Buchkritik

01. Jan. 2016

Von Zäsuren und Zerreißproben

Ob der Westen hält? Ob er fällt? Sechs Autoren suchen nach Antworten

Seit Jahren gefallen sich Untergangspropheten darin, das Scheitern des Westens vorherzusagen. Derzeit scheint es, als gäben ihnen Krisen, Kriege und Terror recht. Ist die Welt aus den Fugen? Ist der Westen dem Untergang geweiht? Ein Blick in die Geschichte könnte helfen und die Wahrnehmung für Zwischentöne und Kontinuitäten schärfen.

2014 sollte für Europa eigentlich ein Erinnerungsjahr werden. Im Gedenken an den Ersten Weltkrieg sollte die frohe Botschaft verkündet werden: Unsere kriegerische Geschichte liegt endgültig hinter uns.

Damit ist es bekanntlich nichts geworden. Stattdessen sahen sich die Bürger der Europäischen Union von mehr und mehr Kriegen und Konflikten umringt: Ukraine, Irak, Syrien, Gaza und – erneut – Libyen. Hinzu kamen 2015 in rascher Folge: die wieder aufgeflammte Griechenland-Krise, die Flüchtlingsbewegungen aus Afrika und Nah- und Mittelost und schließlich in Paris die Fortsetzung asymmetrischer Gewalt durch den islamistischen Terrorismus.

Opfer des Erfolgs

Schwankt der Westen unter dem Eindruck dieser Schläge, Krisen und Kriege? Seit Jahren erscheinen immer neue Wellen von Untergangsprophezeiungen. „Schwankender Westen“ von Udo Di Fabio scheint so ein Titel, „Zerreißproben“ von Heinrich August Winkler ein weiterer. Doch täte man beiden Autoren Unrecht, wenn man vom Titel vorschnell auf die Thesen ihrer Werke schließen würde. Di Fabio konstatiert zwar eine Krise des westlichen Gesellschaftsmodells, an dem Kräfte des Auf- wie des Abstiegs zerrten. Aber zugleich führt der Bonner Professor für Öffentliches Recht und ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts die Dialektik der Krise auf den überwältigenden Erfolg eben dieses Modells zurück. Auch wirkt in seinen Augen die „Magie“ von Markt und Wohlstand, von persönlicher Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung ungebrochen. Das Potenzial der Marktwirtschaft in Amerika, Europa und Asien hält er für „überwältigend“.

Kann also im Westen alles so bleiben, wie es ist? Di Fabios Urteil: Nein – im Gegenteil. Gerade weil die Globalisierung Hunger und Elend erheblich gemindert, Wohlstand gesteigert, Freiheiten vermehrt, Grenzen habe schwinden lassen, gebe es enorme Anpassungszwänge, auch für die westlichen Gesellschaften. Nicht nur die Schwellenländer, auch die etablierten Demokratien geraten nach Di Fabios zutreffender Beobachtung zwischen die Kräfte internationaler Koordinierung, kultureller Fragmentierung und des Protests von Wählern, die sich weiterhin im politischen Raum des Nationalstaats orientieren.

Was das für die politische Kultur des Westens bedeutet, benennt Di Fabio deutlich: Unter den Bedingungen der „Internationalität“ können die politischen Parteien ihre im Sozialstaat gegebenen Versprechen nur noch dann einlösen, wenn sie den Menschen umgekehrt hohe Mobilität und mehr Leistungen abfordern, Standortvorteile ausnutzen, Nischen besetzen und ihre politischen Entscheidungen an die Bedürfnisse eines dynamischen Weltmarkts anpassen.

Mäßig überrascht

Bei der Frage nach den herrschenden Dynamiken und den Antworten darauf setzt auch Heinrich August Winkler an – in seiner Essay­sammlung „Zerreißproben“ wie in seiner Geschichte des Westens. Welch dynamische Entwicklung sich hier allein im vergangenen Vierteljahrhundert vollzogen hat, zeigt die thematische Bandbreite der Essays des Berliner Historikers. Da geht es um die bis heute andauernden Versuche der Deutschen, sich über ihren historischen und politischen Standort klar zu werden, um das Für und Wider von direkter Demokratie, um die Krisen und Widersprüche des europäischen Einigungsprozesses und um die Herausforderungen für den Westen, vom transatlantischen Zerwürfnis unter US-Präsident George W. Bush bis zur neuen Ost-West-Konfrontation um die Ukraine seit Ende 2013.

