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01. Juli 2010

Vorsichtiger Förderer

Neu-Delhis Scheu vor einem allzu forschen Demokratieexport

Es ist die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, und ganz gewiss zieht Indien auch global die liberale Demokratie autoritären Systemen vor. Noch aber dämpfen vor allem geopolitische Faktoren den Enthusiasmus Indiens, sich nachdrücklich für den Export seines politischen Systems einzusetzen. Zu groß ist die Furcht, als Büttel des Westens zu gelten.

Mit dem Aufstieg Indiens und Chinas stellt sich die Frage, wie sich diese beiden Giganten eine zukünftige Weltordnung vorstellen. Generell geht man davon aus, dass Chinas Weltsicht durch einen zutiefst konservativen Neokonfuzianismus geprägt ist; dass es sowohl innenpolitisch wie auch global starke Zentralautoritäten und hierarchisch-patriarchische Regierungsstrukturen bevorzugt und dass politische Legitimation in erster Linie auf der Effizienz der Regierung beruht und nicht auf der Offenheit der Entscheidungsprozesse. Wie aber verhält es sich mit Indien? Müsste es sich als größte Demokratie nicht für eine Weltordnung einsetzen, in der Staaten dezentral organisiert sind, öffentliche Beteiligung an politischen Entscheidungen geschätzt wird und Regierungen dem Volk als Souverän verpflichtet sind?

Tatsächlich wünscht sich Indien eine Welt, die genau diese Eigenschaften aufweist. Es zieht das offene System dem patriarchalischen Neokonfuzianismus eindeutig vor, zumal Demokratien förderlicher für den Frieden sind. Aber ist es auch bereit, seine wachsende Wirtschaftskraft, seine diplomatischen Fähigkeiten oder sogar sein Militär für die Förderung der Demokratie einzusetzen? Indiens westliche Freunde hoffen dies sehr – aber dass Neu-Delhi sich im Bereich der Demokratieförderung so zögerlich verhält, stellt sie vor ein Rätsel. Umgekehrt sind viele Inder über diese Verwunderung erstaunt, denn genau wie der Westen versucht auch Indien, globale Ziele wie Demokratisierung mit nationalen Interessen in Einklang zu bringen. Es dürfte daher nicht erstaunen, dass Inder gerne darauf hinweisen, wie leicht sich westliche Länder mit Diktaturen zu arrangieren wissen, wenn es ihren Interessen dient.

Dieses freundliche Streitgespräch zwischen dem Westen und Indien wird sich zweifellos noch einige Zeit fortsetzen. Aber es lohnt sich doch, die Bilanz indischer Demokratieförderung während der vergangenen 60 Jahre etwas genauer zu betrachten, war sie doch wesentlich intensiver, als dies oft wahrgenommen wird.

Am stärksten engagierte sich Neu-Delhi in der unmittelbaren Region. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts bot es Birma Hilfe bei der Bekämpfung kommunistischer Aufständischer an, welche die demokratische Regierung in Rangun bedrohten. Es bestärkte Nepal in seinem Übergang zu einem allerdings nur leidlich demokratischen Regime, und in den sechziger Jahren auch die demokratische Regierung Sri Lankas, die Aufstände von Ultranationalisten bewältigen musste. 1971 unterstützte Indien sogar mit einem eigenen Militärkontingent die Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan. Etwas mehr als ein Jahrzehnt später entsandte es seine Armee nach Sri Lanka, um einen Friedensschluss zwischen Tamilen und der Nationalregierung zu vermitteln. 1988 intervenierte Neu-Delhi erneut militärisch, diesmal um den Umsturz der maledivischen Regierung zu verhindern, die zwar nicht demokratisch war, wohl aber als legitim angesehen wurde. Unter Premierminister Rajiv Gandhi verhängte Indien eine Wirtschaftsblockade, um damit der nepalesischen Bewegung den Rücken zu stärken, die eine Wiedereinführung des Mehrparteiensystems forderte. In seinem Engagement für eine demokratische Entwicklung in Nepal hat Indien seither nicht nachgelassen, und auch in Bhutan bemühte es sich um einen erfolgreichen Übergang von der Monarchie zur Demokratie. Dessen nicht genug, war Delhi in den vergangenen neun Jahren am Aufbau demokratischer Institutionen in Afghanistan beteiligt, wo es unter anderem das Parlamentsgebäude errichtet, die Fortbildung der afghanischen Legislative übernommen und zusätzlich Auslandshilfen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar zur Bekämpfung islamischer Extremisten zugesichert hat.

Diskret, aber nicht enthusiastisch

Indien hat dabei seine nationalen Interessen in Südasien niemals aus den Augen verloren. Seine Wirtschaftsförderung, die politischen und militärischen Interventionen oder die „demokratische Aufbauhilfe“ für seine Nachbarn sind ganz gewiss nicht selbstlos. Investitionen in Demokratie sind schließlich Investitionen in Stabilität und inneren Frieden. Allerdings ist Indien niemals aggressiv vorgegangen. Anstatt mit Interventionen oder Zwangsmaßnahmen seine Überzeugung durchzusetzen, hat es sich vielmehr auf die Überzeugungskraft seines Vorbilds verlassen. War das ein erfolgreicher Ansatz? Vielleicht nicht gänzlich. Aber es kann auch nicht dem Zufall geschuldet sein, wenn Südasien bis heute die einzige Region der Dritten Welt ist, die zwar nicht vollständig befriedet, aber dennoch vollständig demokratisiert ist. Und selbst wenn noch einiges zu wünschen übrig bleibt, so wäre die Situation ohne das Vorhandensein demokratischer Strukturen gewiss noch unerfreulicher.

