Buchkritik

31. Aug. 2011

Vom Pingpong lernen?

Kissingers China-Buch rekapituliert eine diplomatische Meisterleistung

An Henry Kissingers neuem Buch über China wird niemand vorbeikommen, der sich für die aufstrebende asiatische Supermacht interessiert. Seine Konzeptionen bleiben bis heute Blaupausen für die amerikanische Asien-Politik. Bei allen faszinierenden Details eignet sich das Werk aber nicht als Leitfaden für die zukünftige westliche Diplomatie.

Hunderte Bücher fluten jährlich den internationalen Büchermarkt, um sich der neuen Supermacht China zu nähern oder sie zu enträtseln. Beides ist nicht der Anspruch Henry Kissingers, der in seinem neuen Buch (Original-titel: „On China“) gar nicht erst versucht, das „Enigma China“ zu entschlüsseln, was leider bei anderen Autoren regelmäßig fehlschlägt. Vielmehr konzentriert sich der frühere amerikanische Außenminister auf Chinas Führung, die er über Jahrzehnte aus nächster Nähe im Blick hatte. Er verbindet seine autobiografischen Schilderungen mit einer historischen Darstellung der Entwicklung Chinas und ordnet diese ein.

Als Kissinger 1971 im Auftrag von US-Präsident Richard Nixon nach Peking flog, ahnte er nach eigenem Eingeständnis die weitreichenden Folgen seiner Reise nicht. Unter Ausnutzung des kommunistischen Schismas, und indem er kurzfristige Erwägungen hintanstellte, bahnte er nicht nur diplomatische Beziehungen zu Peking an, sondern öffnete seinerseits auch die Vereinigten Staaten für China – und das in der Zeit des Vietnam-Kriegs, der die USA an den außenpolitischen Abgrund führte. Denn die Gefahr, dass Amerika außerhalb seiner eigenen Militärbasen in Asien auf Jahrzehnte hinweg keinerlei Einfluss mehr haben würde, war real. Vor diesem Hintergrund ist die Schilderung des Ansatzes von Kissingers „Pingpong-Diplomatie“ besonders interessant, die sogar in Quasi-Bündnisgesprächen mit Mao Tse-Tung mündete. Es kam einer strategischen Meisterleistung gleich, mit der Öffnung Chinas zugleich den amerikanischen Anspruch in Asien trotz des Desasters in Vietnam zu bestätigen und zu untermauern.

Kissinger, der nach der Watergate-Affäre und Nixons Rücktritt auch Präsident Gerald Ford als Außenminister diente, blieb für China in den folgenden Jahrzehnten der westliche Gesprächspartner. Von Mao über Deng Xiaoping bis Hu Jintao lernte er ausnahmslos alle Schlüsselfiguren der chinesischen Politik der vergangenen 40 Jahre kennen. Die Beschäftigung mit einem anderen Buch über die innerparteiliche Situation der KP Chinas – „The Party: The Secret World of China’s Communist Rulers“ von Richard McGregor – zeigt, wie Diskussionsprozesse innerhalb der KP Chinas in den letzten Jahrzehnten verlaufen sind. Mit diesem Wissen ist es nicht vermessen zu behaupten, dass gerade Kissingers persönliches Wirken enormen Anteil an der chinesischen Wahrnehmung westlichen Denkens gehabt und China Denkanstöße geliefert hat. Umgekehrt gelten seine Analysen zu Asien zu Recht als mit die verlässlichsten Beiträge im internationalen Diskurs.

Kissingers außenpolitischer Ansatz, auf persönliche Kontakte zu setzen, um ein vertrauenswürdiger Verhandlungspartner zu werden und in vielen Fällen über Jahrzehnte hinweg Freundschaften zu pflegen, ist in dem Buch en detail nachzuvollziehen. Für die aktuelle US-Politik im pazifischen Raum bleibt Kissingers Konzeption die Blaupause im Spannungsfeld von Machtausübung, Annäherung und Modernisierung bis hin zur Kooperation einer gesamten Region, in der Europa eine untergeordnete Rolle spielt. Kissingers „China‘‘ ist kein Plädoyer für einen G-2-Prozess, sonder vielmehr die indirekte Aufforderung an die Europäer, ihr Engagement in China auszuweiten, um sich welt- und industriepolitisch behaupten zu können.

Ob das Buch deshalb ein nützlicher Wegweiser oder gar ein Handbuch für den chinainteressierten Nachwuchs westlicher Auswärtiger Ämter ist, die in der Regel die entscheidenden Persönlichkeiten Chinas nicht zu Gesicht bekommen, bleibt aber zweifelhaft. Zudem die chinesische Gesellschaft heute eine andere als vor 40 Jahren ist, weswegen der Ansatz Kissingers, persönliche Erinnerungen mit politischer Analyse zu mischen, kaum mehr auf die heutige Diplomatie übertragbar scheint.

Die Öffnung der USA für China und umgekehrt die Öffnung Chinas für die westliche Welt werden auch zukünftig als große historische Leistung Kissingers einzuordnen sein, während China für die sowjetisch dominierte kommunistische Welt im Grunde eine Black Box blieb. Kissingers Buch wird für China-Interessierte ein Standardwerk werden, an dem man nicht vorbeikommt – was trotzdem niemanden daran hindern sollte, sich mit Themen zu beschäftigen, auf die Kissinger weniger eingegangen ist; beispielsweise mit Veränderungen, die das Internet mit sich bringt, oder mit der größten Herausforderung, vor der China steht, dem demografischen Wandel. Im Jahre 2050 wird ein Viertel der chinesischen Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Was das für Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft, das Sozialsystem oder die innere Stabilität dieser Gesellschaft haben wird, ist heute noch nicht absehbar.

PHILIPP MISSFELDER ist außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 140-141

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