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01. Okt. 2007

Von Windhunden und Hasen

Deutschland sollte auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verzichten

Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist seit Jahren überfällig. Dies wird heute selbst von den Bremsern nicht mehr geleugnet. Die konkrete Umsetzung dieses hehren Zieles erweist sich jedoch als äußerst schwierig. Auch die deutsche UN-Politik trug zuletzt mehr zum Problem als zu seiner Lösung bei. Ein klarer Kurswechsel tut not.

1 Deutschland hat im Reformprozess seit Beginn der neunziger Jahre eine zentrale Rolle gespielt: zunächst als moderate Stimme für eine Reform, die die genuinen Ziele der UN in den Mittelpunkt rückt, im Laufe der neunziger Jahre und vor allem unter Rot-Grün aber immer stärker als Polarisierer. Statt auch in der heiklen Frage der Reform des UN-Sicherheitsrats jene vermittelnde Rolle zu spielen, für die deutsche Diplomatie lange gerühmt wurde, setzte sich zuletzt eine Eigennutz maximierende Prestigepolitik durch. Im Spätsommer 2005 war diese Strategie jedoch gescheitert. Der Wechsel im Bundeskanzleramt schien eine außenpolitische Kehrtwende zu markieren, betrat mit Angela Merkel doch eine Novizin die Bühne, die sich ganz in die außenpolitische Tradition Helmut Kohls, eines heftigen Kritikers der rot-grünen UN-Ambitionen, zu stellen schien. An der Grundorientierung deutscher UN-Politik hat sich bislang allerdings wenig geändert.

Zwar wird das Projekt Sicherheitsratssitz nunmehr weitaus geschickter verpackt. Am Inhalt hat sich allerdings wenig geändert. In der Koalitionsvereinbarung von 2005 wurde die alte Linie fortgeschrieben, dass Deutschland zwar „in der Perspektive (…) weiterhin einen ständigen Sitz für die EU“ anstrebe, zwischenzeitlich aber erst mal „bereit“ bleibe, „auch mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen“. Diese Linie wurde von Merkel gegen heftige innerparteiliche Widerstände sogar zu einem Bestandteil des außenpolitischen Leitantrags der CDU im vergangenen Herbst. Skeptiker sahen sich daher auch in ihrer Einschätzung bestätigt, dass eine Parteitagsrede Merkels aus dem Jahr 2004 eher ihre UN-Überzeugungen spiegelte. In einem fulminanten Plädoyer hatte sie sich damals gegen die Übernahme „zweitklassiger Verantwortung“ ausgesprochen und ohne Umschweife einen ständigen Sitz mit allen Rechten und Pflichten gefordert. Nicht zu übersehen ist allerdings auch, dass sich Merkel seit ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin nirgends dezidiert festgelegt hat. Lange Zeit erschien es sogar besonders auffällig, wie sehr sie das Thema selbst bei nahe liegenden Gelegenheiten mied.

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Heftes war noch nicht abzusehen, wie sich die deutsche Bundeskanzlerin in ihrer ersten Rede vor der UN-Generalversammlung positionieren würde. Anzunehmen war, dass sie der Klimapolitik besondere Aufmerksamkeit widmen und das Thema UN-Reform lediglich in allgemeiner Form streifen würde. Nicht auszuschließen war aber auch eine weitergehende Reforminitiative, hatte sie doch während ihres Besuchs in China und Japan im August solche Signale ausgesandt.

Die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des Sicherheitsrats ist augenfällig. Sie wird von den aufstrebenden Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas immer lauter eingeklagt. Das Dilemma der deutschen Außenpolitik ist, dass es mit jedem Jahr schwieriger wird, den Anspruch auf einen dritten ständigen Sitz für ein Mitglied der Europäischen Union als legitim darzustellen. Mehr noch: In dem Maße, in dem Deutschland darauf insistiert, macht es sich selbst zur Zielscheibe der zunehmenden (vor kurzem auch in dieser Zeitschrift vorgetragenen) Kritik,2 die „dem Westen“ vorhält, seine Dominanz in den wichtigsten internationalen Institutionen perpetuieren zu wollen.

