Gegen den Strich

01. Nov. 2013

Vergangenheitspolitik

Konfliktbearbeitung zwischen Vergeltung und Versöhnung

Ruanda, Darfur, Kambodscha, Ex-Jugoslawien: Bürgerkriege und Genozide hinterlassen oft noch Jahrzehnte danach tiefe Spuren in den jeweiligen Gesellschaften. Wie lässt sich Geschichte „bewältigen“, welche Mechanismen können wir finden, um dem Teufelskreislauf aus Schuld und Gewalt zu entrinnen? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.

Amnestien sind ungesetzlich und schmälern 
die Aussicht auf Frieden 

Nicht unbedingt. Juristen, Politiker und Menschenrechtler werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass wir uns nicht mehr im „Zeitalter der Amnestie“ befänden, als sich Diktatoren wie Augusto Pinochet quasi selbst begnadigten. Es sei das „Zeitalter der Rechenschaft“ angebrochen, in dem Amnestien durch die strafrechtliche Verfolgung der Täter ersetzt würden, die sich des Völkermords oder ähnlicher Vergehen schuldig gemacht hätten. Amnestien stünden im Widerspruch zu internationalen Statuten und Konventionen; durch das Gewähren von Amnestien zementiere man Straflosigkeit und riskiere einen Rückfall in Krieg und Kriminalität.

So oder ähnlich lauteten die Argumente, die von Menschenrechtlern und Vertretern der Vereinten Nationen bei den Friedensgesprächen zwischen der Regierung Ugandas und der Rebellengruppe „Widerstandsarmee des Herrn“ (Lord’s Resistance Army, LRA) in den Jahren 2006 bis 2008 vorgebracht wurden. Maßgeblich erschwert wurden die Gespräche durch einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) für die LRA-Führungsriege, darunter auch für Joseph Kony. Ungeachtet des lautstarken Widerspruchs gegen die Haftbefehle im Land und dem Ruf nach weiterer Anwendung des seit 2000 geltenden „Ugandan Amnesty Act“ argumentierten internationale Beobachter, dass eine solche Amnestie internationales Recht verletzen und den Konflikt verlängern würde.

Diese pauschale Ablehnung ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens ist das internationale Recht in der Amnestie-Frage weniger eindeutig, als viele Kommentatoren suggerieren. So enthält etwa das Völkerrecht keinerlei Aus­sagen über die Zulässigkeit eines innerstaatlichen Straferlasses für die, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben. Die Juristen sind sich zudem uneins, ob sich aus dem internationalen Gewohnheitsrecht in wünschenswerter Klarheit eine Norm herauslesen lässt, die Amnestien ausschließt. Auch das Fallrecht des IStGH und der internationalen Tribunale für das ehemalige Jugoslawien, Ruanda, Sierra Leone, Kambodscha und Timor-Leste ist ziemlich unterentwickelt, was Amnestien angeht. Deshalb gibt es nur schwache rechtliche Grundlagen für die Behauptung, internationales Recht verbiete solche Amnestien.

Und politisch gesehen ist es, zweitens, gefährlich, Begnadigungen von der Palette der Optionen für eine Konfliktbearbeitung zu entfernen. Im Falle Ugandas etwa ging die innerstaatliche Amnestie auf eine landesweite Graswurzel­bewegung zurück und genoss vor und während der Friedensgespräche breite öffentliche Unterstützung. Sich in dieser Situation einer Amnestie zu widersetzen, bedeutete, sich gegen den Willen eines großen Teiles der ugandischen Bevölkerung zu stellen. Darüber hinaus führte diese Haltung die Verhandlungen in eine Sackgasse, da die LRA sich weigerte, die Gespräche fortzuführen, solange der IStGH die Haftbefehle nicht zurücknähme. Im ugandischen Fall war Amnestie – ähnlich wie bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika – nicht nur die Garantie für einen langanhaltenden Frieden, sie war schlicht die Grundbedingung, um aussichtsreiche Verhandlungen zwischen den ehemaligen Feinden überhaupt zu ermöglichen. Sobald eine Amnestie keine Verhandlungsoption mehr war, scheiterten die Friedensgespräche.

Die Amnestie-Kritiker mögen zufrieden in dem Wissen nach Hause gefahren sein, dass die Norm der Rechenschaftspflicht gewahrt blieb. Doch Frieden wurde nicht erreicht. Kurz darauf begann die LRA wieder zu kämpfen, bis heute begeht sie, überall in Zentralafrika, weitere Gräueltaten.

