Von alten und neuen Grenzen
Der Mauerfall in internationaler Perspektive
Das Ende des Kalten Krieges hat nicht nur in Deutschland und Europa zu Umbrüchen geführt, sondern auch auf internationaler Ebene Grenzen verschoben. Neue Akteure, vor allem in Asien, haben an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung gewonnen und ihren Aktionsradius ausgeweitet. Der euro-atlantische Raum verliert an Bedeutung.
Der Fall der Berliner Mauer ist nicht allein ein Ereignis der deutschen Geschichte. Die Prozesse und Entwicklungen, durch die der Eiserne Vorhang geöffnet wurde, hatten in vielerlei Hinsicht eine internationale Dimen-sion. Damit sind nicht nur die Reaktionen der europäischen Nachbarn, insbesondere Großbritanniens, Frankreichs und Polens, auf die demokratische Öffnung der DDR gemeint. Und auch nicht der Umgang der Europäischen Union mit der sich abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands, die diese umfassend in die europäische Integrationsstrategie einbettete.
Der Mauerfall hatte auch Auswirkungen auf die außereuropäische Welt. Deshalb muss dieses historische Ereignis als internationale Verflechtungsgeschichte beschrieben werden. Welche Verflechtungen zwischen einem Ereignis der deutschen Geschichte und der Entwicklung anderer Weltregionen sind auszumachen? Welche Bedeutung haben diese Verflechtungen im Hinblick auf die Diskussionen um eine neue Weltordnung sowie für die gegenwärtigen geschichts- und erinnerungspolitischen Konstellationen in einer globalisierten Welt?
Drei Leitfragen wollen wir näher beleuchten:
1. Welche Rückwirkungen hatten die Aufhebung der Blockkonfrontation und die sie begleitenden geopolitischen Strategien auf die Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika, die im Zentrum des Kalten Krieges standen?
2. Welche Auswirkungen hatte die Auflösung der bipolaren Weltordnung auf die internationale Mächtehierarchie und die strategische Bedeutung einzelner Weltregionen?
3. Welche Bedeutung haben die immer stärkeren transnationalen und transregionalen Verflechtungen auf die globale Raumordnung, insbesondere auf das westliche Zentrum, den euro-atlantischen Raum?
Als Antwort auf die erste Frage möchte ich die Re-Nationalisierung und Re-Ethnisierungstendenzen in den Blick nehmen, die nach dem Ende des Kalten Krieges in der internationalen Gemeinschaft zu be-obachten sind. Der Fall der Berliner Mauer steht synonym für das Ende des Kalten Krieges und damit für das Ende einer bipolaren Weltordnung. Die beiden Supermächte, USA und Sowjetunion, bestimmten diese Weltordnung durch ein Wechselspiel, das nicht allein machtpolitisch, sondern durch und durch ideologisch gefärbt war. Der Kampf der beiden ideologischen Systeme wurde in erster Linie außerhalb der euro-atlantischen Welt ausgetragen.
Die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst in Asien, dann in Afrika einsetzenden Entkolonialisierungsprozesse sind aufs engste mit diesem Systemkonflikt verbunden. Auslöser der Kriege in Korea, Indochina und später in Vietnam oder auch der Kuba-Krise sowie der zahlreichen Krisen und Kriege auf dem afrikanischen Kontinent war zwar immer auch das Thema nationale Unabhängigkeit; die Schärfe der Konflikte und ihre globalpolitische Bedeutung resultierten allerdings aus der geostrategischen Relevanz der betroffenen Weltregionen für das internationale Machtgleichgewicht.
Die Gewinnung der nationalen Unabhängigkeit war in der Regel an die Frage gekoppelt , in welchem der beiden ideologischen Systeme der neue Staat seine Unabhängigkeit entfalten wollte bzw. sollte. Die erlangte Unabhängigkeit war somit häufig eine „bedingte“ Unabhängigkeit, die sich den Erfordernissen und Zwängen der Blockkonfrontation unterwerfen musste bzw. unterwarf. Geir Lundestad beschreibt in diesem Zusammenhang die Rolle der USA in Europa als „Empire by Invitation“.1 Die Führungsmacht des Westens trat als Hegemon auf, auch weil die westeuropäischen Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Unterstützung der USA angewiesen waren und diese einluden, die politische Führung zu übernehmen. Ähnliches kann man in Südostasien und Ostasien beobachten. In Japan oder auch in Südkorea ist die militärische Führungsrolle der USA sogar in der Verfassung verankert.
Die Zwänge des Kalten Krieges produzierten jedoch nicht nur neue, häufig freiwillig eingegangene Abhängigkeiten für die von der Kolonialherrschaft befreiten Völker. Ein Preis der Blockkonfrontation war auch die Entstehung geteilter Nationalstaaten in Deutschland, Korea, Vietnam und China, im Jemen oder in Zypern. Damit war, neben der Entwicklung neuer Abhängigkeiten, die Entstehung neuer Raumordnungen ein zentrales Kennzeichen des Kalten Krieges. Viele der in den fünfziger und sechziger Jahren im Zuge der Entkolonialisierung geschaffenen Nationalstaaten hatten einen künstlichen territorialen Zuschnitt, der mehr dem Erhalt des Machtgleichgewichts zwischen Ost und West, als historisch gewachsenen Identitätsmustern geschuldet war. Dies findet man z.B. in vielen Nationalstaaten in der Golf-Region, entlang der russischen Peripherie oder auf dem Balkan.