Das spannende politische Problem, das sich vor diesem Hintergrund stellt, lässt sich in zweifacher Form zuspitzen. In einer generalisierten Variante lautet es in etwa wie folgt: Wie lange kann die deutsche Außenpolitik einen zunehmend als illegitim wahrgenommenen (oder doch zumindest als weit weniger legitim als bei Konkurrenten aus Asien, Afrika oder Lateinamerika angesehenen) globalen machtpolitischen Anspruch aufrechterhalten, ohne erhebliche Abstriche am Image einer um Vermittlung und fairen globalen Ausgleich bemühten „Zivilmacht“ in Kauf nehmen zu müssen? Und personalisiert: Wie lange kann das Image von Bundeskanzlerin Merkel als „ehrlicher Maklerin“ vom Makel engstirniger nationaler Interessenmaximierung frei gehalten werden, wenn unter ihrer richtlinienkompetenten außenpolitischen Führung dem Trend der machtpolitischen Resozialisierung deutscher Außenpolitik durch eine Fortsetzung Schröder’scher Prestigepolitik Vorschub geleistet wird?

Gewiss, dies sind Zuspitzungen. Sie haben aber schon deshalb einen wahren Kern, weil die Widersprüche deutscher Außenpolitik unübersehbar sind. Sie zeigen sich etwa darin, dass der Sonntagsrhetorik eines „einigen Europa“ im diplomatischen Alltag der Vereinten Nationen bestenfalls „aufgeklärte Interessenspolitik“ (Bernd Mützelburg) folgt, die alles unterlässt, was eine konkrete außenpolitische Gemeinsamkeit der EU ermöglichen könnte. Wenn es aber richtig ist, was Angela Merkel anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge zur Notwendigkeit gemeinsamen europäischen Handelns sagte („Nicht allein handeln, sondern gemeinsam in einem einigen Europa“), dann wird das Festhalten am Anspruch auf einen ständigen Sitz immer unhaltbarer.

Wachsender Druck auf Deutschland

Drei Gründe sprechen dafür, dass der Druck auf Deutschland zunehmen wird – und daher auch der Anreiz steigen könnte, eine Kurskorrektur vorzunehmen. Erstens ist die vormals beträchtliche Unterstützung für Deutschlands Anspruch in den vergangenen zwei Jahren deutlich zurückgegangen. Von den 151 UN-Mitgliedsstaaten, deren Position zur Reform des Sicherheitsrats dokumentiert ist, befürworten 86 zusätzliche ständige und/oder nichtständige Sitze. Von diesen 86 unterstützen allerdings nur 32 einen Sitz für Deutschland (oder die anderen so genannten „G-4 Staaten“ Brasilien, Indien und Japan, mit denen sich Deutschland zusammengeschlossen hat). Die anderen setzen sich vor allem für eine verbesserte Repräsentanz der Entwicklungsländer ein. 13 Staaten lehnen neue ständige Mitglieder explizit ab – darunter vor allem die Länder, die durch eine Aufwertung der G-4-Staaten selbst Statuseinbußen hinnehmen müssten. 52 Staaten äußern sich nicht oder spezifizieren ihre Präferenzen nicht näher. Insgesamt bedeutet dies für die G-4, dass der Gruppe ihrer 32 eindeutigen Unterstützer 119 Staaten gegenüberstehen, die entweder andere Vorschläge präferieren oder eine Erweiterung um neue ständige Mitglieder grundsätzlich ablehnen.