Für niedrigrangige Täter genügen Amnestien, Demobilisierung und Reintegration

Nein. Nach meinen Interviews mit Überlebenden in Ruanda, im nördlichen Uganda oder im Osten des Kongo würde ich eher sagen, dass in den Augen der Menschen die wichtigsten Täter selten jene gesichtslosen Anführer in der Hauptstadt sind, die die Strategien des Genozids formulieren, sondern vielmehr der Nachbar oder der Freund, der die Machete schwingt und nach dem Ende des Konflikts oft wieder nebenan lebt. Aus dieser Perspektive wird die strikte Unterteilung in Täter auf hoher und niedriger Ebene den lokalen Gegebenheiten nicht immer gerecht.

Und außerdem: Wer entscheidet, ob ein Täter der hohen oder der niedrigeren Ebene zuzurechnen ist? Üblicherweise erfolgt diese Zuordnung aufgrund des politischen oder militärischen Ranges. Es ist sinnvoll, so die Begründung, die Staatslenker und Generäle zu belangen, die den Befehl für Gräueltaten erteilten, nicht aber die einfachen Soldaten und Bürger, die diese Befehle befolgten, die gezwungen wurden, Verbrechen zu begehen oder die sonstwie in die Taten verwickelt waren. In der modernen Kriegsführung aber sind die Hierarchien der Komplizenschaft durchlässiger, insbesondere in Afrika.

Nehmen wir den Genozid in Ruanda im Jahre 1994. Natürlich spielten die politischen und militärischen Eliten die entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Planes, alle Tutsi in Ruanda zu töten. Doch ausgeführt wurde der Genozid von hunderttausenden ganz normaler Bürger. Neue Studien zeigen, dass die Täter ihre Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder aus einer Vielzahl an Gründen ermordeten, einschließlich Selbstverteidigung, Gier und Zwang. Anweisungen von zentralen Behörden waren bloß einer der Antriebe zum Töten; in einigen Teilen Ruandas spielten sie nur eine geringe Rolle.

Demzufolge ist nicht bewiesen, dass Amnestien für Soldaten und gewöhnliche Täter automatisch von Nutzen sind, besonders wenn – wie es an vielen afrikanischen Schauplätzen der Fall ist – die Täter anschließend Seite an Seite mit ihren Opfern leben. Im ruandischen Fall hätte eine Amnestie für die Täter wohl zu weiterem Blutvergießen geführt, derart hoch war das Ausmaß an Wut, Hass und Verlangen nach Rache, das nach dem Genozid herrschte. Ein gewisses Maß an Gerechtigkeit war notwendig, um Massenvergeltung auf lange Sicht zu verhindern.

Diese Überlegung untermauerte Ruandas Entscheidung – trotz beträchtlichen Widerspruchs der UN und internationaler Menschenrechtsgruppen –, jeden der Tatverdächtigen ungeachtet seines mutmaßlichen Ranges strafrechtlich durch die lokalen „Gacaca“-Gerichte zu belangen. Der Grundgedanke der „Gacaca“-Gerichtsbarkeit ist, dass jeder Bürger, der sich eines Genozid-Verbrechens schuldig gemacht hat, individuell Verantwortung übernehmen muss, um die Basis für ein künftiges friedliches Zusammenleben zu schaffen. Die Strafen umfassen eine breite Spannbreite, von gemeinnütziger Arbeit bis hin zu kurzen Gefängnisstrafen. Nach zehn Jahren „Gacaca“-­Gerichtsbarkeit und einer Reihe von Schuldeingeständnissen scheint eine gute Grundlage für harmonischere zwischenethnische Beziehungen gelegt zu sein. Der Fall Ruanda zeigt, dass man sich weniger auf Amnestien versteifen sollte, sondern sich eher Gedanken über kreative Formen von Gerechtigkeit für rangniedrige Täter machen müsste.

Rechtsprechung und Wiederaufbau sollten 
neutralen Akteuren von außen überlassen sein 

Neutral? Wenn ich Interviews in zentralafrikanischen Gemeinden führe und diese These zitiere, dann kommt in der Regel die Gegenfrage: „Wer ist neutral in unserer Situation?“ Die Menschen vor Ort gehen davon aus, dass alle – ihre eigene Regierung, die UN, internationale Anwälte, Journalisten und humanitäre Organisationen – ganz eigene Interessen haben. Auch ausländische Regierungen und Unternehmen sind oft beteiligt am Konflikt oder sie waren nicht in der Lage, die Gewalt zu stoppen, wie die Vereinten Nationen im Falle des ruandischen Völkermords. Die meisten dieser Menschen haben ihr Vertrauen in die Fähigkeit von Außenstehenden verloren, Frieden, Gerechtigkeit und eine funktionierende Infrastruktur wiederherzustellen.

