Von Verflechtungen und Verwerfungen
Steuern wir auf eine Konfrontation zwischen Washington und Peking zu, oder gibt es noch Spielraum für multilaterale Konfliktlösung? Neue Bücher zur amerikanisch-chinesischen Rivalität.
Dass sich die Weltordnung an einem kritischen Punkt befindet, ist nichts Neues. Dass es mit der Epoche dauerhaften Friedens nichts werden dürfte, die nach dem Ende des Kalten Krieges greifbar schien, ebenfalls. Heute dominieren Konfrontation und geopolitische Rivalität, ringen die Vereinigten Staaten und China um die globale Vorherrschaft – wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Viele sprechen von einem „neuen Kalten Krieg“.
Doch was erwartet uns: eine Blockbildung, die mit dem alten Ost-West-Konflikt vergleichbar wäre, oder entstehen neue, komplexere Frontlinien? Sicher ist nur, dass bewährte Ordnungsmechanismen unter Druck geraten. Während die USA ihre Bündnisse im Atlantik und im Indo-Pazifik festigen, baut China eigene Netzwerke und Infrastrukturprojekte auf. Europa muss sich entscheiden, ob es sich enger an Washington anlehnt oder als dritter Pol auftritt – zumal der russische Angriffskrieg in der Ukraine strukturelle Abhängigkeiten enthüllt hat.
Strategisch kurzsichtig
Andreas Rödder eröffnet in „Der verlorene Frieden“ den Blick zurück. Für den Mainzer Historiker ist die gegenwärtige Krise kein plötzlicher Bruch, sondern das Ergebnis westlicher Fehleinschätzungen und langfristiger Machtverschiebungen. Die Annahme, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft nach 1990 zwangsläufig global durchsetzen würden, erwies sich laut Rödder als trügerische Illusion.
Der Autor beschreibt, wie westliche Staaten nach dem Kalten Krieg geopolitische Realitäten unterschätzten, indem sie annahmen, wirtschaftliche Integration führe automatisch zu politischer Liberalisierung. Während China seinen wirtschaftlichen Einfluss strategisch ausbaute, versuchte Russland, seine geopolitische Stellung zurückzugewinnen – ein Prozess, der immer konfrontativere Züge annahm und schließlich in Wladimir Putins aggressive Politik mündete.
Ein zentrales Beispiel für solche Fehleinschätzungen ist Rödder zufolge die sogenannte NATO-Osterweiterung. Während der Westen sie als natürliche Sicherheitskonsolidierung betrachtete, empfand Russland sie als geopolitische Bedrohung – eine Wahrnehmung, die Putin gezielt instrumentalisierte.
Auch gegenüber China sollten sich die westlichen Grundannahmen als Irrtum erweisen. Nicht nur, weil Peking die globalwirtschaftliche Einbindung gezielt zur Stärkung seiner geopolitischen Autonomie nutzte, sondern auch, weil es gleichzeitig innenpolitisch eine autoritäre Konsolidierung vorantrieb.
Rödder fragt, ob der Westen anders hätte handeln müssen: Hätte eine stärkere Einbindung Russlands maßgeblich dazu beigetragen, Konflikte zu verhindern? Hätten früher definierte Grenzen gegenüber China den heutigen Wettbewerb entschärft? Der Autor gibt keine einfachen Antworten, macht aber deutlich, dass wirtschaftlicher Pragmatismus und Kurzsichtigkeit den Blick für strategische Risiken getrübt haben.
Für ihn steht fest: Die Welt bewegt sich nicht auf eine harmonische multipolare Ordnung zu, sondern in Richtung einer neuen Blockkonfrontation. Der Westen, vor allem Europa, müsse sich realpolitisch auf erneute geopolitische Auseinandersetzungen einstellen und eine eigenständige sicherheitspolitische Strategie entwickeln – idealerweise in transatlantischer Abstimmung, aber mit klarem Blick auf europäische Interessen.
In der Thukydides-Falle
Während Rödder die historischen Hintergründe ausleuchtet, richtet Robin Niblett den Blick auf die aktuelle Systemrivalität, die er als „neuen Kalten Krieg“ zwischen den USA und China beschreibt. Anders als im 20. Jahrhundert sind die beiden Großmächte heute jedoch wirtschaftlich eng miteinander verflochten, sodass eine radikale Entkopplung für beide Seiten mit hohen Kosten und Risiken verbunden wäre.
Niblett, ehemaliger Direktor des Thinktanks Chatham House, identifiziert fünf zentrale Strategien, um den Konflikt zu steuern: selektive wirtschaftliche Risikominderung in kritischen Bereichen („De-Risking“), den Ausbau transatlantischer und indopazifischer Partnerschaften, gezielte Technologieförderung zur Stärkung westlicher Demokratien, eine aktivere Strategie zur Eindämmung chinesischer Einflussnahme sowie ein gestärktes multilaterales Regelwerk zur Konfliktvermeidung. Niblett zeigt auf, wie China durch seine staatlich gelenkte Wirtschaftsstruktur gezielt Abhängigkeiten schafft – etwa durch Infrastrukturinvestitionen in Afrika oder mithilfe von Krediten an Länder des Globalen Südens.