Auch in anderen Bereichen hat Indien Demokratieförderung mit verschiedensten Mitteln betrieben. Es stellte die größten Kontingente für UN-Friedensmissionen, oft im Dienste der Demokratie. Es hat zahlreiche zivile Helfer als Berater und Wahlbeobachter in andere Länder entsandt. Innerhalb des Commonwealth hat es sich durchaus aktiv gezeigt, wenn es darum ging, bestimmte Handlungen undemokratischer Regime in Fidschi, Simbabwe und zuweilen auch Pakistan zu verurteilen.

Zeit und Geld investierte Indien auch in internationale Bemühungen zur Demokratieförderung. Es ist Gründungsmitglied des UN-Demokratiefonds und lag mit einer Beteiligung von zehn Millionen Dollar nur hinter den USA und Japan. Es ist Mitglied der „Community of Democracies“, die im Jahr 2000 von den USA ins Leben gerufen wurde. Im Juli 2005 unterzeichneten Neu-Delhi und Washington die „US-India Global Democracy Initiative“. Zugegeben: Die indische Beteiligung an diesen internationalen Aktivitäten war nicht übermäßig enthusiastisch, aber sie markierte einen Wandel in Indiens Haltung.

Für ein Land von Indiens Größe und Macht mag diese Bilanz enttäuschend erscheinen, aber eine Reihe geopolitischer Faktoren begrenzen den Handlungsspielraum Neu-Delhis: Zunächst einmal muss es seine Position zu anderen aufstrebenden Staaten vor allem innerhalb der Region bedenken. In Birma (Myanmar) beispielsweise sah Indien es als wichtiger an, den Einfluss Chinas einzudämmen und nicht auf einer Demokratieförderung zu bestehen, die seinen strategischen Zielen nicht gedient hätte. Indien fürchtet zudem nicht nur Kritik an seiner eigenen Menschenrechtspolitik, sondern möchte auch eine internationale Intervention in Kaschmir und den nordöstlichen Staaten vermeiden. Andere zu kritisieren oder zu intervenieren, wenn dies nicht unbedingt erforderlich ist, wäre für Neu-Delhi eine äußerst riskante Politik.

Als Sprachrohr der Entwicklungsländer sollte es sich auch davor hüten, Demokratieförderung zu stark zu betonen, will es nicht dazu beitragen, dass diese Staaten sich gänzlich abwenden. Es braucht die Unterstützung dieser Staaten, wenn es Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat werden will. Indien möchte nicht in den Ruf eines westlichen Büttels geraten, weshalb es sich vor allem scheut, was allzu deutlich nach westlicher Agenda aussehen könnte. Es mag einige Bedenken gegenüber seinem großen Nachbarn China hegen; keinesfalls aber will es von Peking als Teil einer ideologischen und politischen „Einkreisung“ wahrgenommen werden. Ein allzu forsches prodemokratisches Engagement würde von Indien auch kritischere Worte zu Chinas Tibet-Politik erfordern. Nicht zuletzt ist Indien der Auffassung, dass aus strategischer Sicht Demokratie kein Allheilmittel ist und schwache Demokratien Neu-Delhi durchaus Schwierigkeiten bereiten können. In Südasien hat sich schon häufig gezeigt, dass demokratische Staatsoberhäupter in der Zusammenarbeit mit Indien weniger effektiv Entscheidungen treffen als autoritäre Systeme.

Zurückhaltender Optimismus

Warum sollte Indien dann überhaupt an einem Demokratieexport interessiert sein? Weil sich die Demokratie tief in Indiens Kultur und Identität eingraviert hat. Seine DNA ist demokratisch, sie verträgt sich nicht so gut mit anderer DNA. Und die Vorteile der Demokratie sieht Indien allemal: Sie trägt zu Frieden und Sicherheit bei; als demokratischer Staat kann sich Indien auf der internationalen Bühne mehr Wohlwollen verschaffen, das für seinen Status – und für das Streben nach einem Ständigen Sitz im Sicherheitsrat – durchaus dienlich ist. Demokratisch verfasst zu sein hilft, Partnerschaften zu schmieden. Ganz bestimmt beruht die indisch-amerikanische Partnerschaft nicht nur auf dem demokratischen Charakter beider Staaten. Für den Abschluss des indisch-amerikanischen Atomabkommens 2008 aber war diese Gemeinsamkeit sicherlich nicht hinderlich. Und nicht zuletzt löst der Aufstieg des demokratischen Indiens weniger ungute Gefühle aus als der Aufstieg Chinas. Den wirtschaftlichen Wettlauf mit China mag Indien verlieren. Das Demokratierennen aber gewinnt es.

Welche Zukunft hat Indiens Demokratieexport? Ein zurückhaltender Optimismus ist angebracht. Die „demokratische DNA“ Indiens, seine sicherheitspolitischen Interessen, die passenden Gelegenheiten in der Region und darüber hinaus seine wachsende wirtschaftliche und militärische Macht werden Indien die nötige Zuversicht verleihen, um Demokratieförderung noch stärker als zuvor zu betreiben. Druck von außen dürfte dabei nicht zum Erfolg führen. Neu-Delhi wird schrittweise und mit seinen eigenen Mitteln seine Demokratieförderung intensivieren. Die Entwicklung der indischen Demokratie ist historisch gesehen ebenso bedeutend wie die Amerikanische und Französische Revolution. Es wird die Zeit kommen, da Indien eine Rolle von weltgeschichtlicher Relevanz spielen wird.

Prof. KANTI BAJPAI ist Lecturer an der School of Interdisciplinary Area Studies der University of Oxford.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 22 - 25

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