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26. Aug. 2016

Von wegen „gute Europäer“

Auch deutsche Politiker unterminieren das Vertrauen in die EU

Als Sahra Wagenknecht von den „Brüsseler Antidemokraten“ sprach, regte sich parteiübergreifende Kritik. Aber die Fraktions­chefin der Linkspartei ist keineswegs die einzige, die das Vertrauen in EU-Institutionen untergräbt. Gerade Politiker, die sich gerne als Vorreiter europäischer Integration sehen, leisten einen Beitrag zum Ansehensverlust der EU.

In Deutschland eint die etablierten Parteien seit Jahrzehnten die Überzeugung: Eine immer tiefere EU-Integration liegt im nationalen Interesse und muss deshalb gefördert werden. In der Selbstwahrnehmung gehören deutsche Politiker zu den „guten“ Europäern, die sich sowohl gegen überzogenen Nationalismus stemmen als auch die engere Kooperation und das Zusammenwachsen der europäischen Staaten fördern. Als europapolitische „bad guys“ gelten vor allem die im EU-Parlament vertretenen Rechtspopulisten – die britischen Nationalisten, die die Brexit-Entscheidung herbeigeführt haben; nationalkonservative Osteuropäer in Polen und Ungarn, die die rechtsstaatlichen Normen auf die Probe stellen – oder linkspopulistische Politiker in Griechenland, Italien, Spanien oder Frankreich, die Grundregeln der EU und der Euro-Zone nicht einhalten wollen.

Doch dieses Bild hat Kratzer bekommen, auch wenn man das in Berlin nicht wahrnehmen will. Das zeigen die Konflikte um das EU-Handels­abkommen mit Kanada (CETA), das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat und den Stabilitätspakt. Ohne in den beschriebenen Fällen in der Sache Stellung zu nehmen: Deutschlands Politiker haben trotz anderweitiger Beteuerungen fleißig zum schlechten Ansehen der Europäischen Union und vor allem der EU-Institutionen beigetragen. Die Angriffslinien gleichen dabei denen der Europa-Gegner: Mal wird die angeblich nicht ausreichende Legitimität des Europäischen Parlaments kritisiert, mal die der EU-Kommission, mal die generelle Zuständigkeit der europäischen Ebene, wenn man mit einer Entscheidung nicht einverstanden ist.

Dass Politiker unpopuläre Entscheidungen gerne auf Brüssel abwälzen, ist seit Jahrzehnten festes Element der Europapolitik und hat in allen EU-Staaten Tradition. Es gehört zum normalen Rollenspiel, dass sich zwischen Nationalregierungen und der EU-Ebene immer wieder echte Interessenkonflikte ergeben, die auch ausgetragen werden müssen. Genauso werden im föderal organisierten Deutschland Streitpunkte zwischen Bund und Ländern ausgetragen, die sich wechselseitig die Verantwortung für Probleme und deren schleppende Lösung zuschieben.

Die entscheidenden Unterschiede sind aber: Das innerdeutsche Rollenspiel ist fest etabliert, die Auseinandersetzungen finden zwischen voll funktionsfähigen Landesregierungen und einer voll funktionsfähigen Bundesregierung statt. Hinzu kommt, dass es deutsche Medien gibt, die die Interessen beider Seiten erklären. In der EU fehlt dies im doppelten Sinne.

Es gibt keine echte europaweite Öffentlichkeit, die Sachwalter europäischer Sichtweisen ist. Die nationale mediale Wertung in Streitfällen dominiert, wie die deutsche Debatte über transatlantische Handelsabkommen zeigt. Außerdem ist die EU kein „ausgereiftes“ politisches Gebilde; sowohl die Rolle der EU-Kommission als auch die des EU-Parlaments sind im Fluss. Die Kommission ist noch lange keine „politische Regierung“ der EU. Dies führt dazu, dass sie wahlweise dafür kritisiert wird, dass sie sich wie eine Regierung verhalte – oder eben gerade nicht. Ausschlaggebend dafür ist vor allem, ob sie nationale Wünsche umsetzt.

