bei den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft wieder ein Gefühl der „emotionalen Vollständigkeit“ herzustellen, das durch den Konflikt zutiefst erschüttert wurde. Zu beachten ist dabei auch, dass Traumata nicht nur durch physische Gewalt hervorgerufen werden, sondern auch durch materielle Not, die mit dem Konflikt entstanden sein kann. Es sind also umfassende Ansätze notwendig, die all diese Schichten berücksichtigen.

Bis vor kurzem konzentrierte man sich eher auf den psychosozialen Aspekt der Heilung einer ganzen Gesellschaft und weniger auf eine Heilung auf persönlicher Ebene. Dementsprechend war der Wiederaufbau nach Konflikten bislang ein Terrain vor allem für Politiker und Rechtsexperten. Mittlerweile aber unterstützen immer häufiger auch Psychologen einzelne Betroffene, um ihnen über die erlittenen Traumata hinwegzuhelfen. Dies ist fraglos äußerst schwierig, müssen doch höchst unterschiedliche Erlebnisse und Erfahrungen eruiert und „bearbeitet“ werden. Dennoch ist auch diese Ebene einer Heilung entscheidend, denn erlittene Traumata zeigen oft noch bis in die nächste oder übernächste Generation Wirkungen. Im Fall Ruandas konnten viele Hutu nicht vergessen, dass sie früher oft Opfer von Übergriffen der Tutsi gewesen waren. Mit dem Gewaltausbruch gegen Tutsi kompensierten sie ihre Opferrolle und nahmen nun selbst die Rolle des Stärkeren – und Täters – ein. Heilung ist eine essenzielle Voraussetzung für einen positiven Frieden und schließlich auch für eine Versöhnung. Sie steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage individueller Identität. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass es oft notwendig sei, Überlebende genau wie Täter wieder zu „rehumanisieren“. Opfer erfuhren größte Unmenschlichkeit. Die Täter wiederum entmenschlichen ihre Opfer, um damit ihre Gewalttaten rechtfertigen zu können – und geben dabei selbst jedes Gefühl von Menschlichkeit und Empathie auf.

Vergebung

Auch dies ist ein relativ neuer – und umstrittener – Aspekt in der Auseinandersetzung mit Post-Konflikt-Gesellschaften. Zuweilen wird dieser Begriff kritisiert, weil er in einer Weise religiös konnotiert sei, die nicht allgemeingültig ist. Andere verstehen Vergebung als Versuch, die Täter straffrei ausgehen zu lassen. Wenngleich der Begriff erst jüngst wieder in die Debatte gebracht wurde, so hat sich schon Hannah Arendt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg damit befasst. „Vergebung“, schreibt Arendt, „ist das genaue Gegenteil von Vergeltung, die den ursprünglichen Übergriff ahndet – wobei dann den Folgen der ersten Straftat keineswegs ein Ende gesetzt wird, sondern ganz im Gegenteil jedermann in diesen Prozess eingebunden bleibt.“ Direkte Vergeltung treibt den Kreislauf der Gewalt also nur an, so Arendt. Folglich ist eine Vergebung notwendig, die „nichts weiter“ verlangt als einen Verzicht auf persönliche Rache, um so einen Neuanfang und einen konstruktiveren Umgang mit dem Geschehenen zu finden. Vergebung erfordert eine aktive, zuweilen öffentliche Anerkennung der Verbrechen, die geschehen sind; sie lässt überdies den Opfern die Möglichkeit offen, Entschädigung für das ihnen zugefügte Unrecht zu verlangen oder auch auf einer Bestrafung der Täter zu bestehen.

