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01. Mai 2012

Wachstumsbeschleuniger

Wie Deutschlands nächstes Projekt für Europa aussehen könnte

Europa stöhnt unter der Finanzkrise. Als das Vertrauen in die Reformfähigkeit der Euro-Staaten schwindet, entwickeln Deutschland und Frankreich einen Rettungsplan – und setzen ihn im Eiltempo durch. Ein Rückblick auf das Entstehen des Fiskalpakts? Nein. Ein Szenario zur Verabschiedung eines Wachstumspakts im Jahr 2013.

Sommer 2012. Seit Monaten tobt in der EU eine aufgeregte Diskussion, dass nun Schluss sein müsse mit einer reinen Sparpolitik. Innenpolitisch drängen SPD und Grüne, in Europa viele Partner. Die schlechten Wirtschaftsdaten für etliche Euro-Länder verschärfen den Druck, die Risikoaufschläge zwischen den Euro-Staaten driften wieder auseinander. Europa erlebt eine Neuauflage alter Diskussionen: Die Kommission und die südlichen Euro-Staaten fordern immer lauter Euro-Bonds und einen „Marshall-Plan“, der den angeschlagenen Staaten größere Zuwendungen aus den EU-Fördertöpfen sichern soll.

Die Anfang des Jahres gestartete Debatte über Wachstum und Beschäftigung droht Berlin zu entgleiten. Zwar hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel schon Ende Januar zusammen mit Präsident Nicolas Sarkozy erste Vorschläge etwa für eine gezielt auf Wachstum ausgerichtete Reform der EU-Strukturfonds gemacht. Doch die EU fällt zurück in alte, schlechte Gewohnheiten: Hehren Gipfel­beschlüssen folgen keine durchgreifenden nationalen Strukturreformen.

Der EU-Gipfel im Juni wird zu einer herben Enttäuschung. Angesichts erheblicher wirtschaftlicher Probleme in Frankreich mutiert die Debatte über Wachstum zu einer über Geldverteilung. An den Finanzmärkten wächst die Nervosität. Der beruhigende Effekt durch die Anfang des Jahres eingesetzte EZB-Geldspritze für die Banken verflüchtigt sich. In Euro-Staaten wie Spanien oder den Niederlanden kommen ernsthafte Debatten auf, ob man sich angesichts der Wirtschaftskrise wirklich dem Stabilitätspakt unterwerfen sollte. Die EU verstrickt sich zudem in einen Kleinkrieg um die Kriterien, mit denen Wachstum zu messen sei. Außereuropäische Partner fragen in Berlin besorgt nach, wohin die Reise geht.

In der Bundesregierung kommt man zu dem Schluss, dass die Zeit schon wieder knapp wird. Denn die EZB hat nur eine dreijährige Frist erkauft. Bis spätestens Ende 2014, wenn das Geld wieder eingesammelt werden soll, muss das Vertrauen in die Reformfähigkeit der Euro-Zone wieder hergestellt sein. Deshalb dürften die Euro-Regierungen keine Zeit mehr verlieren – zumal anstehende Wahlen in einigen EU-Staaten schon wieder Oppositionsparteien an die Macht zu bringen drohen, die eine harte Reformpolitik nicht mittragen wollen und stattdessen große staatliche Konjunkturprogramme fordern.

Die Bombe platzt

In den jährlichen Südtirol-Urlaub der Kanzlerin platzt zudem die Forderung von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, projektbezogene Euro-Bonds einzuführen. Mit etwas mehr Distanz zum Berliner Tagesgeschäft kommt die Kanzlerin zu dem Schluss, dass es so nicht weitergehen kann. Wie genau ein Jahr zuvor reift bei Merkel die Idee, dass die deutsche und die europäische Politik in die Offensive gehen müssen. Rasch wird der Kontakt zu Paris gesucht.

