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01. Jan. 2010

Wachsweich auf der Weltbühne

David Camerons internationaler Fehlstart

Wenn die Demoskopen nicht irren, wird David Cameron, Parteiführer der britischen Konservativen, spätestens kommenden Juni neuer Premierminister von Großbritannien. Auf außenpolitischem Parkett hat der Oppositionsführer bislang allerdings eher Rutschpartien hingelegt.

In Großbritanniens politisches Wörterbuch wird gerade eine neue Bedeutung des Wortes „gusseisern“ (iron-cast) eingetragen: als Synonym für „wachsweich“, „elastisch“ oder „flexibel“. Denn die „gusseiserne Garantie“, die der konservative Oppositionsführer David Cameron vor zwei Jahren Großbritanniens größtem Boulevardblatt The Sun gab, über den Vertrag von Lissabon komme was wolle eine Volksabstimmung abzuhalten, kassierte Cameron Anfang November schmachvoll wieder ein – nur wenige Stunden, nachdem der tschechische Präsident Václav Klaus mit seiner Unterschrift den Ratifizierungsprozess des EU-Vertragswerks vollendet hatte.

Es sei eine neue Situation entstanden, argumentierte Cameron, nachdem er sich mit Durchhalte-avancen in Richtung Václav Klaus, darunter ein handschriftlicher Brief, über dessen Inhalt viel spekuliert wurde, zunehmend isoliert hatte. Das Vertragswerk habe Gesetzrang und sei damit nicht mehr Gegenstand der Diskussion, so Cameron nun. Zumal würden mit EU-Ratspräsidenten und Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik unmittelbar neue Ämter geschaffen: „Wir können kein Referendum abhalten und diese Posten – oder den Vertrag von Lissabon – durch Zauberei verschwinden lassen. Ebenso wenig können wir darüber abstimmen lassen, ob die Sonne morgens aufgeht.“

Fehler, Feinde, falsche Freunde

Als Ersatz versprach Cameron aber bei Regierungsübernahme die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, das jede weitere Abtretung von Souveränitätsrechten an Brüssel vom Ausgang einer Volksabstimmung abhängig machen soll. Der Slogan heiße nun: „Nie wieder“ („never again“) sollte dies ohne Referendum geschehen. Das gelte nicht nur für neue Verträge à la Lissabon, sondern auch für „jeden zukünftigen Versuch“, Großbritannien in die Eurozone zu führen. Zudem kündigten Cameron und Schattenaußenminister William Hague an, mit der EU über die „Repatriierung“ bestimmter Hoheitsrechte, etwa in den Bereichen Arbeit und Soziales, Verhandlungen aufnehmen zu wollen.

Die zahlreichen Europa-Skeptiker oder -feinde innerhalb der Tories grummelten dennoch über den „Wortbruch“ oder „Verrat“. Doch Camerons interne Warnung, den schon sicher geglaubten Sieg bei den kommenden Unterhauswahlen nicht durch eine innerparteiliche Zerreißprobe zu riskieren, hat bislang gewirkt. Die Festsetzung des Wahltermins ist Vorrecht des Premierministers, die nächsten Wahlen müssen aber spätestens bis Anfang Juni 2010 stattfinden.

Es spricht Bände, dass die Kehrtwende beim Lissabon-Vertrag Camerons bislang mit Abstand staatsmännischste Aktion in der Außenpolitik war – und es spricht gegen seine Urteilskraft und sein strategisches Denkvermögen, überhaupt in diese Situation geraten zu sein.

Sie hängt zusammen mit einer gravierenden Fehlentscheidung, die Cameron, der sich als „liberaler Konservativer“ versteht, gleich nach seiner Wahl zum Oppositionsführer im Dezember 2005 traf: die Ankündigung, die Fraktion der europäischen, christlich-konservativen Parteien EVP, zu der unter anderem die deutschen Unionsparteien CDU/CDU und die UMP des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gehören, wegen deren angeblich „föderalistischen Überzeugungen“ zu verlassen.

Die Ankündigung hat Cameron vergangenes Jahr nach den Europawahlen vom Juni wahr gemacht. Die Tories gehören nicht mehr zur EVP (264 Abgeordnete), sondern haben die 55 Sitze starke Gruppe der „Europäischen Konservativen und Reformisten“ (European Conservatives and Reformists Group, kurz: ECR) gegründet, zu der neben der tschechischen „Demokratischen Bürgerpartei“ ODS von Václav Klaus und der polnischen PIS („Recht und Gerechtigkeit“), der Partei des polnischen Präsidenten Lech KaczyÄski, auch versprengte Gruppierungen vom rechten, wenn nicht gar extremistischen Rand gehören.