In diesen künstlichen territorialen Gebilden wurden historisch gewachsene, ethnisch definierte Raumkonzepte zugunsten von territorialen Zuschnitten in den Hintergrund gedrängt. Bereits während des Kalten Krieges führte dies in einigen Fällen zu Konflikten zwischen rivalisierenden ethnischen Gruppen. Das Ende der Blockkonfrontation hat das inhärente Konfliktpotenzial dieser künstlichen Nationalstaaten schließlich freigesetzt. Die Balkan-Kriege, aber auch der Fall Somalia sind hier an prominenter Stelle zu nennen. Diesen Konflikten liegen Re-Nationalisierungs- und Re-Ethnisierungstendenzen zugrunde, die ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial bergen. Die unter den Bedingungen des Kalten Krieges etablierten, territorial definierten Staatsgebilde werden seit dem Fall der Mauer immer mehr in Frage gestellt. Die künstlichen Raumkonzepte lösen sich auf und die Nationalstaaten, insbesondere in Afrika und auf dem Balkan, reorganisieren sich entlang neuer oder auch alter Grenzen. Im Ergebnis führt der Prozess der territorialen Neuorientierung zur Entstehung neuer Unsicherheitsräume, die sich häufig an den Grenzen und in Grenzregionen finden und die die internationale Sicherheitslage negativ beeinflussen. Ethnisch begründete Bürgerkriege haben die zwischenstaatlichen Kriege praktisch abgelöst.
Grenzen verschieben sich
Aus wirtschaftspolitischer Sicht treten nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung die immer dynamischer werdenden Verflechtungsprozesse zwischen den Weltregionen in den Vordergrund. Es entstehen neue transregional strukturierte Räume mit intensivem Austausch; wir beobachten, wie Grenzen verschoben werden. Das geopolitische Weltbild, das die internationale Strategie der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmt hat, hat sich seit dem Fall der Mauer fundamental verändert.
Nach 1945 sicherten die USA ihre globale Führungsrolle durch regionales „burden sharing“ ab. Sie wollten damit einen Fehler vermeiden, der aus Sicht der Zeitgenossen maßgeblich zum Niedergang des britischen Weltreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen hatte. Demnach hatte Großbritannien als imperiale Führungsmacht versagt, weil London es nicht verstanden hatte, Macht zu delegieren. Die USA wollten der Gefahr des „imperial overstrech“ entgehen, indem sie die Welt in regionale Machtzentren aufteilten und in diesen Machtzentren jeweils eine regionale Führungsmacht aufbauten. Durch die enge Zusammenarbeit mit diesen regionalen Führungsmächten sollte die internationale Mächtehierarchie zugunsten der USA verschoben werden. Zugleich sollten die Nationalstaaten in den einzelnen Weltregionen durch wirtschaftliche und politische Kooperation in regionalen Organisationen zusammengeschweißt werden.
Deutschland und Frankreich fungierten als Motor für die europäische Integration; Japan wurde nach dem „loss of China“ 1949 als regionale Führungsmacht im asiatisch-pazifischen Raum aufgebaut. In der Golf-Region sollte Persien, also der Iran, diese Rolle übernehmen. Regionale wirtschaftliche oder militärische Kooperation wurde auf die spezifischen machtpolitischen Erfordernisse der Vereinigten Staaten zugeschnitten. Die USA waren der machtpolitische Fluchtpunkt dieser Politik, als Primus inter pares führten sie das westliche Lager an, und innerhalb der internationalen Mächtehierarchie spielte der euro-atlantische Raum eine dominante Rolle.
Die Bedeutung der Regionen außerhalb des euro-atlantischen Kerns hat sich mit dem Fall der Mauer verändert. Lateinamerika, Asien/Pazifik, der Nahe und Mittlere Osten und bedingt auch Afrika treten auf der internationalen Bühne selbstbewusster auf. Die veränderte politische Rolle dieser Weltregionen hat allerdings nicht allein etwas mit dem Ende des Kalten Krieges zu tun. Sie ist auch Ergebnis des seit den siebziger Jahren sich intensivierenden wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierungsprozesses, der mit dem Fall der Mauer eine neue Dynamik erhielt. Die Ereignisse des Jahres 1989 in Kombination mit der beschleunigten Globalisierung haben die in der Phase des Kalten Krieges gewachsene, auch ethnisch-kulturell konstruierte internationale Mächtehierarchie in Frage gestellt.