Die Ideen sind zu diesem Zeitpunkt zwar noch unausgegoren, aber die Hauptrichtung der Entwicklung wird schnell klar: Merkel und ihr französischer Partner besinnen sich auf die Formel der „Wirtschaftsregierung“, die nun weiterentwickelt werden soll. Die politische Bombe platzt Mitte August in Paris: Deutschland und Frankreich verkünden, dass die Chefs der Euro-Zone oder des Fiskalpakts einmal im Quartal zusammenkommen sollen, um über die Selbstverpflichtungen in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Bildungs- und Forschungspolitik zu sprechen. Erstmals taucht der Vorschlag auf, dass sich auch die Parlamente zumindest aller 17 Euro-Staaten verpflichten sollten, diese Ziele einzuhalten. Auf französischen Druck wird die intensive Förderung durch EU-Gelder betont, während Deutschland auf größere Verbindlichkeit drängt.

Finanzminister Wolfgang Schäuble bringt erstmals einen europäischen „Wachstumskommissar“ ins Gespräch, der Weisungsrecht gegenüber anderen Kommissaren haben sollte. Merkel gelangt immer mehr zur Überzeugung, dass den nationalen Regierungen das Heft auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aus der Hand genommen werden muss.

Von Vertragsveränderungen jedoch ist ausdrücklich keine Rede – im Gegenteil. Als Merkel in einer Pressekonferenz danach gefragt wird, betont sie: „Ich sehe heute keine weitere Vertragsänderung und keinen neuen Vertrag.“ Die Debatten um den Fiskalpakt hätten gezeigt, dass Großbritannien einer Änderung der Verträge nicht zustimmen werde. Zudem gebe es den 2011 vereinbarten Euro-Plus-Pakt zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit.

Doch im September wird innerhalb der Bundesregierung erstmals diskutiert, ob man nicht wie beim Fiskalpakt einen Schritt weiter gehen müsse und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) neben seiner Zuständigkeit für Verstöße gegen den Fiskalpakt auch Verstöße gegen den Wachstumsgedanken ahnden lassen sollte. Finanzminister Schäuble spricht wenige Tage später in der CDU/CSU-Fraktion in Berlin aus, was all diese Ideen im Grunde bedeuten: Er plädiert für einen neuen Anlauf zur Änderung des EU-Vertrags – oder, falls das nicht möglich sei, notfalls für einen gesonderten Wachstumsvertrag nach dem Vorbild des Fiskalpakts. Diese Idee wird in der Unions-Bundestagsfraktion unterstützt. Denn unter den Abgeordneten sorgt man sich, dass Absprachen der Regierungen in so zentralen Feldern wie der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik die Rechte des Parlaments erneut aushebeln könnten.

Der Chor, der nach weitreichenden und verbindlichen europäischen Abstimmungen ruft, wird größer und überparteilicher. Neben Altkanzler Helmut Kohl melden sich auch dessen Nachfolger Gerhard Schröder sowie der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu Wort. SPD und Grüne drängen schon länger auf eine Vertragsänderung und wiederholen nun die Kritik, dass es Merkel nicht geschafft habe, den Fiskalpakt in die EU-Verträge zu integrieren. Alle fordern entschiedene neue Integrationsschritte – und letztlich die versprochene Vollendung der Politischen Union.

Deutsch-französische Konsensmaschine

Anfang September übernimmt Merkel die Forderung nach einer Vertragsänderung. Um den Euro zu erhalten, brauche es mehr Integration und Verlässlichkeit – auch in der Wirtschaftspolitik, betont sie. „Deshalb werden wir um EU-Vertragsänderungen oder aber ein neues Wachstumsabkommen nicht herumkommen.“

Wieder einmal bewährt sich die deutsch-französische Konsensmaschine: Die stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist eine alte französische Forderung. Deutschland werde diesen Weg mitgehen, aber nur, wenn es nach dem Vorbild des Fiskalpakts eine größere Verbindlichkeit gebe, lockt die Kanzlerin. Anfang Oktober folgt der gemeinsame Auftritt mit dem französischen Präsidenten in Berlin: Der Präsident unterstützt die angestrebten Vertragsänderungen. Deutschland deutet erstmals an, dass die EU-Kommission so genannte Projekt-Bonds auflegen könnte, mit denen sie wichtige, bereits beschlossene Infrastrukturmaßnahmen in schwächeren EU-Staaten zumindest vorfinanzieren darf.