Auf dieser Grundlage steht Vergebung eben nicht im Gegensatz zu einer Bestrafung durch ein Tribunal – sie setzt aber voraus, dass jeder Akt persönlicher Rachenahme ebenso ausgeschlossen ist wie weitere Rufe nach Vergeltung, nachdem die Täter bereits bestraft wurden. Vergebung ist auch nicht mit Versöhnung zu verwechseln, die ja eine aktive Form der Interaktion voraussetzt. Vergebung ermöglicht es, Differenzen zu einem Grad auszuräumen, der eine erneuerte Interaktion erlaubt, aber sie zwingt niemanden dazu, Umgang mit einer anderen Gruppe der Gesellschaft zu pflegen. Entscheidend ist nur der Verzicht auf den Wunsch nach persönlicher Vergeltung.

Wahrheit

In Übergangsgesellschaften ist das Thema „Wahrheit“ – die Aufdeckung der Wahrheit, die Verbreitung der Wahrheit und die Frage, wie weit sie mit anderen Zielen einhergehen kann – natürlich entscheidend und wird deshalb heftig debattiert. Die meisten Opfer wollen wissen, wer für die an ihnen begangenen Gewalttaten direkt oder indirekt verantwortlich ist. Dass Politiker in Post-Konflikt-Gesellschaften sich so intensiv mit diesem Aspekt beschäftigen, liegt auch an dem (vermeintlichen) Gegensatz, der oft zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit hergestellt wird. Oft sehen sie sich vor die Entscheidung gestellt, ob sie für die Aufarbeitung von Verbrechen Tribunale (gleich welcher Art) einsetzen sollen, deren Aufgabe es vorrangig ist, Täter zu bestrafen. Oder ob sie einer Wahrheitskommission den Vorzug geben, die ja oft im Gegenzug für das „Auspacken der vollen Wahrheit“ eine Amnestie verspricht. Wahrheit würden wir als den Versuch bezeichnen, zu verstehen, was genau geschehen ist.

Grob können wir drei Prozesse der Wahrheitsfindung identifizieren: Das Erzählen der Wahrheit, das Hören der Wahrheit und schließlich die Gestaltung der Wahrheit. Ein Erzählen der Wahrheit geschieht vorrangig durch das öffentliche Aussprechen des Geschehenen – zum Beispiel im Zuge der Beweisführung vor einem Kriegsverbrechertribunal oder im Verlauf des kathartischen Moments, der vor einer Wahrheitskommission stattfinden kann. Im ersten Beispiel dient die Wahrheit der Überführung und Bestrafung der Täter. Im zweiten kann die Wahrheit zu einer Heilung beitragen. Beim „Hören der Wahrheit“ geht es darum, wie das Geschehene aufgenommen wird. Im Rahmen einer formalen Gerichtsverhandlung geht es weniger um einen Dialog, denn dieser würde sich ja hauptsächlich auf Nachfragen der Richter beschränken. In „verhandelten Verfahren“ stünde der Dialog zwischen den Beteiligten stärker im Vordergrund, denn hier findet eine Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht statt.

Die „Gestaltung der Wahrheit“ wiederum bezieht sich auf den Bereich, in dem Parteien, die ursprünglich nicht am Prozess des Wahrheit-Erzählens oder des Wahrheit-Hörens beteiligt waren, das Geschehene bewerten. Historiker oder Politiker beispielsweise formen die Wahrheit, wenn sie bestimmte Schlüsse aus den Unterlagen von Gerichtsprozessen oder Zeugenaussagen ziehen, sie zu interpretieren versuchen oder gar für die Erteilung moralischer Lektionen nutzen. Dieser Prozess kann natürlich missbraucht werden, wenn Beweismaterial oder Zeugenaussagen manipuliert werden oder wenn Täter, die der politischen Elite angehören, versuchen, ihre eigene Geschichte zu vertuschen.

Diese Kategorien sind Anhaltspunkte für die schwierige Aufgabe eines Wiederaufbaus von Post-Konflikt-Gesellschaften. Aber sie müssen noch wesentlich gründlicher erforscht werden, wenn wir uns sinnvoll an diesem Prozess beteiligen wollen.

Dr. PHIL CLARK ist Research Fellow für sozialrechtliche Studien an der University of Oxford und Mitbegründer des Oxford Transitional Justice Research.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 17 - 22

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