Fördernde Kraft und Hindernis

Dabei sind es vor allem die nationalen Regierungen, die verhindert haben, dass die EU-Institutionen die ihnen tatsächlich oder gefühlt übertragenen Aufgaben überhaupt erfüllen konnten. Sowohl die Euro-­Zone als auch der Schengen-Raum sind Schönwetterkonstrukte, zusammengeschustert von Politikern, die zwar mit viel Pathos von „Europa“ redeten, aber aus nationalen Befindlichkeiten verhinderten, dass die für das dauerhafte Funktionieren notwendige und ausreichende Kompetenzübertragung auf die EU-Ebene stattfand. Auch Deutschland ist eben nicht nur fördernde Kraft bei der EU-Integration gewesen – ebensowenig wie der engste Partner Frankreich. Zur Erinnerung: Diese Bundesregierung blockierte lange Zeit eine Quotenverteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten und schwenkte erst in dem Moment um, als die Bundesrepublik 2015 selbst massiv betroffen war. Wie so oft wurde die deutsche Forderung nach „Solidarität“ dann aber mit besonders großem moralischen Eifer vorgetragen.

Seit vielen Jahren streichen deutsche Regierungen zudem die Dividende wegfallender Grenzen und einer gesamteuropäischen Sicherheit im Schengen-Raum ein, ohne einen ausreichenden Beitrag dafür zu leisten, dass im Gegenzug die EU-Außengrenzen geschützt werden. Gemeinsame europäische Streitkräfte scheitern auch am deutschen Sonderweg einer Parlamentsarmee, das Entstehen einer gesamteuropäischen Rüstungs­industrie an der typisch deutschen Befindlichkeit gegenüber allem „Militärischen“.

Die Entfremdung zwischen Brüssel und der Bevölkerung in den Mitgliedsländern wächst aber, wenn die Beteiligten nicht immer wieder erklären, dass die Hauptverantwortung für das Nichtfunktionieren Europas in den nationalen Hauptstädten liegt – auch für die hohe Arbeitslosigkeit, die hohen Schulden und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.
 

Schwächung des EU-Parlaments

Doch auch aus Berlin wurde parteiübergreifend auf die EU-Kommission eingeprügelt und die Legitimität der Brüsseler Behörde sowie des Europaparlaments angezweifelt. Trauriger Höhepunkt war dabei der Satz der Vorsitzenden der Linkspartei-Frak­tion im Bundestag am 7. Juni: „Ich hätte von der Bundesregierung schon gerne gehört, wie sie zu dieser erneuten Unverschämtheit unserer Brüsseler Antidemokraten steht“, sagte ­Sahra Wagenknecht über die damalige Position von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dass das EU-Handels­abkommen mit Kanada kein so genanntes gemischtes Abkommen sei. Wegen der Zuständigkeit der ­Union für die Handelspolitik hielt er deshalb die Ratifizierung von CETA auf EU-Ebene für ausreichend.

Die folgende scharfe Kritik von SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann an Wagenknecht änderte nichts daran, dass sich Sozialdemokraten an den scharfen Angriffen beteiligten. Im CETA-Streit ging Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel auf Frontalkurs zur EU-Kommission. Der SPD-Chef bezeichnete Junckers Vorschlag als „unglaublich töricht“. Der Vorsitzende der Europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, nannte Junckers Vorgehen eine „frivole Anmaßung“ und suggerierte, dass die Kommission parlamentarische Mitbestimmungsrechte aushebeln wolle. Beide Politiker pochen auf eine Zustimmung auch der nationalen Parlamente.