Die Anlässe von Winklers „Interventionen“ waren zwar jeweils aktueller Natur. Die Probleme, die er behandelt, reichen aber weit über den Tag hinaus. Umso mehr ist zu empfehlen, seine Essays in Kombination mit seiner nunmehr vierbändigen Geschichte des Westens zu lesen. Dort beschreibt er so manche historische Zäsur, von der Antike bis zur Gegenwart. Doch gerade weil Winkler einen Sinn für Zäsuren hat, hat er auch einen Blick für Kontinuitäten.

So scheint Winkler, um ein Beispiel zu nennen, anders als viele Beobachter nur mäßig davon überrascht zu sein, was die Welt seit 2014 an Konfrontation zwischen Moskau und den westlichen Hauptstädten erlebt. Nüchtern stellt Winkler direkt zu Beginn des Abschlussbands seines Opus Magnum fest, einstweilen stehe fest, dass sich alle getäuscht hätten, die nach 1989/90 ihre Hoffnung auf eine fortschreitende „Verwestlichung“ Russlands im Zeichen gemeinsamer Wertvorstellungen gesetzt hätten.

Zwar war auch in seinen Augen der Untergang des Sowjetimperiums in den Jahren 1989 bis 1991 ein tiefer weltgeschichtlicher Einschnitt. Aber historische Zäsuren bedeuteten nie einen völligen Kontinuitätsbruch. Winkler arbeitet klar heraus, wie sich nach der Epochenwende der Jahre 1989 bis 1991 rasch die Beharrungskraft älterer, lange Zeit eher latent nachwirkender Traditionen erwiesen habe: in Russland in Gestalt der schroff antiwestlichen Ausrichtung der orthodoxen Kirche und eines Großmachtdenkens, das aus der Zeit des Zarenreichs stammt, auf dem Balkan in einer zerstörerischen Renaissance von Nationalismen, die der jugoslawische Vielvölkerstaat unter Tito nur autoritär und oberflächlich überwunden hatte.

Ein „neues Zeitalter“?

Nach Winklers luzider Analyse wird die Zäsur der Jahre 1989 bis 1991 auch dadurch relativiert, dass vieles von dem, was in den neunziger Jahren als umstürzend neu empfunden wurde, in Wirklichkeit schon sehr viel früher begonnen hatte. Dass das Ende des Kalten Krieges einen gewaltigen Globalisierungsschub zur Folge hatte, steht zwar auch für Winkler außer Frage. Aber dieser Schub habe nur fortgesetzt, was mit der Internationalisierung der Produktion und der Arbeitsteilung, ausgelöst durch die forcierte Industrialisierung der asiatischen „Tigerstaaten“ wie Singapur, Südkorea, Taiwan und Malaysia, begonnen habe.

Dasselbe gilt nach Winklers Darstellung für die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, die bereits in den frühen achtziger Jahren voll eingesetzt habe. Damit verlieh der Zusammenbruch des europäischen Kommunismus einem Prozess Auftrieb, der nach Winklers Beobachtung schon in vollem Gange war, als die friedlichen Revolutionen von 1989 das definitive Ende der Nachkriegszeit einleiteten.

Wohltuend erscheint auch die historische Einordnung der heutigen Überschuldung des Westens. Bei Winkler wird einmal mehr deutlich, wie weit hinter 1989 die wachsende Staatsverschuldung in den westlichen Industrieländern zurückreicht – an ihrer Spitze die Vereinigten Staaten. Unter Reagan waren dafür vor allem die gigantischen Rüstungsausgaben verantwortlich. Unter Bush junior war es der Krieg gegen den Terror, ebenso auf Kredit finanziert wie unter Johnson der Vietnam-Krieg. Zu dieser staatlichen Verschuldung kam die private hinzu – durch die unter Clinton begonnene großzügige Förderung von Wohneigentum einkommensschwacher Familien über nur scheinbar günstige „subprime loans“. Eine Verschuldung der privaten Haushalte, die auch nach Winklers Urteil entscheidend zum Ausbruch der Weltfinanzkrise im Herbst 2008 beitrug.