Dies erklärt zum Teil, warum im vergangenen Jahrzehnt nicht nur in Afrika der Trend dahin ging, Konflikte vor Ort aufzuarbeiten, indem man sich auf die Prinzipien und Vorgehensweisen jener stützt, die direkt betroffen sind. Wenn Konfliktbearbeitung langfristig Erfolg haben soll, so die Auffassung, die an Verbreitung gewinnt, dann muss die lokale Bevölkerung umfassend in diese Aufarbeitung eingebunden werden. Dieser Gedanke steht hinter der „Gacaca“-Gerichtsbarkeit in Ruanda, sozialen Befriedungs- und Reintegrationsritualen in Norduganda oder der „Barza Inter-Communautaire“, einem interethnischen Mediationsprozess im Osten des Kongo.

Akteure von außen, seien es die Verantwortlichen für Kriegsverbrecher­tribunale oder die Angehörigen von Friedensmissionen, neigen dazu, die Bevölkerung im Namen der Neutralität auszuschließen, um sich vor sozialem und politischem Druck zu schützen. Das führt dazu, dass die Bedürfnisse der Menschen ignoriert und abstrakte Lösungen geliefert werden, die sich selten zum Nutzen jener auswirken, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind. Damit soll nicht gesagt sein, dass Aufarbeitung vor Ort das perfekte Mittel ist – sie ist oft mit schweren Mängeln behaftet. Aber was sie antreibt, sind doch ein nicht unberechtigtes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der selbst proklamierten Neutralität externer Akteure und der Wunsch, Teil einer Lösung der eigenen Konflikte zu sein.

Der IStGH ist ein neokolonialer Akteur, 
der Afrikas Interessen untergräbt

Das Problem ist ein ganz anderes. Natürlich ist es ein beliebter Vorwurf, dass sich der IStGH ausschließlich auf afrikanische Konflikte konzentriere und damit eine Art neokoloniale Einmischung in die Angelegenheiten afrikanischer Staaten betreibe. Doch die Befürworter dieser These überschätzen die Macht des IStGH. Und sie unterschätzen die Fähigkeit afrikanischer Regierungen, internationale Gerechtigkeit für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren.

Der IStGH verfügt über ein minimales Budget und über nur wenige Mitarbeiter, die zumeist in mehreren Konfliktländern gleichzeitig im Einsatz sind. Damit ist der IStGH auf die Initiative der Länder angewiesen, ihre eigenen Fälle zu untersuchen und strafrechtlich zu belangen. Der IStGH hat zudem keine eigene Polizei. Wenn der Strafgerichtshof also Ermittlungen in einem Land beginnt, obliegt es den heimischen Regierungen, Verdächtige zu verhaften und die Ermittlungen des Gerichts schützend zu flankieren. Mit der Folge, dass der IStGH häufig mit Staatsbeamten kooperieren muss, die ihrerseits verdächtigt werden, Gewalttaten begangen zu haben.

Im Falle Darfur hat die sudanesische Regierung den IStGH-Ermittlern den Zutritt zu ihrem Land verwehrt. Daraufhin waren die Vertreter des Gerichts gezwungen, sich bei ihren Ermittlungen auf die Aussagen von Zeugen zu konzentrieren, die außerhalb des Landes leben, insbesondere von sudanesischen Verbannten und Flüchtlingen. Ob diese Art von Beweisen einer genaueren Untersuchung im Gerichtssaal standhalten kann, bleibt abzuwarten.

Zur gleichen Zeit hat der sudanesische Präsident Omar al-Bashir den IStGH regelmäßig der neokolonialen Einmischung beschuldigt, um dadurch bei seinen Anhängern zu punkten. Nachdem der IStGH Bashir 2008 anklagt hatte, argumentierte der bedrängte Präsident – der hartem Gegenwind innerhalb seiner eigenen Partei und über das sudanesische politische Spektrum hinweg ausgesetzt ist – erfolgreich, dass das Handeln des IStGH gegen die Prinzipien der nationalen Souveränität und der Immunität verstoße. Im Vorfeld der sudanesischen Präsidentschaftswahlen 2010 war der IStGH die politische Steilvorlage, die Bashir brauchte.