Zweitens stellt sich Deutschlands Situation auch innerhalb der EU weit weniger positiv dar als dies vom Auswärtigen Amt suggeriert wird. Von den 15 Mitgliedsstaaten der EU, die sich im Dezember 2006 im UN-Rahmen geäußert haben, traten (außer Deutschland) lediglich noch fünf explizit als Ko-Sponsoren des G-4-Resolutionsentwurfs auf: die Tschechische Republik, Finnland, Frankreich, Portugal und Griechenland. Hinzu kommt die Slowakei, die sowohl den deutschen als auch den japanischen Anspruch unterstützt, aber nicht als Ko-Sponsor auftritt. Der überschaubaren Gruppe von Anhängern steht jedoch mit den Niederlanden, Spanien, Malta, Schweden, Zypern und Italien eine sogar leicht größere Gruppe von offenen Widersachern Deutschlands gegenüber. Die dritte Gruppe umfasst all jene Länder, die sich keinem der beiden Lager eindeutig zuordnen lassen. Sie stellt mit 15 Staaten die große Mehrheit. Großbritannien steht der deutschen Position noch am nächsten, was genau wie im Falle der Unterstützung Frankreichs schon deshalb kaum verwundern kann, weil die Erweiterung des Rates um einen ständigen deutschen Sitz den eigenen Anspruch zementieren würde. Polen, Lettland, Belgien und Dänemark gehörten 2005 noch zu den Ko-Sponsoren des G-4-Vorschlags. Zuletzt verzichteten sie jedoch darauf, ihre Unterstützung erneut zu Protokoll zu geben. Eine Gruppe von immerhin neun EU-Partnern hat sich im Verlauf der letzten zwei bis drei Jahre entweder gar nicht zur Reformfrage geäußert (Irland, Litauen, Luxemburg, Österreich, Ungarn, Estland) oder aber keine erkennbare Position bezogen (Bulgarien, Rumänien und Slowenien). Nicht minder wichtig ist, dass sich sowohl in der Kommission wie im Europäischen Parlament praktisch nur kritische Stimmen zur deutschen Forderung finden.

Drittens sind im ungleichen G-4-Zweckbündnis allseitige Absetzbewegungen unübersehbar. Die japanische Regierung hat bereits im Juli 2006 eine Kehrtwende vollzogen und eine Kampagne zur Reduzierung des eigenen sowie zur Erhöhung des chinesischen Anteils am UN-Haushalt begonnen. Noch bedeutsamer ist, dass sie die bislang vergleichsweise kulanten Bedingungen für einen Beitragsrabatt für Entwicklungsländer zu deren Lasten verändert sehen möchte. Auch Brasilien und Indien haben den engen Schulterschluss der G-4 gelockert und sich mit Südafrika im Rahmen des 2003 begründeten „India Brazil South Africa Dialogue Forum“ (IBSA) zusammengetan, um der Forderung einer machtvolleren kollektiven Repräsentation der Entwicklungsländer Nachdruck zu verleihen. Hier ist von besonderem Interesse, dass sich zwar im Dezember 2006 noch immer knapp zwei Drittel der zu diesem Thema das Wort ergreifenden UN-Mitgliedsstaaten für zusätzliche ständige Sitze ausgesprochen haben (46 von 73), jedoch nur ein knappes Viertel explizit den G-4-Entwurf unterstützt (18 von 73). Diese Differenz erklärt sich vor allem dadurch, dass viele Mitglieder der „Blockfreien“ zwar die Kandidaturen Indiens, Brasiliens und afrikanischer Staaten unterstützen, jedoch Vorbehalte gegen Japan und Deutschland hegen.

Ein eher positiver Anreiz für eine grundlegende Kurskorrektur ergibt sich schließlich daraus, dass die Frage eines ständigen deutschen Sitzes in der deutschen Öffentlichkeit keine großen Leidenschaften weckt. Mehrere Umfragen lassen sich in diesem Zusammenhang anführen. Erstens schätzen die Deutschen den Einfluss Deutschlands in der Welt recht nüchtern ein. Nur etwa ein Drittel der Befürworter wie auch der Kritiker deutscher Außenpolitik glauben, dass Deutschland eine „wichtige Rolle“ spielt.

