Wacklige Demokratie
Russlands schwieriger Weg in die Moderne
Der Demokratisierungsprozess in Russland scheint ins Stocken geraten zu sein, ist möglicherweise
gar vom Wege abgekommen. Henning Schröder stellt vier Neuerscheinungen vor, die sich
mit Russlands schwierigem Weg in die Moderne befassen.
Im Dezember 2003 fanden in Russland zum fünften Mal ganz regulär Parlamentswahlen statt. Eine solche Kontinuität sollte eigentlich mit der Gewöhnung an demokratische Verfahren einhergehen und für eine Konsolidierung der politischen Verhältnisse sprechen. Doch viele Beobachter waren durch den Charakter des Wahlkampfs ebenso wie durch das Wahlergebnis beunruhigt. Die Beobachtermission der OSZE stellte fest, dass diese Wahlen „viele der von OSZE und Europarat akzeptierten Regeln für demokratische Wahlen“ nicht eingehalten hätten.
Und es verheißt wenig Gutes, dass in der Duma eine „Partei der Macht“ eine Zweidrittelmehrheit erreichte, die ihren Sieg der aggressiven Unterstützung durch die Exekutive verdankte. Oppositionelle Kräfte sind nur noch schwach im russischen Unterhaus vertreten, liberal und demokratisch orientierte Kräfte gelangten gar nicht mehr ins Parlament. Es hat den Anschein, als ob der Demokratisierungsprozess ins Stocken geraten ist, möglicherweise gar vom Wege abgekommen. Das kann die europäische Politik, für die Russland ein Nachbar und ein wichtiger Partner ist, nicht gleichgültig lassen. Daher sind Studien, die sich mit dem politischen Prozess in diesem Land befassen, gerade jetzt von Bedeutung.
Einen guten Überblick über die Vorgänge in Wladimir Putins Russland gibt das neueste Buch von Margareta Mommsen, die in München Politische Wissenschaften lehrte. Der Band gibt einen knappen, gut lesbaren Überblick über die Entwicklung der russischen Politik zwischen 1991 und 2002.
Die Autorin hat den umfangreichen Stoff in zwei große Kapitel gegliedert: das erste behandelt die innere Entwicklung, von Boris Jelzins „Demokratie ohne Demokraten“ zu Putins „gelenkter Demokratie“; das zweite Russlands Suche nach einer neuen Rolle in der Welt. Mommsen zeigt den Wandel der inneren Verhältnisse, der mit Putins Amtsantritt einherging und charakterisiert Jelzins Nachfolger als einen Modernisierer mit „bonapartistischen Zügen und sowjetischer Prägung“. Und sie merkt an, dass er an die notwendigen Reformen nicht als Politiker herangeht, sondern als ein „Ingenieur des Systemwechsels“, der den Abbau von Bürokratie und Korruption auf dem Verordnungswege zu bewerkstelligen gedenkt. Im zweiten Teil würdigt das Buch Putins auf den Westen ausgerichtete Außenpolitik, zeigt aber auch, wie schwer sich die russischen außenpolitischen Eliten mit diesem Kurs tun. Die Überwindung negativer Stereotypen aus den Zeiten des Kalten Krieges, die nach wie vor das Denken einflussreicher Kreise in Russland bestimmen, erscheint der Autorin wünschbar, auch wenn sie sieht, dass sich diese Aufgabe nicht einfach lösen lassen wird.
Während Margareta Mommsen einen Aufriss der russischen Außen- und Innenpolitik des letzten Jahrzehnts gibt, konzentriert sich Margarete Wiest in ihrer Münchner Dissertation auf einen speziellen Aspekt des Demokratisierungsprozesses in Russland, auf die Frage der Institutionenbildung. Gegenstand ihrer Untersuchung ist der Föderationsrat, das Oberhaus des russischen Zweikammerparlaments. Diese Einrichtung ist bisher weder in der westlichen Literatur noch in Russland monographisch behandelt worden, daher stellt die Autorin zunächst einmal ihre Entstehungsgeschichte, die interne Organisation und die verfassungsrechtliche Stellung dar, um dann Selbstverständnis und Stellung im politischen System eingehender zu untersuchen. Sie zeigt, dass die Entwicklung des Föderationsrats eng mit zwei Prozessen verbunden ist, von deren Verlauf das Schicksal der Demokratie in Russland abhängt – mit der Parlamentarisierung und mit der Ausgestaltung des Föderalismus. Die Arbeit zeigt, dass politische Rolle und personelle Zusammensetzung der Institution immer wieder verändert wurden, abhängig von wechselnden politischen Interessen.
In den elf Jahren seines Bestehens von 1993 bis heute wechselte zwei Mal die Rekrutierung der „Senatoren“, wie man die Mitglieder des Föderationsrats umgangssprachlich gern nennt. Anfangs wurden sie direkt gewählt, dann übernahmen Gouverneure und Vorsitzende der regionalen Parlamente die Position qua Amt, heute benennen regionale Exekutiven und Legislativen jeweils einen Vertreter. Der Wechsel der Auswahlverfahren war jeweils Ergebnis tagespolitischer Überlegungen; indem Wiest am Beispiel des Oberhauses zeigt, wie Institutionenbildung eine Funktion politischer Gruppeninteressen wird, kann sie deutlich machen, wie schwach formale Institutionen in Russland heute sind, nicht zuletzt auf Grund des gering entwickelten Demokratieverständnisses der Akteure. Die Untersuchung, die als Institutionenanalyse angelegt ist, legt so Strukturschwächen des demokratischen Prozesses in Russland frei und veranschaulicht, warum Russland heute als „defekte Demokratie“ gelten muss.