Doch auch wenn Staaten sich bereiterklären, mit dem IstGH zu kooperieren, verstummen die Neokolonialismusvorwürfe nicht. Wie kann das Gericht der ungerechtfertigten Einmischung in Afrika beschuldigt werden, lautet das Standardargument, das Chefankläger Luis Moreno Ocampo in diesem Zusammenhang nennt, wenn die Regierungen von Ländern wie Uganda, dem Kongo oder der Zentralafrikanischen Republik die Unterstützung des IStGH selbst erbitten?

Und in der Tat überboten sich einige afrikanische Staaten geradezu im Eifer, den IStGH zu unterstützen – allerdings stets unter der Prämisse, dass im Gegenzug den Mitgliedern des Staatsapparats eine Anklage erspart bliebe. Bei meinen Untersuchungen in Uganda und dem Kongo habe ich herausgefunden, dass die Verhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und den lokalen Beamten sich mindestens über ein Jahr hinzogen, ehe man den staatsanwaltschaftlichen Empfehlungen folgte. Erst als die Regierungen von Uganda und Kongo sicher sein konnten, dass ein Eingreifen des IStGH ihren Interessen dienen würde, stimmten sie einer Beteiligung des IStGH zu. Viele Beobachter in Uganda und dem Kongo vermuten, dass die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Gerichtshof auf eine Reihe von Absprachen und Deals zurückzuführen ist, die im Vorfeld getroffen wurden.

Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass der IStGH es bisher vermieden hat, Strafprozesse gegen Mitglieder des ugandischen und des kongolesischen Staatsapparats zu führen. Und das trotz der schweren Verbrechen, die von den Regierungen gegen ihre eigenen Bevölkerungen begangen wurden. All das wirft die Frage auf, in wie starkem Maße sich der IStGH vor, während und nach Konflikten auf Absprachen mit nationalen Regierungen einlassen soll. Statt neokolonialer Einmischung besteht die Gefahr, dass afrikanische Politiker den IStGH als Instrument gegen ihre eigenen politischen Gegner nutzen, während sie sich selber vor einer strafrechtlichen Verfolgung schützen.

Vergebung ist ein religiöses Konzept, das aus der Diskussion herausgehalten werden sollte 

Sollte es nicht. Zugegeben, romantische Ideen über Vergebung, zuweilen mit religiösen Untertönen behaftet, sind problematisch, denn sie vernebeln unser Verständnis dieses an sich wichtigen Konzepts. Die Stereotypen von afrikanischen Gesellschaften als stets vergebenden und versöhnenden Gemeinschaften kommen meistens von ausländischen Journalisten und Wissenschaftlern, die vielleicht wünschen, „afrikanische Werte“ zu finden, von denen sie glauben, dass sie im Westen verlorengegangen seien – oder die damit dem Klischee von Afrika als gewalttätigem, barbarischem und hilflosem Kontinent irgend­etwas entgegensetzen wollen.

Die Idee, dass Afrikaner irgendwie nachsichtiger und versöhnlicher sind, wird auch von dem einen oder anderen führenden afrikanischen Politiker genährt, der lieber so rasch wie möglich mit der Vergangenheit abschließen möchte, statt sich mit den Folgen der Gewalt zu beschäftigen. Und dann gibt es noch die Vertreter religiöser Organisationen, die den Opfern von Konflikten einreden wollen, sie hätten die Pflicht, jenen zu vergeben, die Verbrechen gegen sie und ihre Familien begangen haben. „Jesus hat dir deine Sünden vergeben, deshalb musst du jenen vergeben, die dir unrecht getan haben“, heißt es dann.

Doch ungeachtet dieser mehr oder weniger problematischen Definitionen von Vergebung begegnen wir immer wieder Afrikanern, die ganz persönliche Prozesse von Vergebung und Versöhnung erlebt haben, ob in Ruanda oder in Norduganda. Nicht, weil sie das gleichsam kulturell in die Wiege gelegt bekommen haben, sondern indem sie mit ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrem Verlust ringen – häufig sehr lange –, um Wege zu suchen, sich selber und ihre Gemeinden wieder aufzubauen.

Die ersten Befunde eines Forschungsprojekts, an dem ich derzeit im Auftrag des amerikanischen Fetzer-Instituts arbeite, deuten auf eine große Spannbreite von Faktoren hin, die die Entscheidung von Menschen beeinflussen, zu vergeben oder sich zu versöhnen. Dazu gehören die Vermittlung von Führungspersönlichkeiten, die Intervention von Familienmitgliedern, religiöse Überzeugungen, die Beteiligung an Prozessen wie der „Gacaca“-Gerichtsbarkeit in Ruanda oder lokale Rituale, etwa in Norduganda.