Der Aufstieg Asiens
Besonders deutlich können wir diesen Prozess derzeit im asiatisch-pazifischen Raum beobachten. In Asien vollziehen sich seit Mitte der achtziger Jahre ökonomische, politische und kulturelle Entwicklungen, die nicht nur zur Formierung eines neuen Verständnisses vom „pazifischen Raum“ beitragen, sondern die auch die bisherige, auf Nordamerika und Europa ausgerichtete Weltordnung entscheidend und dauerhaft verändern. Innerhalb dieser Region hat sich eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Dynamik herausgebildet, die erstmals seit dem Beginn der Hegemonie Europas im 18. Jahrhundert nichtwestlichen Gesellschaften den Aufstieg aus peripheren und semiperipheren Positionen ins Zentrum ermöglichte.
Der pazifische Raum wurde zum neuen, alternativen Machtzentrum, das teilweise in Konkurrenz zum alten atlantischen Machtzentrum steht. Haupttriebkraft der Dynamik und des Regionalisierungsprozesses im pazifischen Raum sind wirtschaftliche Entwicklung und Handelsbeziehungen, auf die politische Institutionalisierungsprozesse wie auch kulturelle Annäherungen folgen bzw. mit ihnen einhergehen. So hat sich der pazifische Raum in den vergangenen 30 Jahren zu einem neuen Zentrum weltwirtschaftlicher Aktivitäten entwickelt. Getragen wurde dieser Aufstieg u.a. durch die bemerkenswerten ökonomischen Erfolge Japans, der „vier Drachen“ Südkorea, Singapur, Hongkong und Taiwan sowie der „vier Tiger“ Malaysia, Thailand, den Philippinen und Indonesien.
Heute wird die gesteigerte ökonomische Bedeutung der Region vor allem durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Indiens geprägt. Insbesondere China als Weltproduktionsstätte steht sinnbildlich für die veränderte Rolle Asiens in der Weltwirtschaft. Tokio, Hongkong, Schanghai und Singapur gehören zu den wichtigsten Finanzzentren der Welt; China, Japan und Korea zu den bedeutendsten Kapitalexportländern; japanische und chinesische Banken sind heute die weltweit größten Institutionen dieser Art. Es wird erwartet, dass mit der Krise des amerikanischen Banken- und Finanzsystems Ostasien eine immer wichtigere Rolle für die globalen Finanzmärkte spielen wird.
Vor allem mit den Institutionen ASEAN, ASEAN+3, der Asian Development Bank sowie mit der durch die USA geprägten APEC erhält diese Region auch mehr institutionelle Bedeutung. Die zentrale wirtschaftliche Rolle des pazifischen Raumes ist schon heute am wachsenden Wettbewerb um Rohstoffe sowie an steigenden Lebensmittelpreisen ablesbar, die durch veränderte Konsumgewohnheiten beeinflusst werden. Bemerkenswert ist, dass in Asien über die Hälfte aller weltweit produzierten Luxusgüter abgesetzt werden.
Dies hat deutliche Rückwirkungen auf die etablierten Volkswirtschaften wie die USA: Die amerikanische Idee einer konsumorientierten Volkswirtschaft mit niedrigen Preisen ist ohne Produktion in Asien und vor allem in China nicht mehr denkbar. Außerdem halten China und Japan den Großteil der amerikanischen Staatsanleihen. Der sinkende Einfluss etablierter Volkswirtschaften auf die Ökonomien der asiatischen Länder zeigt sich auch anhand der signifikanten Steigerung des inner-asiatischen Handelsvolumens. Als Exporteure von Rohstoffen, aber auch als Handelspartner asiatischer Volkswirtschaften erhalten die Staaten Lateinamerikas eine größere weltwirtschaftliche Bedeutung und lösen sich aus der bisherigen Abhängigkeit von den USA.
Territoriale Ausweitung
Wir beobachten, dass sich der asiatisch-pazifische Raum territorial vergrößert und auf die Westküste der USA und Lateinamerikas ausgreift. In dem Maße, wie das Territorium der westlichen Hemisphäre asiatisiert wird, verliert der euro-atlantische Raum an Bedeutung. Diese in erster Linie durch wirtschaftlichen Austausch und Migration ausgelösten Prozesse der territorialen Verschiebung haben Auswirkungen auf das soziale und kulturelle Gefüge der betroffenen Räume. Chinesisch ist die am dritthäufigsten gesprochene Sprache in den USA und Kanada. Japanische und koreanische Einwanderer gehören zu den erfolgreichsten ethnischen Gruppen in den USA; sie verändern das amerikanische Sozialgefüge tiefgreifend. Der sich hier abzeichnende Trend wird mittel- und langfristig Folgen für die Politik haben, und zwar sowohl für die Innen- als auch für die Außenpolitik.
Prof. Dr. URSULA LEHMKUHL, Fachbereich Neuere Geschichte, ist Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin.
- 1Geir Lundestad: Empire by Invitation? The United States and Western Europe, 1945–1952, Journal of Peace Research, September 1986, S. 263-277.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 82 - 87.