Weltspiegel

30. Juni 2025

Vorbotin der post-westlichen Welt

Dubai zeigt, wie sich die Kräfte im 21. Jahrhundert verschieben. Allerdings funktioniert die Metropole nur, weil sie auf den Überresten der liberalen Weltordnung fußt.

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Bild: Skyline von Dubai im Abendlicht
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Ein Betrachter der Welt auf dem Höhepunkt der ersten großen Ära der Globalisierung vor 150 Jahren hätte wenig Mühe gehabt, ihr Zentrum zu bestimmen. London war, wie es der schottische Historiker und Essayist Thomas Carlyle ausdrückte, „das Zentrum des Universums“, ein „riesiges Babel“, in das „die Flut menschlichen Strebens mit Gewalt hinein- und hinausströmte.“ 
Unser Jahrhundert hat keinen vergleichbaren Ort, kein caput mundi, und wird wohl auch nie einen haben. Dafür ist Macht in der heutigen globalisierten Welt zu diffus. Dennoch gibt es Orte, an denen sich unsere Gegenwart verdichtet, an denen Knotenpunkte entstehen, anhand derer der Aggregatzustand unserer Welt ermittelt werden kann. Es sind die pulsierenden Adern der Globalisierung, auf die man seine Finger legen kann, um den Rhythmus unserer Zeit zu spüren. Eine solche Ader ist Dubai.

Dubai ist bekannt als Spielplatz der Schönen und Reichen. Vor allem jene, die ihren Überfluss an Geld gerne bombastisch zur Schau stellen, fühlen sich von diesem Schlaraffenland in der Wüste angezogen. 


Reichtum und Sklaverei

Ebenso bekannt ist, dass diese Welt der Luxushotels und Sportwagen auch eine dunkle Seite hat. Denn die glitzernden Wolkenkratzer, die das Bild der Millionenstadt am Persischen Golf prägen, sind nicht zuletzt auf den Rücken der Zig-
tausenden Arbeitsmigranten gebaut, die Dubai aus den ärmsten Ländern der Welt anwirbt und unter menschenunwürdigen Bedingungen auf seinen Baustellen arbeiten lässt. Protziger Reichtum und moderne Sklaverei – dieser extreme Gegensatz prägt unser Bild des Emirats. 

Es ist ein Bild, das in besonders grellen Farben gezeichnet wird, wenn sich das mediale Schlaglicht anlässlich eines größeren Sportturniers oder einer Klimakonferenz mal wieder auf die Region richtet. Doch dieses Klischee unterschlägt die strategische Bedeutung, die das Emirat mittlerweile erlangt hat, sowie die Tatsache, dass die Stadt kein Ausdruck abgehobener Exzentrizität ist, sondern vielmehr ein ehrliches Abbild unserer Welt im 21. Jahrhundert bietet.


Aus der Wüste gestampft

Nachdem die Vereinigten Arabischen Emirate 1971 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt hatten, wurde Dubai buchstäblich in wenigen Jahrzehnten aus der Wüste gestampft. Nicht so reich an Ölreserven wie andere Golfstaaten, musste Dubai schon früh kreativ und unternehmerisch denken, um den immensen materiellen Reichtum zu erlangen, mit dem die Stadt heute wie kaum eine andere gleichgesetzt wird.

Die Menschen, die das Geschäft in Dubai antreiben, sind die Reichen aus Ländern mit mittlerem Ein
kommen – nicht die aus wohlhabenden Ländern

Bewusst wurde eine langangelegte Strategie verfolgt, die Dubais vorteilhafte geografische Lage an der Schnittstelle zwischen Asien und Europa nutzte, um die Stadt in ein globales Handelszentrum zu verwandeln. Gleichzeitig zog Dubai Unternehmen aus aller Welt an, indem es ein wirtschaftsfreundliches Umfeld mit niedrigen Steuern und geringer Regulierung schuf. Die so erzielten Gewinne wurden in den Aufbau einer glitzernden Tourismusdestination investiert. Sie zieht heute jährlich fast 20 Millionen Menschen aus aller Welt, die dem Luxus und strahlenden Sonnenschein frönen. 

Es ist eine Stadt der Superlative – in jeder Hinsicht. Es ist der Standort des höchsten Gebäudes der Welt, des Burj Khalifa. Da­rüber hinaus rühmt es sich auch der größten Fontäne, des höchsten Infinity-Pools, des tiefsten Tauchbeckens und des höchsten Riesenrads der Welt. 

Bedeutender noch ist die Tatsache, dass es nicht nur einen der größten Tiefwasserhäfen der Welt betreibt, sondern außerdem auch noch den Flughafen mit dem höchsten Passagieraufkommen weltweit. 


Immense Handelsströme

Über Dubai werden täglich immense Handelsströme abgewickelt – aufs Jahr gerechnet über 100 Millionen Tonnen an Gütern jeglicher Art, zusätzlich zu den beträchtlichen Öltransporten, die ebenfalls durch den riesigen Hafen von Jebel Ali fließen. 

