Buchkritik

31. Aug. 2018

Vom Kommunismus zum Putinismus

Neue Bücher zu Zukunft und Vergangenheit Russlands

Das Interesse an Russland, der Sowjetunion und den postsowjetischen Staaten bleibt groß. Neben der anhaltenden Faszination, die Wladimir Putin auf viele Beobachter ausübt, sind es historische Fragen wie das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland sowie das Ende der Sowjetunion, die den Büchermarkt prägen.

Als Gernot Erler im September 2017 den Bundestag verließ, schied einer der versiertesten deutschen Russland-Kenner aus der aktiven Politik aus. Als Sozialdemokrat stark geprägt durch die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, gehörte Erler zu den Pionieren der Modernisierungspartnerschaft mit Russland. Zuletzt war Erler Staatsminister im Auswärtigen Amt (2005–2009) und seit 2013 Koordinator für zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.

In seiner politischen Karriere ist Erler stets für eine multilaterale Weltordnung eingetreten – und für einen dauerhaften Dialog mit Russland, aller aktuellen Schwierigkeiten zum Trotz. Sein neues Buch mit dem Titel „Weltordnung ohne den Westen“ könnte so etwas wie ein Vermächtnis sein.

Erler analysiert aktuelle Trends in Russland, China, den USA und der EU und diagnostiziert ein Ende der bestehenden Weltordnung. Dabei positioniert sich der Autor ebenso klar gegen Putins Politik in der Ukraine wie gegen Trumps Schwächung des Westens von innen oder Xis Autoritarismus.

Ausführlich widmet sich der Autor dem Ukraine-Konflikt. Er stellt einen Mangel an offener Kommunikation zwischen den Konfliktparteien über die „unzumutbare Situation“ vor Ort fest und appelliert an deren politischen Willen, zumindest einen kurzen Waffenstillstand zu riskieren.

Freilich blendet Erler hier wie an anderen Stellen die Interessen der Akteure aus: Russland ist mit der aktuellen Situation zufrieden und sieht gar keinen Grund, Kompromisse einzugehen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko steht im kommenden Jahr vor zwei schwierigen Wahlen und hat überhaupt keinen Spielraum für einen Ausgleich. Für Erler kann nur ein langfristig angelegter Dialog- und Verhandlungsprozess neue Vertrauensgrundlagen schaffen. Um das zu erreichen, sollte die OSZE besser genutzt werden, um einen offenen Austausch zwischen Handlungseliten, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen über die strittigen Themen zu fördern.

Doch obgleich seine Analyse eine Welt mit anderen Realitäten zeigt, bleibt der Autor dem kollektiven Sicherheitssystem des Kalten Krieges von KSZE/OSZE treu. Weder die USA noch Russland oder China sind allerdings daran interessiert, in solch einen Rahmen zu investieren – und die EU ist zu schwach, um alle Akteure an einen Tisch zu bringen. Man möchte Erler darin zustimmen, dass Parlamente mehr „Mitwirkung und Kon­trolle bei der Bewältigung internationaler Herausforderungen“ bekommen sollten und dass das Ziel eine „globale Verantwortungspartnerschaft“ sein sollte. Jedoch zeigt der Trend auch hier in eine andere Richtung.

Diese umfassende Analyse eines erfahrenen Außenpolitikers ist fraglos eine lohnende Lektüre. Jedoch fehlt Erler der Platz, um die Themen wirklich zu vertiefen. Gleichzeitig hätte man sich gewünscht, etwas mehr aus der jahrzehntelangen Erfahrung des Autors im außenpolitischen Betrieb der Bundesrepublik zu erfahren.

Putinismus versus Atlantizismus

Mit dem „Putin-Syndikat“ legt Margareta Mommsen ein Buch zur Funktionsweise des Systems Putin vor. Die emeritierte Professorin für Politikwissenschaft von der Universität München und erfahrene Russland-Analytikerin hat eine solide Analyse der Entstehung und unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Putinismus geschrieben. Die Autorin macht deutlich, wie das System Putin aus dem System Jelzin gewachsen ist, mit Systemmerkmalen einer monarchischen Präsidentschaft, eines oligar­chischen Kapitalismus sowie eines Superpräsidentialismus.

Die Haupthindernisse für Russland auf dem Weg zur Demokratie sieht Mommsen in der verbreiteten Unkenntnis demokratischer Prinzipien und dem fehlenden Konsens unter den politischen Eliten über Inhalt und Dynamik der Transformation. Hier könnte man noch den Mangel an historischen Vorläufern anfügen. Bei Boris Jelzins Wiederwahl 1996 wurden bereits alle Elemente der Manipulation der Wähler genutzt, wie sie später unter Putin perfektioniert worden sind. Dabei waren so genannte Politiktechnologen im Einsatz, private Berater der russischen Politik, die das Bewusstsein der Wähler nachhaltig beeinflussen und steuern sollten.

Putin hatte bereits in seiner Milleniumsbotschaft 2000 das Manifest des Putinismus als ideologisches Projekt beschrieben. Prägende Elemente sind laut Mommsen die zivilisatorische Eigenständigkeit Russlands, die Abkehr von Europäismus und Atlantizismus sowie die überragende Rolle der Staatsmacht als Alleinstellungsmerkmal gegenüber dem Westen.