Der Sammelband, den Anton Steen und Vladimir Gel’man herausgegeben haben, nähert sich dieser Frage von einer anderen Seite. Er untersucht, wie Elitenwandel und Elitenverhalten den Transformationsprozess beeinflusst haben. Es geht also nicht um Institutionen, sondern um Akteure in Gestalt von Elitegruppen. Ihre Struktur, ihr Verhalten, ihre Interessen, die Beziehungen zwischen ihnen sind Gegenstand des Bandes, der letztlich – ebenso wie Mommsen und Wiest – nach den Fortschritten der Demokratisierung und des föderalen Prozesses fragt. Soziologische Elitenforschung hat sich in den letzten Jahren in Russland etabliert – und sie hat eine Reihe beachtlicher empirischer Studien hervorgebracht, von denen die Beiträge dieses Bandes einen Eindruck geben.
Im Zentrum der Arbeiten steht 2003 nicht mehr die Frage nach der Kontinuität der sowjetischen Elite, die die Forscher in den neunziger Jahren beschäftigt hat. Heute geht es um die Binnenstruktur der russischen Elite, die Interaktion zwischen den verschiedenen Gruppen und ihre Einwirkung auf Demokratisierungsprozesse. Allerdings lassen sich die Ergebnisse der verschiedenen vorgestellten Untersuchungen nur schwer auf einen Nenner bringen, sie sind so unterschiedlich wie die Elitenfraktionen, mit denen sie sich auseinander setzten: Gouverneure, Eliten einzelner Regionen, Dumaabgeordnete, „Geschäftseliten“. Deutlich wird immerhin, dass eine national integrierte Elite, ein landesweiter Elitenkonsens gegenwärtig in Russland nicht existiert. Regionale Führungsgruppen sind anders rekrutiert und sozialisiert als „das Business“ oder die zentrale Bürokratie. Denkweise und Verhaltensmuster der einzelnen Gruppen unterscheiden sich, Bruchlinien sind erkennbar, die Akzeptanz demokratischer Werte und marktwirtschaftlichen Handelns ist mitunter recht schwach entwickelt. Die einzelnen Mosaiksteine erlauben es nicht, ein konzises Bild der neuen Führungsschicht zu entwerfen, doch wird deutlich, wie gering das Demokratieverständnis in Teilen der Elite ausgeprägt ist und wie groß die Hindernisse für eine demokratische Konsolidierung folglich noch sind.
Stimmt diese Einsicht pessimistisch, so macht ein Sammelband des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der ebenfalls lesenswert ist, zumindest ein wenig Mut, obwohl die kritischen Urteile, die er fällt, teilweise noch härter ausfallen als in den vorgenannten Arbeiten. Dieser Band besteht aus zwei Teilen: im ersten wird ein Überblick über die Menschenrechtssituation in Russland gegeben, der zweite präsentiert Organisationen.
Im ersten Teil stellen namhafte russische Autoren, darunter Sergej Kowaljow, bis 1995 Menschenrechtsbeauftragter der Duma, sowie Alexander Tscherkassow und Jurij Daniel, Führungsmitglieder von „Memorial“, die innerrussische Situation dar. Die interethnische Diskriminierung und die Intoleranz, die Genderproblematik, Fragen des Umweltschutzes, Menschenrechtsverletzungen im Militär, soziale Ungleichheit und die massiven Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenien-Krieg werden knapp und lebendig geschildert. Das Fazit dieses Teiles ist bitter: in allzu vielen Bereichen werden Menschen- und Bürgerrechte im heutigen Russland verletzt und eingeschränkt. Insbesondere der Tschetschenien-Krieg schürt ein Klima der Rechtsverletzung und wird begleitet von offiziellen Lügen, die die Gesellschaft wie ein „schleichendes Gift“ beschädigen. Demokratische Anfänge, die in den ersten Jahren der Transformation entstanden, werden im Klima der Putin-Ära erstickt. Dass aber trotz allem einige zivilgesellschaftliche Ansätze fortbestehen, zeigt der zweite Teil des Buches, der 22 Organisationen in Moskau, St. Petersburg, in Zentralrussland, im Ural, in Südrussland und Sibirien porträtiert. Das „Komitee der Soldatenmütter“ wird vorgestellt, die Antiatombewegung in Tscheljabinsk, die Frauengruppe in Nowotscherkassk und die Friedensschule in Noworossijsk. Russland, das macht dieser zweite Abschnitt deutlich, ist nicht bloß Putin und „der Kreml“. Russland, das sind auch jene, die sich – trotz verbreitetem Desinteresse und ungeachtet des Unwillens von Teilen der Obrigkeit – für die Menschen- und Bürgerrechte einsetzen. Es ist das Verdienst dieses Buches, dem deutschen Leser diese zivilgesellschaftliche Dimension Russlands vor Augen zu führen und ihn zu ermutigen, die Arbeit des demokratischen und zivilgesellschaftlichen Russlands trotz allem zu unterstützen.
Margareta Mommsen, Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht, München: C.H.Beck 2003, 260 S., 14,90 EUR.
Margarete Wiest, Russlands schwacher Föderalismus und Parlamentarismus. Der Föderationsrat, Münster: LIT Verlag 2003, 376 S., 30,90 EUR.
Anton Steen/Vladimir Gel'man (Hrsg.), Elites and Democratic Development in Russia, London: Routledge 2003, 224 S., 60,00 £.
Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Russland auf dem Weg zum Rechtsstaat? Antworten aus der Zivilgesellschaft, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2003, 239 S., 9,00 EUR.
Internationale Politik 3, März 2004, S. 93-96
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