Wie es für bedeutende Handelsdrehscheiben dieser Art üblich ist, zieht Dubai allerdings das legale und das illegale Geschäft nahezu gleichermaßen an. So ist derselbe Hafen, durch den europäische Exporte nach China und Seltene Erden aus China nach Europa transferiert werden, auch ein globaler Umschlagsplatz für den internationalen Drogen- und Waffenschmuggel. 
Dubai ist außerdem ein Paradies für Geldwäsche. In die Stadt fließen enorme Summen illegaler Gelder aus der globalen organisierten Kriminalität sowie aus den Schatullen internationaler Parias, wie russischer Oligarchen oder afrikanischer Despoten, denen es nicht vergönnt ist, ihre kleptokratischen Gewinne in Luxusapartments in London oder Paris zu parken. 

Es wird geschätzt, dass seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 russische Staatsbürger fast sechs Milliarden Euro in den Immobilienmarkt Dubais gepumpt haben. Makler in Dubai erzählen mit Begeisterung Geschichten von Russen, die auftauchen und riesige Luxusvillen auf der Stelle mit Taschen voller Bargeld kaufen. 

So ist die Welt in all ihren Schattierungen in Dubai zu finden, einer Stadt, die wie eine riesige Schleudertrommel funktioniert – hineinziehend und wieder ausspuckend. 


Eine post-westliche Welt

Die Welt, die sich in Dubai verdichtet, ist auf den ersten Blick vor allem eines: sie ist nicht-westlich, oder, genauer gesagt, post-westlich. Es ist die Welt, die sich im Schatten der von den Vereinigten Staaten geführten liberalen internationalen Ordnung herauskristallisiert hat und nun bereitsteht, diese abzulösen. 

Dubai steht für die konkrete Realität der über Jahre immer wieder beschworenen Machtverschiebung, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, von West nach Ost. Nahezu 90 Prozent der Bevölkerung Dubais sind Einwanderer, hauptsächlich aus Südasien – insbesondere Indien und Pakistan – sowie aus Afrika. Eine kleine Gruppe westlicher Expatriates, etwa 5 Prozent der Bevölkerung, stellt die Führungsschicht, wird jedoch immer stärker durch hochqualifizierte Nicht-Westler ersetzt, die bereit sind, für weniger Lohn und Zusatzleistungen mehr zu arbeiten. 

Tatsächlich fällt einem beim Besuch von Dubais Hotels, Shopping Malls und Restaurants auf, wie irrelevant Europäer und Amerikaner wirken – sie sind zwar präsent, aber eher am Rande. Die Menschen, die das Geschäft in Dubai antreiben, sind nicht die Reichen aus wohlhabenden Ländern, sondern die Reichen aus Ländern mit mittlerem Einkommen – Länder, die noch in der Generation ihrer Eltern arm, ja sogar sehr arm waren. 

Honoré de Balzac fände heute nicht in Paris, sondern in Dubai den Stoff für seine Aufsteigerromane

Die abnehmende Bedeutung des Westens lässt sich auch in einer weiteren Hinsicht beobachten. In Europa, insbesondere in Deutschland, leben wir in der Illusion, dass ein Leben im Westen der ultimative Wunsch der meisten, wenn nicht aller Menschen bleibt. Das ist nicht wahr. Dubai ist bevölkert von jungen, qualifizierten und hochambitionierten Menschen – größtenteils Männern –, die diversen Dienstleistungstätigkeiten nachgehen. 

Sie kellnern in den Hotels, arbeiten als Haushaltshilfen in den Villen, fahren die Limousinen und putzen die Fenster der Wolkenkratzer. Kurzum: Sie halten die Stadt am Laufen. Sie tun dies freiwillig. Die wenigsten von ihnen müssten in ihren Heimatländern akute Armut oder Not erleiden, gehören sie dort doch oft zu den besser Qualifizierten. 

Doch in Dubai kommen sie schnell und unkompliziert in Arbeit. Diese liegt zwar oft deutlich unter ihren Qualifikationen, dafür wird sie aber um ein Vielfaches besser bezahlt als die Jobs, die ihnen in ihren Heimatländern zur Verfügung stünden. So kommt es, dass ein ausgebildeter Journalist aus Uganda am Pool eines Luxushotels Getränke reicht oder ein Ingenieur aus Sri Lanka den Fahrdienst versieht. 

Sie alle verlassen ihre Heimatländer nicht, weil sie dort nichts oder zu wenig haben, sondern in erster Linie, weil sie unbedingt mehr wollen. Sie sind die Verkörperung eines unbändigen Aufstiegswillens, der unter ihren europäischen Altersgenossen kaum noch aufzufinden ist. In Dubai, nicht in Paris, fände Honoré de Balzac heute den Stoff für seine Aufsteigerromane. 

Es handelt sich um genau jene jungen Menschen, die Europa mit seiner Einwanderungspolitik eigentlich gerne zu sich locken möchte. Doch fragt man sie, ob der Aufenthalt in Dubai nicht eine Etappe auf dem Weg zu einem komfortablen Leben im Westen sein könnte, schaut man nicht selten in verdutze Gesichter. Träumen sie doch nicht von einem besseren Leben im Westen, sondern von einem besseren Leben für sich und ihre Kinder in ihren Heimatländern. 