Im Übrigen gehörte die unipolare Konstellation, die sich nach der Auflösung des Ostblocks herausgebildet hatte, 2008 schon längst wieder der Vergangenheit an, wie Winkler treffend beschreibt: Inzwischen waren China, Indien und Brasilien zu „global players“ aufgestiegen. Peking wurde zum größten Käufer amerikanischer Staatsanleihen und damit zum Hauptgläubiger der USA. Hinzu kam die amerikanische Selbstschwächung durch die Kriege in Afghanistan und im Irak. Russland hingegen konnte unter Putins autoritärer Herrschaft seinen Großmachtstatus wieder festigen und tritt seitdem neoimperial auf.

Diese Multipolarität nimmt sich nach Winklers Beschreibung heute antagonistischer oder „apolarer“ aus als noch vor einigen Jahren. Dies gelte vor allem für das Verhältnis zwischen Washington und Moskau, aber auch für das zwischen Washington und Peking, gerade mit Blick auf das expansive Ausgreifen Chinas im pazifischen Raum. Ein „neues Zeitalter“ hat somit 1989 in der Tat begonnen, aber anders als sich dies vor allem viele Europäer vorgestellt haben. Umso wertvoller ist Winklers große Erzählung der tatsächlichen Realität von Geschichte und Gegenwart.

Wenig schmeichelhaft

Die „wirkliche Historie“ zu erzählen, ist auch stets das Ziel von Oliver Stone – ob in seinen Oscar-prämierten Filmen zum Vietnam-Krieg und zu den Präsidentschaften Kennedys und Nixons oder in Buchform. Zusammen mit Peter Kuznick, Professor für Neuere Geschichte an der American University in Washington, lässt er noch einmal das 20. Jahrhundert, das amerikanische, Revue passieren. Hier wird bewusst keine heroische Geschichte erzählt. Zwar kommen auch Stone und Kuznick nicht an den Superlativen der Weltmacht vorbei. Doch bei der Beantwortung der Frage, wie die Vereinigten Staaten zu dem wurden, was sie heute sind – tatsächlich oder aus der Sicht vieler Betrachter –, konzentrieren sich Stone und Kuznick auf die Schattenseiten der amerikanischen Weltmachtgeschichte.

Dabei werden historische Stationen beleuchtet, die zwar nicht unbekannt sind, aber in der Zusammenschau ein wenig schmeichelhaftes Bild ergeben: von den blutigen Eroberungskriegen Washingtons in Mittelamerika über die Ausbeutung Kubas und der Philippinen nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 bis hin zur wirtschaftlichen Kolonisierung Lateinamerikas durch amerikanische Großkonzerne; dann der Aufstieg von New Yorker Großbanken durch Kriegsgewinne im Ersten Weltkrieg, der bis heute grassierende Rassismus, die Atombombenabwürfe auf Japan, die brutale Kriegführung von Korea über Vietnam bis nach Afghanistan und den Irak; schließlich die Inszenierung von Militärputschen in Lateinamerika und Afrika – und immer wieder im Auftrag oder mit Duldung amerikanischer Regierungen: Mord, Folter, Menschenrechtsverletzungen.

Hierarchie der Staatenwelt

Mit diesen und anderen Versuchen großer Mächte, Imperien aufzubauen und abzusichern, Hegemonien zu entfalten und zu bewahren, hat sich Ulrich Menzel intensiv befasst. Der Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU Braunschweig, hervorgetreten unter anderem mit historischen Studien über China, Japan und die Entwicklungen in der Dritten Welt, spannt einen weiten Bogen von China als bedeutender Land- und Seemacht der Song-Zeit 960–1204 über die „Pax Mongolica“ 1230–1350 als „Globalisierung vor der Globalisierung“ bis hin zu Genua und der mediterranen Weltwirtschaft 1261–1350.

Es folgen die frühen Ming, Venedig als Seemacht mit imperialen Zügen, Portugal als „Seaborne Empire“ und Hegemonialmacht im Indischen Ozean, das Osmanische Reich als Imperium zwischen Europa, Asien und Afrika und Hegemon im Orient, das spanische Weltsystem mit seinem Anspruch der Universalmonarchie und die Niederlande mit ihrem Aufstieg zur ersten Welthandelsmacht in ihrem „Goldenen Zeitalter“. Schließlich beleuchtet der Autor Frankreich als „gezügelten Hegemon“, Großbritannien und seinen Aufstieg zur Weltmacht im Zeichen zuerst des Merkantilismus und dann des Freihandels, und dann die Vereinigten Staaten als erste Hegemonialmacht mit globaler Reichweite und seither im Ringen zwischen „American Empire“ und „American Decline“, verstärkt durch die chinesische Herausforderung.