Zwar ist dies ein typischer, sogar notwendiger Rechtsstreit zwischen nationaler und europäischer Ebene, der derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof in Sachen Ratifizierungsverfahren für das EU-Handelsabkommen mit Singapur ausgetragen wird. Aber Juncker hatte formal zunächst einmal nur das getan, was er als EU-Kommissionschef tun musste. Ihm lag ein Rechtsgutachten des juristischen Dienstes seiner Behörde vor, nach dem CETA kein gemischtes Verfahren sei. Doch ausgerechnet deutsche Politiker, die sonst gerne auf die Einhaltung von Rechtsnormen in der EU bestehen, forderten in diesem Fall von Juncker eine „politische“ Lösung – weil sie ihren Wählern längst unilateral eine nationalstaatliche Ratifizierung versprochen hatten. Dabei teilt die Mehrheit der EU-Staaten deutsche Vorbehalte gegen Handelsabkommen mit Kanada und den USA (TTIP) überhaupt nicht.

Zudem unterminieren nun ausgerechnet deutsche Politiker das Image des Europäischen Parlaments, das genau wie der Bundestag direkt gewählt ist und nach offizieller deutscher Lesart eigentlich gestärkt werden sollte. Sie unterstützen die vom Bundesverfassungsgericht 2011 im umstrittenen Urteil über die Fünf-Prozent-Hürde bei der Europawahl vertretene Auffassung, dass es sich beim EU-Parlament nicht um ein vollwertiges Parlament handele – obwohl alle großen Parteien das Urteil damals wegen dieser Begründung kritisiert hatten. Dass Kommissionspräsident Juncker am Ende dem starken deutsch-französischen Druck nachgab und plötzlich doch für eine Zustimmung auch der nationalen Parlamente plädierte, beschädigte ein altes Kernziel deutscher Europapolitik – die Stärkung der EU-Institutionen – dann gleich noch ein zweites Mal.

Der CETA-Streit ist dabei nicht das einzige Beispiel für dieses Vorgehen und der deutsch-französische Bruch des Stabilitätspakts 2004 nicht das erste. Bezeichnend ist ebenfalls das deutsche Agieren bei der Zulassung von Glyphosat in der EU: Obwohl es in der Bundesregierung bereits eine Einigung auf eine weitere Zulassung gegeben hatte, verhakte sich die Große Koalition in letzter Minute, weil die SPD-Fraktion Sturm lief. Die Folge: Deutschland enthielt sich im zuständigen EU-Gremium, eine Entscheidung konnte damit nicht mehr fallen. Die Europäische Kommis­sion musste es auf ihre Kappe nehmen, zumindest eine vorläufige Weiterzulassung von Glyphosat für 18 Monate und eine gleichzeitige neue Prüfung der Gefährlichkeit anzuordnen. Der schwarze Peter war erfolgreich nach Brüssel verschoben worden.
 

„Deutschland ist Deutschland“

Die regelmäßige Demontage der EU-Institutionen ist aber keineswegs auf Politiker des rot-rot-grünen politischen Lagers beschränkt. Die bayerische CSU hat eine lange Tradition, neben Berlin auch Brüssel die Schuld für alle möglichen Fehlentwicklungen in Europa zuzuschieben. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich schon 2010 dafür eingesetzt, bei Euro-Hilfsprogrammen neben der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank ebenfalls den Internationalen Währungsfonds zu beteiligen – was ein klarer Misstrauensbeweis gegen die damalige Kommission war, die in Berlin als zu offen für politischen Einfluss angesehen wurde. Nicht ohne Grund: Denn hinter der anhaltenden Nachsicht der EU-Kommission mit dem ständigen Defizitsünder Frankreich steht die taktisch motivierte Haltung der Bundesregierung, die sich einen deutsch-französischen Zwist nicht leisten kann – trotz aller innenpolitischen Bekenntnisse, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt ernst genommen werden müsse.