Ein besonderer Zündfunke der aktuellen Konfrontation ist Taiwan, das Niblett als potenziellen Eskalationsherd beschreibt. Ein chinesischer Angriff oder eine Blockade könnte Washington zu einer harten Reaktion zwingen.
Doch Niblett sieht Taiwan nicht nur als sicherheitspolitische Herausforderung, sondern zugleich als Schauplatz eines fundamentalen ideologischen Wettstreits zwischen einer liberaldemokratischen Ordnung und einem autoritären Staatskapitalismus. Dabei verweist er auf die Thukydides-Falle, wonach etablierte Mächte aufstrebende Rivalen als Bedrohung wahrnehmen und dies in der Geschichte oft zu militärischen Auseinandersetzungen geführt hat.
Niblett betont aber, dass eine Eskalation nicht unausweichlich ist. Die USA und ihre Verbündeten müssten ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strategien anpassen, ohne dabei den globalen Handel vollständig zu destabilisieren. Er hebt zudem hervor, dass viele Staaten des Globalen Südens sich nicht klar für eine Seite entscheiden, sondern eine pragmatische Balance zwischen China und dem Westen anstreben; in einer solchen Rolle könnten sie dazu beitragen, den Konflikt weiter zu verkomplizieren. Besonders wichtig ist für Niblett der Hinweis, dass China in strategischen Bereichen wie Halbleitern, KI und digitaler Infrastruktur weiterhin von westlichem Know-how abhängig bleibe – eine Hebelwirkung, die der Westen nutzen könne, um Chinas Expansion zu begrenzen und einen offenen Konflikt zu verhindern.
Düsteres Bild
Noch unmittelbarer als Niblett beschreibt der Journalist Elmar Theveßen in „Kampf der Supermächte“ die drängende Gegenwart. Für ihn sind die USA und China längst in einen globalen Wettstreit um geopolitische Dominanz verwickelt, der nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich, technologisch und propagandistisch geführt wird.
Während Washington versuche, Chinas Aufstieg durch Sanktionen, Technologiebeschränkungen und neue Bündnisse zu drosseln, arbeite Peking mit gezielten Investitionen und Kreditvergaben, nicht nur in Afrika oder Lateinamerika, sondern auch in Europa. Wir hatten das schon bei Robin Niblett; Theveßen bringt es auf die griffige Formel der „gekauften Freundschaften“.
Ein zentrales Thema in Theveßens Analyse ist die wirtschaftliche Entkopplung, mit der Washington Chinas wirtschaftlichen Einfluss begrenzen will. Parallel dazu testet China seine militärische Stärke durch regelmäßige Provokationen im Südchinesischen Meer und in der Taiwanstraße. Theveßen schildert detailliert, wie chinesische Kriegsschiffe und Kampfjets riskante Manöver gegen US-Streitkräfte durchführen und so die Eskalationsgefahr erhöhen.
Besonders eindrücklich analysiert der Autor die Informationskriegsführung beider Supermächte. Während China massiv in globale Medienpräsenz investiert, um seine Sichtweise zu verbreiten und Kritik an seiner Politik zu unterdrücken, präsentieren die USA den Konflikt als grundsätzlichen Systemwettstreit zwischen Demokratie und Autokratie. Theveßen zeigt, dass sich beide Seiten gezielt um die Meinungsbildung und politische Einflussnahme bemühen – sei es durch Wirtschaftspolitik, Diplomatie oder Desinformationskampagnen.
Auch Europa spielt in Theveßens Analyse eine zentrale Rolle: Bleibt die NATO gegenüber China ebenso geeint wie gegenüber Russland? Oder führen wirtschaftliche Abhängigkeiten zu einer schleichenden strategischen Spaltung des Westens? Immerhin versuche Peking gezielt, transatlantische Differenzen zu verstärken, um europäische Länder in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu manövrieren.
Theveßens Buch zeichnet ein düsteres Bild einer möglichen Eskalation, doch er sieht auch Handlungsspielräume: Der Westen könne eine Eskalation verhindern, wenn er geschlossen auftrete, wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten von China reduziere und eine klare sicherheitspolitische Strategie entwickele. Die kommenden Jahre seien dafür entscheidend.