Von diesem Ritt durch die Geschichte von Imperium und Hegemonie bringt Menzel die Erkenntnis mit, dass „die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt“ aus der „Hierarchie der Staatenwelt“ resultiert. Die Welt wird seit gut tausend Jahren von aufeinanderfolgenden großen Mächten imperialen oder hegemonialen Zuschnitts regiert, die zwar nicht im engeren Sinne die Welt beherrschen, aber stellvertretend für den bislang nicht vorhandenen Weltstaat eine internationale Ordnungsfunktion wahrnehmen.

Doch erst seitdem China ab 1978 seine Selbstisolation aufgegeben hat, und vor allem seit der großen weltgeschichtlichen Wende 1989/90 misst Menzel der Pax Americana eine wirklich globale Reichweite zu, könne erstmals in der Weltgeschichte auch von einem globalen Weltsystem gesprochen werden. Ob darin die USA von China und China wiederum eines Tages von Indien als Ordnungsmacht abgelöst werden oder ob eine Rückkehr zur Anarchie der Staatenwelt das Resultat eines möglichen Hegemonialkonflikts zwischen Washington und Peking sein wird, kann auch Menzel nicht vorhersagen. Für ihn steht lediglich fest, dass bis dahin die Pax Americana die Ordnung der Welt bildet.

Keine erkennbare Richtung

Wohin wird das die Menschheit führen? Zwar kann auch Andreas Rödder nicht in die Zukunft schauen. Aber der Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz lässt in seiner Geschichte der Gegenwart historische Muster aufscheinen, die zumindest erahnen lassen, wie es weitergehen könnte – der Konjunktiv sollte hier allerdings in der Tat Programm sein. Rödder nimmt eine Dynamik seit den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wahr, die nach seiner Analyse bislang nur ein historisches Vorbild kennt: die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals wie heute gelte: Der moderne Mensch sieht sich in der Lage, enorme Kräfte zu entfesseln. Und er scheint zugleich alle Hände voll zu tun zu haben, sie wieder einzufangen – von Big Data bis zum Klimawandel.

Ist die Welt also erneut aus den Fugen? Wer zu Panik neigt, sollte Rödders Erkenntnis verinnerlichen, nach dem ein Ziel im Wandel der Welt zwar nicht zu erkennen ist, sich aber Bewegungen und Gegenbewegungen von Entgrenzung und Begrenzung beobachten lassen: Dem Sturm und Drang folgte die Klassik, der Auflösung überkommener Gewissheiten im späten 19. Jahrhundert folgten der „Hunger nach Ganzheit“ und die großen Ordnungsentwürfe des 20. Jahrhunderts, den marktliberalen Deregulierungen und der beschleunigten Pluralisierung seit den achtziger Jahren folgte die Kultur der Inklusion.

Rödders zumindest nicht beunruhigendes Fazit: Das historische Wechselspiel zeigt bislang keine erkennbare übergeordnete Richtung – weder in eine bessere Welt noch in den Verfall.

Udo Di Fabio: Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss. München: C. H. Beck Verlag 2015, 272 Seiten, 19,95 €

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. München: C. H. Beck Verlag 2015, 687 Seiten, 29,95 €

Oliver Stone und Peter Kuznick: Amerikas ungeschriebene Geschichte. Die Schattenseiten der Weltmacht. Berlin: Propyläen Verlag 2015, 368 Seiten, 22,00 €

Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 1229 Seiten, 49,95 €

Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München: C. H. Beck Verlag 2015, 494 Seiten, 24,95 €

Heinrich August Winkler: Zerreißproben. Deutschland, Europa und der Westen. Interventionen 1990-2015. München: C. H. Beck Verlag 2015, 230 Seiten, 14,95 €

Dr. Thomas Speckmann ist Leiter des Referats Reden und Texte, Stab Strategie und Kommunikation, Bundesministerium der Finanzen. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 137-141

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