Eine Mehrheit geht zudem davon aus, dass sich die deutsche Position in den letzten Jahren eher verschlechtert hat. Drittens lehnen die Deutschen immer stärker eine „aktive Außenpolitik“ ab, die notgedrungen mit einem ständigen Sitz einhergehen würde. Auf die Frage, wie sich Deutschland in der internationalen Politik verhalten solle, spricht sich nur ein Drittel für eine aktive Außenpolitik aus; 43 Prozent sind der Auffassung, dass sich Deutschland „eher auf die Bewältigung der eigenen Probleme konzentrieren und sich aus Problemen, Krisen und Konflikten anderer möglichst heraushalten“ sollte. Viertens ist die große Mehrheit (68 Prozent), die sich feststellen lässt, wenn direkt nach der Befürwortung eines ständigen nationalen Sitzes für Deutschland gefragt wird, dadurch zu relativieren, dass ähnliche Mehrheiten einen ständigen Sitz für die EU unterstützen (64 Prozent). Kurzum: Die Unterstützung für einen nationalen Sitz ist ausgesprochen seicht und die Bereitschaft, bei entsprechender politischer Führung einen europäisch ausgerichteten Sitz zu unterstützen, mindestens genauso stark ausgeprägt.

Die nahe liegende Schlussfolgerung ist, dass die Rahmenbedingungen für einen proeuropäischen Kurswechsel der deutschen UN-Politik günstig sind. Dies wird umso deutlicher, je mehr man sich vergegenwärtigt, wie wichtig Deutschland, Italien und die EU für echte Fortschritte im Reformprozess sind, und wie aussichtslos die Hoffnung ist, einen nationalen ständigen Sitz für Deutschland zu erringen. Ersteres ergibt sich aus der Positionierung Deutschlands und Italiens an der wichtigen Konfliktlinie zwischen jenen Staaten, die ständige Sitze einfordern, und jenen, die diese verhindern wollen. Dazu gehört ferner das Gewicht der EU in den Vereinten Nationen. Addiert man die Beiträge aller EU-Staaten, so kommen sie für beinahe 40 Prozent des jährlichen UN-Haushalts und der UN-Friedensmissionen sowie fast 50 Prozent der Beiträge zu den sonstigen UN-Programmen auf. In der Generalversammlung verfügen sie über 27 der 192 Stimmen. Stellt man ferner in Rechnung, dass der Einfluss der EU auf viele osteuropäische Nicht-EU-Mitglieder sowie Staaten Lateinamerikas beträchtlich ist (Insider kalkulieren hier mit einer EU-Hausmacht in der UN-Generalversammlung von 50 bis 55 Stimmen), so wird schnell deutlich, wie wichtig die Rolle der EU für jegliche Entscheidungsfindung ist.

Wie aussichtslos dagegen die Hoffnung auf einen ständigen deutschen Sitz ist, wird augenscheinlich, wenn man sich die machtpolitische Grundkonstellation der Sicherheitsratsreform vergegenwärtigt. Alle Anwärterstaaten übersehen nämlich geflissentlich, wie sehr sie zum Spielball der ständigen Mitglieder geworden sind. Sie alle ähneln immer mehr jenen englischen Windhunden, die einem gelenkten künstlichen „Hasen“ hinterherhecheln, den sie freilich, weil es Teil des Spieles ist, nie fangen werden. Mehr noch: Im Unterschied zu den Windhunden, die nach einigen Runden durchs Ziel laufen, wird den Sicherheitsratsaspiranten womöglich nur vorgetäuscht, es gäbe tatsächlich ein „Ziel“, das mit dem Banner „Erweiterung des Sicherheitsrats um ständige Mitglieder“ überschrieben ist und das diejenigen vermeintlich als Gewinner erreichen, die sich im Schmieden von Koalitionen am geschicktesten anstellen. Da die eherne internationale Politik jedoch hinreichend viele Staaten mit einem Mindestgeschick in der Disziplin kurzfristiger Bündnispolitik ausgestattet hat, heben sich die Vorteile wechselseitig auf. Die Nutznießer der Uneinigkeit sämtlicher Aspiranten sind vor allem die derzeitigen ständigen Mitglieder. Mit Vetomacht ausgestattet, können sie jederzeit auf die Bremse treten. Das ist derzeit aber gar nicht nötig, weil sich die „P-5“ gewiss sein können, dass die aussichtsreicheren Konkurrenten und ihre weniger aussichtsreichen Widersacher einander genügend Steine in den Weg legen. Sie können sich zurücklehnen und ganz allgemein Reform predigen oder sogar dem einen oder anderen Kandidaten explizit Unterstützung zusichern, denn sie können sich ziemlich sicher sein, dass sich immer genügend spezifischer Widerstand gegen einzelne Kandidaten mobilisieren lässt – und damit jegliche Reform auf den Sankt Nimmerleinstag vertagt wird.