In den meisten Fällen wird Vergebung nicht bedingungslos erteilt, sondern ist von Geständnissen, Entschuldigungen und einer Art von Bestrafung abhängig, was oft eine Entschädigung beinhaltet. Für andere Befragte ist Vergebung und Versöhnung unmöglich – aufgrund der Ungeheuerlichkeit der Taten, der fehlenden zeitlichen Distanz zum Konflikt, einer zu milden Bestrafung der Täter oder drängenderen Sorgen wie der um Lebensunterhalt und Ernährung der Familie.

Zu verstehen, warum manchen Menschen eine Vergebung und Versöhnung nicht möglich ist, ist genauso wichtig wie die Gründe derjenigen zu verstehen, die dies bewerkstelligen können. Einigkeit aber besteht nach den Aussagen, die ich in meiner Studie gesammelt habe, darin, dass es beim Konzept der Ver­gebung nie darum geht, die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu vergessen. Es bedeutet, den Schaden, der während des Konflikts verursacht wurde, anzuerkennen, den Täter mit dem Ausmaß des Schadens zu konfrontieren, Entschuldigung und eine Form von Entschädigung zu suchen, aber gleichzeitig deutlich zu machen, dass man keine Rache gegenüber dem Täter üben werde. Für viele Menschen, die die Folgen von Gewaltverbrechen verarbeiten, ist Vergebung ein wichtiger – wenn auch sehr schwieriger – Schritt nach vorne.

Versöhnung bleibt ein Wunschtraum, Koexistenz ist das Beste, was wir erreichen können

Das ist zu kurz gedacht. Bei der Aufarbeitung von Völkermord und ähnlichen Gewalttaten bewegen wir uns stets im Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch, das bestmögliche Ergebnis zu erreichen, und der Notwendigkeit, pragmatisch zu sein. Genozide und andere Formen der Massengewalt beeinflussen Gesellschaften auf jeder Ebene – regional, national, lokal, bilateral und individuell –, und die tiefe Wut und der Schmerz, den sie verursachen, dürfen nie gering geschätzt werden. Mancherorts wird Versöhnung als illusorisch angesehen; sie wird, wie Vergebung, vielleicht über Gebühr von religiösen Konzepten beeinflusst.

In Südafrika haben viele Kritiker zu Recht den von Erzbischof Desmond Tutu und anderen befürworteten Primat der Versöhnung als Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Verantwortung und Entschädigung kritisiert. Tutus Idee von Versöhnung schien von den Opfern zu erwarten, dass sie auf Gerechtigkeit verzichteten – der nationalen Einheit zuliebe.

Es gibt jedoch ein verbreiteteres und brauchbareres Konzept von Versöhnung. Statt der „einfachen“ Version, die schlicht das Abschließen mit der Vergangenheit umfasst, betont es die Anerkennung von Unrecht, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und einen langen, ehrlichen Dialog zwischen Opfern und Tätern. Diese Form der Versöhnung erkennt an, dass es Jahre dauern kann, bis Konfliktparteien den richtigen Weg finden, wieder vernünftig mit­einander zusammenzuleben. In diesem Sinne geht sie weit über friedliche Koexistenz hinaus.

Die Geschichte von Ruanda, Norduganda oder dem Osten des Kongo lehrt, dass Zeiten des Friedens leicht in neue Runden von Gewalt übergehen können, wenn man die tieferen Ursachen und Folgen von Konflikten vernachlässigt. In solchen Situationen kann Versöhnung ein wertvolles Konzept sein, weil es die Notwendigkeit betont, die mühsame Arbeit zu tun, die nötig ist, damit Individuen und Gemeinschaften sich wirklich mit der Vergangenheit abfinden.

Es berücksichtigt auch, dass in modernen Konflikten zehn-, manchmal hunderttausende Menschen zu Tätern werden, und ebenso viele zu Opfern – und dass die Opfer häufig aufgrund von wirtschaftlichen und anderen Zwängen keine andere Wahl haben als weiter zusammen mit den Tätern zu leben. In diesen Situationen ist Versöhnung keine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Friedliche Koexistenz reicht nicht aus, da Wut und Abneigung weiter wachsen werden und zu weiteren Gewaltausbrüchen führen können. Wenn keine Wände zwischen solchen Gemeinschaften errichtet werden können und Koexistenz jederzeit zu neuen Konflikten führen kann, wird Versöhnung unabdingbar.

Dr. Phil Clark ist Research Fellow für sozialrechtliche Studien an der University of Oxford und Mitbegründer des Oxford Transitional Justice Research.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 72-79

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