Von der Industriebrache zur Ökoidylle
Grüne Städte in China: ein Streifzug
Chinas Wirtschaft wächst rasant. Millionen Menschen ziehen vom Land in die Städte. Sie brauchen Gebäude, Infrastruktur, Wasser, Nahrung, Arbeit. Das für ungebremsten Energieverbrauch und CO2-Ausstoß bekannte Land sucht mit neuen Ökostädten vom Reißbrett nach zukunftsfähigen Konzepten. Zum Beispiel mit der Tianjin Eco-City.
Parklandschaften, Promenaden und Täler schlängeln sich zwischen Wohngebäuden hindurch. Eine „grüne Lunge“ gibt der Stadt und ihren Bewohnern Luft zum Atmen. Menschen flanieren durch einen 50 Meter breiten und zwölf Kilometer langen Grünstreifen, der sich wie ein „grünes Rückgrat“ von Süd nach Nord durch die ganze Stadt zieht und Wohngebiete sanft mit Geschäftszentren verbindet. Ein klarer, sauberer See lädt zum Baden und Entspannen ein. Wasserstraßen sorgen wie das viele Grün für das ökologische Gleichgewicht der Stadt und die Lebensqualität der Bewohner. Vor allem Fußgänger und Radfahrer teilen sich die Straßen, Autos sind nur vereinzelt unterwegs. Die Luft ist klar.
Wie mit dem Weichzeichner skizziert scheint das, was schon in wenigen Jahren Realität werden soll. „Sino-Singapore Tianjin Eco-City“ heißt das gemeinsame Projekt der Regierungen Chinas und Singapurs. Angesichts smoggetränkter Städte wie Peking oder Schanghai, in denen sich die Menschen mit Mundschutz vor Gestank und Abgasen zu schützen versuchen, klingt es eher wie ein Hirngespinst. Doch die Tianjin Eco-City könnte die erste Ökostadt im Reich der Mitte sein, die nicht nur geplant, sondern tatsächlich auch gebaut wird.
Denn für die beiden zu gleichen Teilen beteiligten Regierungen ist es ein Prestigeprojekt. Im November 2007 unterschrieben Chinas Premier Wen Jiabao und Singapurs Ministerpräsident Lee Hsien Loong feierlich den Rahmenvertrag und beschworen darin eine „florierende Stadt, die sozial harmonisch, umweltfreundlich und ressourceneffizient ist – ein Modell für eine nachhaltige Entwicklung“.
Blaupause für die Zukunft
Hier an Chinas Ostküste, rund 150 Kilometer von der Hauptstadt Peking und 40 Kilometer vom Zentrum der Metropole Tianjin selbst entfernt, befindet sich eine der am schnellsten wachsenden Regionen Chinas. Insgesamt 30 Quadratkilometer soll die Tianjin Eco-City umfassen, eine Fläche etwa so groß wie die ostfriesische Insel Borkum. Das Ökoidyll soll ausgerechnet dort entstehen, wo sich noch vor vier Jahren ödes, nichturbares Land ohne ausreichend Trinkwasser erstreckte. Wo nichts war außer unbrauchbaren Salzfarmen, verschmutzten Wasserflächen und sehr kalkhaltige Erde. Eine verseuchte und stinkende Industriebrache.
Ganz bewusst habe man sich für eine solche Gegend entschieden, erklärt Ho Tong Yen, Geschäftsführer der Sino-Singapore Tianjin Eco-City Investment and Development Co. Ltd. (SSTEC), die den Masterplan entworfen hat. „Wenn es unter solch extremen Bedingungen gelingt, eine Ökostadt zu bauen, dann wird das mit großer Wahrscheinlichkeit überall gelingen.“ Die Tianjin Eco-City soll eine Blaupause für andere Städte in China sein, ein praktisches, finanzierbares, überall reproduzierbares und anpassungsfähiges Modell für die Zukunft. Zudem würden viele Ökoprojekte weltweit dafür kritisiert, dass sie auf Kosten von Ackerland oder einer reichhaltigen Artenvielfalt gebaut werden. Das habe man hier vermeiden wollen.
In den vergangenen vier Jahren ist in der Tianjin Eco-City schon einiges passiert: Der Boden wurde renaturiert, das verdreckte Wasser von Schwermetallen gereinigt, Grün gepflanzt. Im März dieses Jahres sind die ersten Bewohner eingezogen. Auf das versprochene Idyll müssen sie allerdings noch etwas warten. Vorerst rattern hier die Bohrer, prägen Kräne die Silhouette und klaffen riesige Baugruben in der Erde. Ende 2013 soll der erste Bauabschnitt fertig sein, in den 2020er Jahren dann die ganze Ökostadt – und damit eine neue Heimat für 350 000 Menschen.