Berichte, dass sich unter den neuen Verbündeten der Tories Antisemiten, verkappte Neonazis und Homophobe tummeln, reißen seitdem nicht ab – zur Freude der Labour-Regierung. Demnach hielt die Partei TB/LNNK („Für Vaterland und Freiheit“) aus Lettland beispielsweise Gedenkfeiern für die lettische Waffen-SS-Legion ab und bemühte sich um eine Rehabilitation der Veteranen. Auch der ECR-Fraktionsvorsitzende und Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Michal Kaminski von der polnischen PIS, fiel 2001 durch fragwürdige, in der Tendenz antisemitische Äußerungen zum Pogrom von Jedwabne 1941 auf.

Wie das Versprechen einer Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag erschien der Austritt aus der EVP-Fraktion Cameron zunächst als wohlfeiles Manöver, um den europafeindlichen Parteiflügel ruhig zu stellen. Denn nichts fürchten die Tories mehr als den neuerlichen Ausbruch eines innerparteilichen „Bürgerkriegs“ über das Verhältnis Großbritanniens zur EU, der die letzten Jahre der Regierung von John Major überschattet hatte.

Doch stattdessen ist der Hunger des amorphen antieuropäischen „Monsters“ innerhalb der Konservativen noch gewachsen. Manche, wie der Londoner Bürgermeister und Parteiliebling Boris Johnson, trauten sich mit angedeuteten Forderungen aus der Deckung, doch gleich ein Referendum über den Verbleib in „Europa“ abzuhalten. Da bei einem hohen Wahlsieg der Konservativen viele junge, unerfahrene Abgeordnete auf den Tory-Bänken im Unterhaus Platz nehmen würden, bei denen Anti-EU-Reflexe überwiegen, dürfte sich dieser Druck nach der Wahl noch verstärken.

Gegenwind aus Berlin und Paris

Dabei wird der Parteiführung um Cameron erst allmählich das ganze Ausmaß der Selbstentmachtung bewusst, die sie sich mit Auszug aus der EVP-Fraktion zugefügt hat. Großbritanniens Konservative haben sich von ihren „natürlichen Verbündeten“ (bei Vorschlägen zur Bekämpfung der Folgen der globalen Finanzkrise etwa hat sich Cameron stark am Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel orientiert) in einem Moment abgeschnitten, in dem Europas große Staaten wie Frankreich, Deutschland, Polen und Italien von EVP-Parteien regiert werden.

Auf die Unterstützung von Merkel, Sarkozy oder Polens Minister-präsident Donald Tusk von der christlich-demokratischen „Bürgerplattform“ (PO) dürfte Cameron nach einem Wahlsieg vor allem angewiesen sein. Da trifft es sich ungünstig, dass er gerade hier in den vergangenen Monaten einiges an politischem Porzellan zerschlagen hat.

Auf Seiten der CDU – offenbar bis hoch zur Kanzlerin – sah man im Sommer den Zeitpunkt für ein deutliches Signal gekommen und versetzte den erfahrenen Leiter des Londoner Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Thomas Stehling, demonstrativ nach Madrid. Aber nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Paris wehte den Tories zuletzt schon mal ein scharfer Wind entgegen. In einer ersten Reaktion auf Camerons Erklärung zum Lissabon-Vertrag sprach der französische Europaminister Pierre Lellouche von „Autismus“ und „Selbstentmannung“ auf Seiten der Tories, und von „Trauer und Bedauern“ auf Seiten Sarkozys über die Einstellungen der Konservativen jenseits des Kanals.

Ihr halbgares Verhältnis zu Europa hat Camerons Konservativen zudem Schwierigkeiten mit der amerikanischen Re-gierung eingebracht. Bei einer Begegnung mit dem damals noch -wahlkämpfenden Barack Obama Ende Juli 2008 in London biss Cameron mit Hinweisen auf den angeblichen Antiamerikanismus der EU laut eines Berichts des linken New Statesman auf Granit; Obama habe den Wert eines Großbritanniens, das über immer -weniger Einfluss in Europa verfüge, für die amerikanische Außenpolitik nicht erkennen können. Hinter vor-gehaltener Hand habe er Cameron danach als „Leichtgewicht“ bezeichnet, hinterbrachte das Magazin.