In der EU empört man sich über diesen erneuten deutsch-französischen Vorstoß. Großbritannien, das bereits beim Fiskalpakt isoliert war, versucht vergeblich, eine Allianz gegen den neuen Vertrag zu organisieren und spricht von „europäischer Bevormundung und EU-Staatswirtschaft“. Zwar ist die Begeisterung auch in vielen anderen Ländern nicht groß. Aber sie haben im Verlauf der Schuldenkrise erkannt, wie stark die Staaten in einer Währungszone voneinander abhängen und wie schnell und heftig Fehlentwicklungen in einem Land auf alle anderen zurückschlagen können. Zudem lässt die deutsch-französische Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig. Als zusätzliches Mittel der Überzeugung wirken die besorgten Erkundigungen von Rating-Agenturen; sie fragen in zahlreichen Hauptstädten nach, ob die entsprechende Regierung etwa Probleme mit strukturellen Wirtschaftsreformen hätte.

Merkel dringt bei der Vorbereitung des EU-Gipfels im Oktober auf mehr Tempo – gegen den ausdrücklichen Widerstand von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Beide argumentieren, dass man eigentlich alle Instrumente bereits in der Hand habe; sie müssten nur angewendet werden. Doch in der Gipfel-Nachtsitzung erreicht Deutschland, dass dem EU-Ratspräsidenten im Abschlussdokument der Auftrag erteilt wird, bis zum Dezember-Gipfel einen konkreten Vorschlag für eine Vertragsänderung oder einen Wachstumsvertrag vorzulegen. Der größte EU-Staat hat damit sein strategisches Ziel erreicht: Erneute Vertragsänderungen stehen wieder offiziell auf der europäischen Agenda. Nur mit einem neuen verbindlichen Abkommen, betont Merkel im Oktober und November in mehreren Reden, könnte Investoren wieder die Gewissheit vermittelt werden, dass die Euro-Zone zusammenbleibe und wirklich reformfreudig sei. Aus China kommen zustimmende Signale.

Weil der Arbeitseifer der EU-Institutionen wie beim Fiskalpakt zu wünschen übrig lässt, mobilisieren Deutschland und Frankreich selbst ihre diplomatischen Apparate. Überall wird für verbindliche Absprachen in der Wirtschaftspolitik geworben. Im Dezember ist dann klar, dass ein Ziel verfehlt, ein anderes dafür erreicht wird. Der britische Premierminister David Cameron macht deutlich, dass er eine EU-Vertragsänderung aus Rücksicht auf den europafeindlichen Flügel der Tories erneut torpedieren werde.

Dafür stimmen alle Euro-Staaten und einige gleichgesinnte EU-Länder dem Abschluss eines neuen zwischenstaatlichen Wachstumspakts zu. Wieder prägt damit ein deutsch-französischer Kompromiss den letzten Baustein für die Neuordnung der EU: Paris setzt durch, dass sich die Nationalstaaten selbst verpflichten, die Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik umzusetzen – die EU-Kommission bekommt dafür eine verschärfte Kontrollfunktion. Merkel setzt die Einschaltung des EuGH durch, der aber nur prüfen soll, ob die Gesetze, die sich die Staaten selbst gegeben haben, eingehalten werden.

Auf dem Dezember-Gipfel 2012 beschließt man die Ausarbeitung eines Wachstumspakts, der verbindliche Kriterien für Reformen festlegt und eine Reform der EU-Fördertöpfe vorsieht. Unterzeichnet werden soll der Vertrag, dem mindestens die 23 Unterzeichnerstaaten des Euro-Plus-Pakts beitreten wollen, im darauffolgenden März. Erklärtes Ziel ist es aber, wie beim Fiskalpakt 25 Staaten an den Tisch zu bekommen – und beide Abkommen zum „Fiskal- und Wachstumspakt“ zu verschmelzen. Frankreich feiert dies als großen Erfolg, in anderen Staaten spricht man von einem neuen deutschen Diktat, weil man sich nun auf den Weg einer wirtschaftlichen Liberalisierung eingelassen habe.

Im März 2013 wird das Abkommen tatsächlich feierlich unterzeichnet – Tschechiens Regierung deutet an, nach dem Abgang des europakritischen Staatspräsidenten Václav Klaus auch beitreten zu wollen. Die Neuaufstellung der Euro-Zone ist abgeschlossen.

Dr. ANDREAS RINKE ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 40-43

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