Deeskalation durch Dialog
Während Theveßen die akute Gefährlichkeit des Wettstreits betont, nimmt David M. Lampton in „Living U.S.-China Relations“ eine stärker biografische und zivilgesellschaftliche Perspektive ein. Als langjähriger China-Beobachter, der seit den 1970er Jahren in wissenschaftlichen und regierungsnahen Funktionen tätig war, schildert Lampton die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nicht nur als Abfolge diplomatischer Großereignisse, sondern als ein tief verwobenes gesellschaftliches Geflecht.
Besonders anschaulich wird das anhand der zahlreichen Begegnungen und Biografien, die er in seine Erzählung einwebt – von amerikanischen Geschäftsleuten, die ihre Firmen in China ausweiten, bis hin zu chinesischen Studierenden in den USA.
Lampton widerspricht der populären These, Washington habe Chinas Aufstieg naiv gefördert. Vielmehr sei die Annäherung unter Richard Nixon 1972 ein strategischer Schachzug im Kalten Krieg gewesen, um die Sowjetunion zu schwächen.
Die Beziehung entwickelte sich über Jahrzehnte hinweg als dynamisches Wechselspiel zwischen wirtschaftlichen Interessen, geopolitischen Kalkülen und gesellschaftlicher Vernetzung. Während China von westlichem Kapital und Technologie profitierte, sahen US-Konzerne einen gigantischen Wachstumsmarkt. Kulturaustausch, Städtepartnerschaften und wissenschaftliche Kooperationen stärkten die wechselseitige Durchdringung.
Doch dieses Verhältnis, so Lampton, stehe heute vor einer gefährlichen Zerreißprobe. Er beschreibt es als „ausgedörrten Wald“, in dem der kleinste Funke eine unkontrollierte Eskalation auslösen könnte.
Fehlwahrnehmungen, innenpolitische Zwänge und militärische Muskelspiele hätten das gegenseitige Vertrauen erodieren lassen. Während die USA mit innenpolitischer Polarisierung kämpften, nutze Peking Instrumente der Geoökonomie, um eigene Interessen durchzusetzen. Gleichzeitig verkümmern viele einst stabile Austauschkanäle.
Was es jetzt brauche, seien politische Führungsfiguren, die bereit seien, die Geschichte des Gegenübers zu verstehen und den Dialog trotz aller Spannungen nicht abbrechen zu lassen. Zivilgesellschaft, wirtschaftliche Verflechtung und langfristige akademische Kooperationen könnten ein Korrektiv zur Eskalationslogik bieten. Eine vollständige Abkopplung der beiden Staaten hält Lampton für ebenso unrealistisch wie gefährlich.
Zwei Blöcke oder viele Pole
Die Autoren der besprochenen Bücher zeichnen ein vielschichtiges Bild der chinesisch-amerikanischen Rivalität. Rödder beleuchtet die Fehleinschätzungen und Machtverschiebungen seit 1990, Niblett spricht von einem „neuen Kalten Krieg“ in einer verflochtenen Welt, während Theveßen die schon jetzt an zahlreichen Fronten hochgefährliche Lage schildert. Lampton schließlich erinnert daran, dass selbst in Zeiten härtester Gegensätze Dialogpfade offenbleiben können, wenn politische Führungskräfte bereit seien, nationale Hardliner zu zügeln.
Ob die Welt auf eine neue Blockkonfrontation oder ein multipolares Gefüge zusteuert, bleibt offen. Rödder und Theveßen sehen deutliche Hinweise auf das Wiederaufleben bipolaren Denkens, Niblett plädiert für eine Mischung aus „De-Risking“ und Kooperation, während Lampton den Wert der zivilgesellschaftlichen Vernetzung hervorhebt.
Gerade Europa kann sich dieser Diskussion nicht entziehen. Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, wie rasch Abhängigkeiten zu Druckmitteln werden und Ordnungen ins Wanken geraten.
Ein „neuer kalter Krieg“ mag in der Luft liegen, doch unvermeidlich ist er nicht. Entscheidend sind Weitsicht und Dialog – und der Wille, globale Herausforderungen wie Klimawandel oder Pandemien nicht geopolitischen Rivalitäten zu opfern. Wohin die Reise geht, wird maßgeblich davon abhängen, wie klug die USA, China und Europa ihre Interessen mit ihrer gemeinsamen Verantwortung vereinbaren.
Andreas Rödder: Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost- West-Konflikt. München: C.H. Beck 2024. 250 Seiten, 26,00 Euro
Robin Niblett: The New Cold War. How the Contest Between the US and China Will Shape Our Century. London: Atlantic Books 2024. 192 Seiten, 8,48 Britische Pfund
Elmar Theveßen: Kampf der Super mächte: Amerika und China auf Konfrontationskurs. München: Piper 2024. Taschenbuch, 352 Seiten, 12,00 Euro
David L. Lampton: Living U.S.-China Relations. Lanham (Maryland): Rowman and Littlefield 2024. 440 Seiten, 85,00 US-Dollar
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S.120-123
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