In diesem für Großbritannien wichtigsten bilateralen Verhältnis hatte Cameron noch unter Gordon Browns Vorgänger Tony Blair und zur Amtszeit von US-Präsident George W. Bush zunächst größere Distanz angedeutet, auch um sich von der unkritischen Nähe Blairs zu Bush abzuheben. „Wir dienen weder dem Interesse unseres eigenen Landes, noch Amerikas, noch der Welt, wenn wir als Amerikas bedingungsloser Gefährte in allen Unternehmungen angesehen werden“, erklärte Cameron am 11. September 2006, dem fünften Jahrestag der Al-Kaida-Terroran-schläge von New York und Washington, „wir sind unseren eigenen Bürgern verpflichtet und unserem Verständnis, was für die Welt richtig ist, und wir sollten in unserer Freundschaft zu Amerika solide, aber nicht sklavisch sein.“

Dies brachte Cameron nicht nur die Kritik seiner Vorgängerin Margaret Thatcher ein, die warnte, die Vereinigten Staaten und Großbritannien dürften sich im „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht auseinander dividieren lassen. Es führte auch zu Irritationen unter Außenpolitikern insbesondere der Republikaner wie auch mancher Demokraten – vom Missfallen der Bush-Regierung ganz zu schweigen. Die sah es ohnehin nicht gern, wenn die konservative Opposition Blair wegen des Irak-Kriegs (für den Cameron übrigens gestimmt hatte) unter Druck setzte. In einer Rede in Pakistan erteilte Cameron mit Bemerkungen wie der, man könne „Demokratie nicht mit vorgehaltener Waffe erzwingen oder aus 10 000 Fuß Höhe abwerfen“, einer neokonservativen Interventionspolitik dennoch eine klare Absage.

Seitdem hat Cameron einige Mühe darauf verwendet, gegenzusteuern und sich – wie fast alle Regierungs- und Oppositionschefs seit dem Zweiten Weltkrieg – als engster Verbündeter der USA zu empfehlen. Überhaupt deutet mit Ausnahme der Europa-Politik vieles auf Kontinuität hin – schon allein, weil die Konservativen trotz langer Oppositionszeit kaum neue Konzepte entwickelt haben. Die einzig konkrete Ankündigung betrifft das Prozedurale: Die Tories wollen einen „Nationalen Sicherheitsrat“ nach amerikanischem Vorbild einrichten.

Spontaner Solidaritätsbesuch

Wo auch immer sich Cameron bislang außenpolitisch exponiert hat, hat dies eher Zweifel an seinem Urteilsvermögen bestärkt. Etwa im von Georgien provozierten Krieg mit Russland im August 2008, als er zu einem spontanen Solidaritätsbesuch nach Tiflis flog und sich mit der realitätsfernen Forderung nach einer sofortigen NATO-Mitgliedschaft für Georgien hervortat. Altgediente konservative Kommentatoren wie Geoffrey Wheatcroft fragen deshalb nicht ganz zu Unrecht, „ob die Tories überhaupt eine zurechnungsfähige Außenpolitik haben, die sie nach den Wahlen umsetzen könnten“.

Konservative Äußerungen umwehte zuletzt zudem ein gewisser pessimistischer Hauch von der Ahnung eines fortgesetzten britischen Niedergangs. Eine Ansprache von William Hague im Juli am Londoner International Institute of Strategic Studies (IISS), die als Grundsatzrede angekündigt wurde, enthielt wenig Konkretes, strich aber die widrigen Umstände heraus, unter denen britische Außenpolitik zukünftig operieren müsse. „Großbritannien wird es in der Zukunft schwerer fallen, Weltpolitik in der Weise zu beeinflussen, wie wir es gewohnt waren, aber es wird nicht unmöglich sein“, formulierte Hague das Fazit seiner Rede, „wir werden uns so positionieren und vorbereiten, dass wir bereit sind, wenn sich der Himmel verfinstert und neue Stürme aufziehen.“ Auch die jüngste Ankündigung von Schattenverteidigungsminister Liam Fox, die britische Rheinarmee aus Deutschland abzuziehen, angeblich um mehr Flexibilität für Auslandseinsätze zu gewinnen, war verbunden mit dem Hinweis, Großbritannien solle nicht mehr versuchen, „sich um alles zu kümmern“.

Da dieser Abzug kaum zu realisieren sein wird, passen diese Äußerungen ins Bild und geben der Befürchtung Nahrung, dass die Konservativen weitgehend unvorbereitet an die Schalthebel britischer Außenpolitik gelangen werden. Aber es bleiben ja noch fünf Monate.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 108 - 113

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