Spitze bei Kohle und Erneuerbaren
Für China ist es höchste Zeit zu handeln. Das rasante Wirtschaftswachstum treibt nicht nur den Energiehunger des Landes in schwindelerregende Höhen, sondern auch Millionen Menschen vom Land in die Städte – 350 Millionen werden es nach Schätzung der Unternehmensberatung McKinsey bis 2025 sein. Sie brauchen Gebäude, Infrastruktur, Wasser, Nahrung, Arbeit. Und sie verursachen CO2, Verkehr und Müll. Metropolen wie Peking oder Schanghai drohen schon jetzt aus allen Nähten zu platzen.
Das enorme Wirtschaftswachstum hat bereits tiefe Spuren hinterlassen und massive Umweltprobleme nach sich gezogen: verschmutzte Luft, verdreckte Flüsse, zerstörte Böden, zu wenig Trinkwasser, immer knapper werdende Energieressourcen. Kein Land verbraucht derzeit so viel Energie und stößt so viel CO2 in die Atmosphäre wie China – hier entsteht mittlerweile fast ein Viertel der weltweiten CO2-Emissionen.
Zwar tragen auch ausländische, nicht zuletzt europäische Firmen mit dazu bei, weil sie, dann befreit von den CO2-Obergrenzen des Kyoto-Protokolls, nach China abgewandert sind. Doch auch das Land selbst stößt viel zu viel CO2 aus.
Gleichzeitig ist China Spitze beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Zwar gehen nirgendwo auf der Welt mehr neue Kohlekraftwerke ans Netz. Doch wurde laut Greenpeace International 2010 erstmals noch mehr Geld in erneuerbare Energien gesteckt – mehr als in allen anderen Ländern der Welt. „Die Hälfte aller weltweiten Windkraftanlagen wird inzwischen in China gebaut“, sagt Sven Teske, Energieexperte bei Greenpeace International. Umwelttechnologien sind auch in China zum Wirtschaftsfaktor geworden. Etwas anderes kann sich das mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern bevölkerungsreichste Land der Erde schlicht nicht mehr leisten. „China treibt den Ausbau der erneuerbaren Energien allerdings weniger aus ökologischer Überzeugung voran als vielmehr aus ökonomischer Notwendigkeit“, so Teske. Chinas Wirtschaftswachstum sei bislang vor allem abhängig von Kohle. Doch wie lange die Vorräte noch reichen, sei ungewiss. „Mittlerweile werden 50 Prozent der Schienen nur für den Kohletransport genutzt“, so Teske. „Die sind schon jetzt völlig überlastet.“ Zudem sei der Bau von Windkraftanlagen einfacher und günstiger als der neuer Kohlekraftwerke.
Ökologisches und soziales Idyll
Auch in der Tianjin Eco-City sollen, um die CO2-Emissionen zumindest etwas in Schach zu halten, bis 2020 erneuerbare Energien wie Sonne, Wind und Erdwärme 20 Prozent des Energiebedarfs decken und bis 2013 außerdem 60 Prozent des Abfalls recycelt werden. Es soll eine kompakte Stadt der kurzen Wege werden, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben vor dem motorisierten Verkehr und umweltfreundliche Nahverkehrsbahnen und Elektrobusse vor Autos. Geht es nach den Masterplanern, werden hier neun von zehn Wegen „grün“ zurückgelegt. Entsalztes Meerwasser und recyceltes Abwasser sollen die Hälfte des Trinkwasserbedarfs der Stadt decken. Alle Gebäude sollen energieeffizient sein und grünen Baustandards entsprechen, also besonders wärmegedämmt sein, doppelverglaste Fenster und wassersparende Armaturen haben. Das Duschwasser soll solarthermisch erhitzt und für die Toilettenspülung halb aufbereitetes Grauwasser genutzt werden.
In den über die Stadt verteilten Business Parks sollen vor allem Unternehmen aus den Bereichen Umweltschutz und Nachhaltigkeit ansiedeln, CO2-intensive Industrien hingegen verbannt werden. Der niederländische Philips-Konzern will in der Eco-City besonders energieeffiziente Leuchtsysteme testen, General Motors fahrerlose Elektroautos und das schwedische Unternehmen Envac ein druckluftbetriebenes unterirdisches Transportsystem für Abfälle, das abgasintensive Mülltransporte überflüssig macht. Die Gewerbezentren sind bewusst in der Nähe der Wohngebiete geplant, um Menschen und Umwelt lange Arbeitswege zu ersparen. Mindestens die Hälfte der Werktätigen soll hier einen Job finden.
„Soziale Harmonie“ spielt bei anderen Ökostadtprojekten bislang keine besondere Rolle. Anders in der Tianjin Eco-City. Die künftigen Bewohner sollen aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen. Mindestens ein Fünftel der Unterkünfte soll deshalb öffentlich gefördert werden und für finanziell schlechter gestellte Menschen erschwinglich sein. Darüber hinaus wird die ganze Stadt zu 100 Prozent barrierefrei geplant und allen Bewohnern sollen in einem Radius von 500 Metern Erholungs- und Sportstätten zur freien Verfügung stehen.