Dieser Teufelskreis wird sich nur durchbrechen lassen, wenn hinreichend viele und hinreichend gewichtige Staaten aus der Tretmühle nationaler Prestigemaximierung aussteigen, sich zusammenschließen und den Anachronismus der derzeitigen Machtverteilung im globalen Maßstab kollektiv anprangern. Dies würde u.a. bedeuten, nicht nur das Privileg des Vetos, sondern auch den Status ständiger Mitgliedschaft zumindest prinzi-piell zu delegitimieren. Eine so genannte „semipermanente“ Mitgliedschaft, die im Kern die Aufhebung des Wiederwahlverbots beinhaltet und seit längerem in der Diskussion ist, könnte hier den Ausweg weisen. In diese Richtung entwickelte sich im letzten Halbjahr tendenziell auch die Diskussion in der zuständigen UN-Arbeitsgruppe. Allerdings insistieren nach wie vor gewichtige Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas auf der vorbehaltlosen Einrichtung ständiger Sitze. Wenn es jedoch richtig ist, dass dieses Verlangen aussichtslos ist, sollten sich früher oder später Vorreiter finden, die Auswege skizzieren und dabei z.B. die semipermanente Mitgliedschaft in den Mittelpunkt rücken. Im vergangenen halben Jahr hat sich der deutsche UN-Botschafter Thomas Matussek durchaus in diesem Sinne engagiert. Von Kritikern des deutschen Anspruchs wird die deutsche Zustimmung zum jüngsten „intermediary approach“ aber als ziemlich durchsichtiges Manöver abgetan, soviel wie möglich von den wegschwimmenden Fellen zu retten und Deutschland gleichsam durch die Hintertür eines vorläufig semipermanenten Sitzes per Gewohnheitsrecht einen quasipermanenten Sitz zu sichern.

„Europa gelingt gemeinsam“

Um die Aussichten auf eine erfolgreiche Reform zu verbessern und die Reputationsverluste Deutschlands einzudämmen, ist jedoch keine taktische Anpassung, sondern ein grund-legender Kurswechsel nötig. Diesen könnte die Bundesregierung beispielsweise wie folgt bewerkstelligen. Im Anschluss an das Motto ihrer EU-Ratspräsidentschaft („Europa gelingt gemeinsam“) könnte Bundeskanzlerin Merkel eine Initiative für eine gemeinsame EU-Position entwickeln. Sie müsste dies keineswegs von vornherein mit einem Verzicht Deutschlands auf die Option eines der Region „Westeuropa“ zugewiesenen semi-permanenten Sitzes verbinden. Mehr noch, sie könnte sogar explizit den Anspruch aufrechterhalten, wie er sich in der jüngst vorgetragenen Linie findet, für Deutschland (zunächst für eine Übergangszeit) einen semipermanenten Sitz anzustreben. Um eine solche Forderung für eine Mehrheit der EU-Partner akzeptabel zu machen, müsste sie diesen Anspruch allerdings in verallgemeinerungsfähige Prinzipien einbetten. Dazu zählen insbesondere zwei:

(1) Weil es innerhalb der EU keine ständigen Vorrechte gibt, können EU-Mitgliedsstaaten auch nicht voneinander fordern, solche Rechte auf Dauer zugesprochen zu bekommen (Frankreich und Großbritannien bilden hier eine Ausnahme, weil ihre Mitgliedschaften im Sicherheitsrat ihrem jeweiligen Beitritt zur EU vorausgingen). „Freie Wahlen“ bzw. ein Surrogat in Form von Aushandlungsprozessen sind daher die der EU angemessene Form, um ihre Vertreter im UN-Sicherheitsrat zu bestimmen. Wenn Deutschland sich, statt eine ständige Mitgliedschaft qua UN-Charta-Änderung einzufordern, der Wahl durch seine wichtigsten Verbündeten unterwerfen würde, würden jene Mitgliedsstaaten, die Deutschland den Anspruch, die EU oft oder sogar „semi-permanent“ zu vertreten, streitig machen wollten, ihrerseits herausgefordert, sich der offenen Konkurrenz zu stellen. Damit würde nicht nur der Wettbewerb unter „UNO-philen“ EU-Mitgliedern befördert, der letztlich den Vereinten Nationen selbst zugute käme, sondern auch der GASP ein wichtiger Dienst erwiesen.

(2) Im Einklang mit dem unter ihrer Präsidentschaft im Juni 2007 beschlossenen EU-„Reformvertrag“ könnte Frau Merkel ferner ankündigen, dass Deutschland sich an die Spitze jener Mitgliedsstaaten stellt, die die GASP im Rahmen der Vereinten Nationen stärken wollen. Sie könnte ähnlich gesinnte Staaten einladen, zusammen mit Deutschland eine feierliche Selbstverpflichtung zu unterschreiben, die insbesondere zwei Punkte enthalten sollte: Erstens sollten sich die Unterzeichner verpflichten, die Umsetzung des neuen 3. Satzes von Art. 19 EUV, demzufolge die Union den Hohen Vertreter stärker in ihre Sicherheitsratspräsenz einbindet, konsequent voranzutreiben. Zweitens sollten sie sich verpflichten, dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament über ihr Abstimmungsverhalten regelmäßig Bericht zu erstatten und dabei explizit darzulegen, wie ihre Politik die Ziele der Union befördert haben. Damit wäre nicht nur ein Mechanismus der Rechenschaftslegung gegenüber jenen geschaffen, die über eine mögliche Wieder- oder eben auch Abwahl von EU-Sicherheitsratsmitgliedern zu entscheiden hätten, sondern auch eine Rückkoppelung an den europäischen Souverän erreicht.

Prof. Dr. GUNTHER HELLMANN, geb. 1960, lehrt Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt a.M.

ULRICH ROOS, geb. 1973, promoviert an der Johann Wolfgang Goethe Universität zur Entwicklung deutscher Außenpolitik seit der Vereinigung.

  • 1Dieser Beitrag basiert auf umfangreichen Untersuchungen deutscher UN-Reformpolitik, die -parallel unter dem Titel „Das deutsche Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat: Analyse eines Irrwegs und Skizzen eines Auswegs“ in der Reihe „Policy Reports“ des Instituts für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg, erschienen sind. Aus Platzgründen verzichten wir hier auf Belege. Diese finden sich allerdings sowohl in der INEF-Studie (verfügbar unter http://inef.uni-due.de/page/documents/Report92.pdf ) als auch in einer um Fußnoten erweiterten Fassung dieses Beitrags, die unter http://www.soz.uni-frankfurt.de/hellmann/ip_10-2007anm.pdf abrufbar ist.
  • 2Kishore Mahbubani: Der Westen als Nadelöhr. Amerikanische und europäische Machtanmaßung in den internationalen Institutionen gefährdet deren Legitimität, Internationale Politik, Juli/August 2007, S. 54–64.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 92 - 99.

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