Feste Bindung zur Heimat

Die Verwurzelung in der Heimat haben sie trotz – oder gerade wegen – des Einstiegs in den kosmopolitischen Mahlstrom Dubais behalten, in dem über 200 Nationalitäten durcheinandergewürfelt werden und Halt und Orientierung folglich leicht abhandenkommen können. Als Europäer, der in das „Ende der Geschichte“ hineingeboren wurde, hört man diesen leidenschaftlichen jungen Menschen mit einer gewissen Ungläubigkeit zu.

Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft, die Bedeutung von Familie und Religion, der Glaube daran, dass man durch bloßen Willen und harte Arbeit sein eigenes Glück schmieden kann – war all das nicht überwunden beziehungsweise im Kontext der universellen Wohlstandserzählung des liberalen Westens schlicht überflüssig geworden? Es ist wichtig, dass wir Europäer erkennen, dass diese Werte keineswegs überholt sind, auch wenn wir uns das vielleicht eingeredet haben. Ganz im Gegenteil – sie bilden ein selbstverständliches Wertefundament, bieten Ansporn und Halt zugleich für große Teile der jungen Männer und Frauen dieser Welt. 

Dieser beeindruckende Aufstiegswillen, dieses Streben danach, etwas aus dem eigenen Leben zu machen, „voranzukommen“, hat eine Kehrseite: In Dubai leitet vor allem das Eigeninteresse das Handeln der Menschen. 

Sie alle pflegen ein auf kühlem Kalkül beruhendes, instrumentelles Verhältnis zu der Stadt, die sie gekonnt für ihre Zwecke einzuspannen verstehen – wohlwissend, dass dieser Moloch sie seinerseits nur benutzt. So ist alles transaktional, alles eine Frage des Preises – in einer Stadt, in der Macht ein Nullsummenspiel ist und politische Werte verhandelbar sind. 


Die trumpistische Stadt

Dubai, so könnte man sagen, ist trumpistisch. Und tatsächlich dient die Stadt als eine Art Vorbote der postliberalen Welt, in die wir derzeit auf Betreiben des amerikanischen Präsidenten hineingeführt werden. 

Doch die Realität ist, dass das Funktionieren Dubais auf den derzeit noch intakten Säulen der liberalen internationalen Ordnung beruht. Die Vereinigten Staaten unterhalten einen großen Marine-
stützpunkt in Bahrain, von wo aus sie die Freiheit der Seewege in der Region sichern, unter anderem auch den Handelsfluss von und nach Jebel Ali Port. Wer hält diese Seewege gegen die Bedrohung durch Huthi-Terroristen offen, wenn Washington es nicht mehr tut? Und zu welchem Preis? 

Und: Dubais Finanzzentrum funktioniert nach englischem Common Law. Wie reibungslos können Investitionen getätigt, Geschäfte abgeschlossen werden, ohne ein verlässliches rechtliches Rahmenwerk, das die Durchsetzung von Verträgen sichert?

Der Verlust von internationaler Ordnung wird oft erst dann schmerzlich bewusst, wenn es zu spät ist

In Dubai lässt sich die Eigentümlichkeit des gegenwärtigen Zustands der internationalen Ordnung besichtigen. Der Niedergang der vom Westen geführten internationalen Ordnung wird mit Freude begrüßt, doch es existiert keine kohärente Alternative, um sie zu ersetzen. Die angebliche neue post-westliche Welt, die im Kern transaktional und merkantilistisch ist, funktioniert nur, weil die Überreste der liberalen internationalen Ordnung noch ausreichend Stabilität bieten. Sie könnte in einem neuen Zeitalter der internationalen Anarchie, in der die Willkür der Großmächte maßgebend ist, wohl kaum in dieser Form bestehen. Sie ist daher vielleicht mehr Übergangserscheinung als neue, nachhaltige Realität.

Gleichzeitig verdeutlicht Dubai die Paradoxien dieser Epoche: Während sich der Westen zunehmend in internen Krisen verstrickt, erstarken Akteure, die von seiner einst geschaffenen Ordnung profitieren, aber zugleich an deren Auflösung arbeiten. Doch ohne klare Regeln, ohne ein Mindestmaß an Verlässlichkeit und Rechtssicherheit, droht dieser fragile Balanceakt zu kippen. 

Die Frage bleibt also offen, ob eine multipolare Welt mit vielen konkurrierenden Machtzentren langfristig Stabilität garantieren kann, oder ob sie letztlich doch nur die Rückkehr zu einer Ära ungebremster geopolitischer Rivalität einleitet. In Dubai mag man das mit Gleichgültigkeit betrachten, solange der Handel floriert. Doch die Geschichte zeigt, dass Ordnung nie selbstverständlich ist – und dass ihr Verlust oft erst dann schmerzlich bewusst wird, wenn es zu spät ist.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2025, S. 101-105

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Lukas Paul Schmelter ist Zeithistoriker und war zuletzt Ernest May Fellow am Belfer Center for Science and International Affairs der Har­vard Kennedy School (2021–2022).

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