Wunsch und Wirklichkeit
Die Tianjin Eco-City ist nicht das erste Ökostadtprojekt im Reich der Mitte. Schon zur Expo 2010 wollte China mit Dongtan seine erste Stadt der Zukunft präsentieren: eine CO2-freie Musterstadt, in der Ökologie und Ökonomie mit Wohn- und Lebensqualität eng verzahnt sein sollten und die sich selbst mit Nahrung, Wasser und erneuerbarer Energie versorgen sollte. Dongtan liegt am östlichen Rand der Jangtse-Insel Chongming in der Nähe von Shanghai. Die Insel ist nicht nur bekannt für ihr Vogelschutzgebiet, sondern auch für zahlreiche Umweltsünden. Wälder wurden abgeholzt, Ufergebiete urbanisiert, Staudämme gebaut. In der Folge versandete der Jangtse immer mehr, das Wasser ist hier besonders verschmutzt. Am Ende der ersten Bauphase 2010 sollten in Dongtan bereits 30 000 Menschen leben, schließlich sogar eine halbe Million.
Doch das Projekt ist mittlerweile Vergangenheit, schon im Programm der Expo tauchte es irgendwann gar nicht mehr auf. Lediglich ein paar Windturbinen zeugen noch von den ehrgeizigen Plänen. Offiziell hieß es, das Vogelschutzgebiet auf Chongming sei durch Dongtan gefährdet gewesen. Auch Finanzierungsprobleme und Korruptionsvorwürfe gegen federführende Politiker dürften mit für das vorzeitige Ende der Vorzeigestadt gesorgt haben. In der Tianjin Eco-City habe man die Finanzierung und die korrekte Umsetzung der Baumaßnahmen im Auge, betont Ho. Schließlich sei das Projekt auf Regierungsebene angesiedelt und werde unter anderem von den stellvertretenden Ministerpräsidenten Chinas und Singapurs sowie von Ministern und höheren Beamten regelmäßig begutachtet.
Die jeweiligen Fortschritte würden zudem anhand von 22 quantitativen und vier qualitativen Leistungsindikatoren gemessen. Sie wurden von beiden Regierungen gemeinsam festgelegt und decken alle Nachhaltigkeitsaspekte ab, beispielsweise die Wasserqualität, die Recyclingrate oder den Anteil erneuerbarer Energien.
Für die Tianjin Eco-City stehen die Chancen auf Verwirklichung also recht gut. „Sie gilt unter den mittlerweile über 260 Städten und Distrikten, die sich selbst zur Eco-City erklärt haben beziehungsweise eine Eco-City-Strategie verfolgen, immer noch als Vorreiter“, sagt ein Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Peking. „Allerdings wurden bei Planung und Umsetzung auch hier einige offenkundige Fehler begangen.“
So sei anzunehmen, dass die hochqualifizierten und ausländischen Arbeitnehmer, die in den CO2-armen Wirtschaftszweigen arbeiten sollen, lieber im Zentrum von Tianjin leben wollen statt in der Eco-City. Denn sie biete nicht genügend Lebensqualität und Kultur. „Die Menschen werden also eher die längere Anreise zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf nehmen, damit aber zusätzlichen Verkehr erzeugen. Das ist nicht sehr öko“, so der GIZ-Mitarbeiter.
Dass die Bewohner der Tianjin Eco-City über Nacht ihr grünes Bewusstsein entdecken, davon geht auch SSTEC-Chef Ho nicht aus. „Wir setzen jedoch darauf, dass sie langfristig umdenken werden.“ Um das zu befördern, habe man in der Eco-City beispielsweise eine neue internationale Schule gebaut, die unterschiedliche erneuerbare Energien erfahrbar machen soll und in der die Kinder zu Nachhaltigkeit erzogen würden. „Die gut erreichbaren öffentlichen Verkehrsmittel sollen die Menschen zudem ermuntern, das private Auto stehen zu lassen.“
Von Dongtan und Co. habe man wahrscheinlich vor allem gelernt, sich nicht zu hohe Ziele zu stecken, sagt Roland Winkler, der sich mit seiner Unternehmensberatung Sinogy China Consulting unter anderem mit nachhaltiger Stadtplanung und energieeffizientem Bauen in China beschäftigt. „Die ökologischen Ziele sind in der Tianjin Eco-City vergleichsweise weniger ambitioniert als bei anderen Ökostadtprojekten in China.“ Von CO2-frei ist hier zum Beispiel keine Rede. „Doch zumindest wird dort tatsächlich etwas gebaut und die Menschen werden in einem etwas besseren Umfeld wohnen und arbeiten“, so Winkler. Wie die Umweltbilanz tatsächlich aussehe, wisse man erst in einigen Jahren. Und auch, wie idyllisch, grün und harmonisch die Ökostadt letztlich sein wird.
KRISTINA SIMONS arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit den Schwerpunkten Energie und Umwelt, Nachhaltigkeit sowie Bauen und Wohnen.
Internationale Politik 4, Juli/ August 2012; S. 65-69