EU-Kommissionspräsident Juncker hat diesen Eindruck jüngst mit seiner flapsigen Bemerkung „Frankreich ist Frankreich“ beim Streit über die Behandlung von Defizitsündern noch verstärkt und dafür Kritik geerntet. Aber er hätte auch sagen können: „Deutschland ist Deutschland“. Denn die Bundesrepublik pocht trotz einer anderen Selbstwahrnehmung deutscher Politiker ebenfalls immer wieder auf eine Sonderbehandlung und das unausgesprochene Recht, als größter EU-Staat eigene Wege ohne Rücksprache mit den EU-Partnern zu gehen.

Dabei ist weniger die umstrittene Konsolidierungspolitik in der Schuldenkrise gemeint, bei der Deutschland trotz aller auf Berlin fokussierter Kritik in Wahrheit den Standpunkt von fast ganz Nord- und Osteuropa vertrat. Und auch nicht die Flüchtlingspolitik 2015, bei der die Haltung der Bundesregierung zwar innerhalb der EU nicht mehrheitsfähig war, die aber zumindest von der Suche nach einer gemeinsamen europäischen Antwort geprägt war.

Die plötzliche Wende in der Atompolitik ist allerdings ein solcher Fall. Zwar ist die Energiepolitik nicht vergemeinschaftet, sondern weiter in nationaler Zuständigkeit. Aber die innenpolitischen Querelen und die jahrelangen Verzögerungen beim Netzausbau in Deutschland sorgten dafür, dass die Überschussproduktion aus der gleichzeitig sehr schnell ausgebauten Windkraft einfach in die Stromnetze osteuropäischer Nachbarn gedrückt wurde.

Zuletzt beteiligte sich auch Finanzminister Wolfgang Schäuble an den Attacken gegen die EU-Kommission. Anders als Altkanzler Gerhard Schröder hatte Schäuble zwar bei allen Plädoyers für eine Begrenzung des EU-Haushalts nie den Eindruck geschürt, dass deutsches Geld in der EU „verbraten“ werde. Aber nach dem Brexit-Referendum machte Schäuble am 3. Juli in der Welt am Sonntag ausdrücklich die Kommission für die Unzufriedenheit vieler Bürger mit Europa verantwortlich – und damit indirekt auch für das britische Austrittsvotum. Er warf der Kommission Untätigkeit in zentralen Politikbereichen vor. „Und wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen“, so Schäuble.

Dabei ist der von ihm geforderte intergouvernementale Ansatz längst gängige Praxis in der EU – aber nicht etwa, weil die Kommission nicht spurt, sondern weil sich einzelne Mitgliedstaaten wie Großbritannien bei gemeinsamen Absprachen verweigerten und deshalb wie beim Fiskalpakt Wege außerhalb der EU-Verträge gewählt werden mussten. Auch in der Flüchtlingskrise und beim angestrebten EU-Grenzschutz verhinderte und verhindert – bei aller Kritik an zu schematischen Vorschlägen der Kommission – vor allem der Widerstand vieler Mitgliedstaaten schnellere Fortschritte. Zudem ist Schäubles Projekt einer Finanztransaktionssteuer ein Beispiel dafür, dass eine intergouvernementale Zusammenarbeit im kleineren Kreis keineswegs immer bessere Ergebnisse liefert.

Das rhetorische Umschwenken Schäubles auf ein Brüssel-Bashing ging deshalb selbst einigen Unionspolitikern zu weit. Am deutlichsten wurde der EVP-Fraktionsvorsitzende im Europopäischen Parlament, Manfred Weber (CSU). „Generell ist es so, dass manche nationale Regierungen ein unehrliches Spiel spielen“, kritisierte er in der Süddeutschen ­Zeitung vom 8. Juli. Er rügte nicht nur Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dem er eine bewusst zwiespältige Haltung bei der Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland vorwarf. Auch Schäuble habe der Kommission nach dem Brexit-­Votum den schwarzen Peter zugeschoben. „Wir erleben, dass sich der Populismus bis in höchste Regierungskreise einnistet“, kritisierte der CSU-­Politiker. Gemeint waren diesmal nicht London, Paris, Warschau, Athen oder Budapest – gemeint war Berlin.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chef­korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2016, S. 78-82

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