Das Image Putins wurde als Gegenmodell zu Boris Jelzin entworfen: Dazu zählen Eigenschaften wie Nüchternheit, Durchsetzungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Stärke und Gesundheit. Die „Alternativlosigkeit Putins“, das macht Mommsen deutlich, war von Anfang an Teil dieser Imagekampagne.

Die Autorin zeigt eindrucksvoll, wie sich die genannten Elemente durch die gesamte Präsidentschaft Putins wie ein roter Faden ziehen. Sie legt auch dar, wie der späte Putinismus durch nationale und militärische Mobilisierung neue Legitimationsquellen fand und der Putin-Kult als „Führerkult“ zu einer immer wichtigeren Säule des Regimes wurde. Irgendwann waren das geschaffene Image und die Realität nicht mehr zu unterscheiden.

Margareta Mommsen weist mit Recht auf die hohe Bedeutung von Geheimdienstlern in Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft unter Wladimir Putin hin. Gleichzeitig bleibt es fraglich, ob es tatsächlich ein neues Politbüro gibt. Handelt es sich nicht eher um einen engen Kreis von wichtigen Beratern des Präsidenten, der immer kleiner wird, während auch alte Weggefährten ausgetauscht oder aufs Abstellgleis geschoben werden?

Putins Bedeutung für das von ihm geschaffene System ist seit 2012 gewachsen, und er hat immer wieder Flexibilität und erfolgreiches Krisenmanagement unter Beweis gestellt. Das spricht für eine relativ hohe Stabilität und Anpassungsfähigkeit seines Machtsystems. Mommsens Buch ist eine gute Einführung in die russische Innenpolitik der vergangenen 20 Jahre, es arbeitet solide die gängige Literatur zum Thema auf. Man würde sich jedoch öfter neben der Aufarbeitung der Literatur auch eine Positionierung der Autorin wünschen.

Ungleiche Brüder

Während Margareta Mommsen argumentiert, dass die Inbesitznahme der Krim durch Russland in erster Linie ein Pfand in der Hand Moskaus bei seiner Kraftprobe mit dem Westen ist, sieht Andreas Kappeler im Anspruch Russlands auf die Führung aller „russischen Nationen“ (Großrussen, Ukrainer, Weißrussen) einen zentralen Bestandteil des imperialen Selbstverständnisses.

Der emeritierte Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien hat eine detaillierte und kenntnisreiche Beziehungsgeschichte der „ungleichen Brüder Russen und Ukrainer“ vorgelegt. Dieses Buch sei insbesondere jenen ans Herz gelegt, die noch immer das vor allem von Russland geprägte Narrativ teilen, wonach die Ukraine kein eigenständiger Staat, ohne eigene Geschichte sei. Auch wenn das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land aus der Konkursmasse der Sowjetunion erst relativ spät, durch die Orangene Revolution 2004 und den Euromaidan 2013/14, auf der Landkarte der Westeuropäer aufgetaucht ist, so verfügt es doch über eine reiche historische Tradition.

Kappeler verdeutlicht, wie die Ukraine viel länger und umfassender mit der europäischen Kultur über die polnisch-litauische Herrschaft und als Teil des Habsburger Reiches verbunden war als das Russische Reich. So gehörte die Mehrheit der West­ukrainer seit dem 17. Jahrhundert zur griechisch-katholischen Kirche; ihre Geschichte verlief seit dem späten 18. Jahrhundert im Rahmen der Habsburger Monarchie und nach 1920 in der 2. Polnischen Republik, der Tschechoslowakei und Rumänien. Gleichzeitig verbindet die Russen und Ukrainer die Gegnerschaft zum katholischen Polen und der Abwehrkampf gegen die Tataren. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert waren die Ukrainer den Russen kulturell mindestens ebenbürtig, sie waren in dieser Zeit der wichtigste Kanal von Humanismus und westeuropäischer Kultur für Russland und trugen bereits vor Peter dem Großen zur Europäisierung Russlands bei.

Für Kappeler gewann in der postsowjetischen russischen Nationsbildung die imperiale Nation gegenüber der Staatsbürgernation die Oberhand und wurde trotz des Vielvölkercharakters russisch ethnisiert. Im ukrainischen Nationalstaat konkurrierte die ethnische mit der Staatsbürger­nation, die sich im Euromaidan und in der Abwehr der äußeren Gefahr konsolidierte.

Trotzdem sind, laut Kappeler, viele im Westen noch immer nicht bereit, den ukrainischen Staat als eigenständigen Akteur der Geschichte zu akzeptieren. Dabei habe sich das Land mit dem Euromaidan von der sowjetischen Vergangenheit und vom russischen Bruder verabschiedet. Hier könnte man einwenden, dass die Ukraine auch in den kommenden Jahren noch damit beschäftigt sein wird, sich endgültig vom sowjetischen Erbe zu verabschieden. Dennoch kann man Kappeler darin zustimmen, dass es nur dann zu einer Normalisierung der Beziehungen kommen kann, wenn sich Russland aus der Ukraine zurückzieht und das Land als gleichberechtigten Partner anerkennt.

Ironie der Geschichte

Wer noch mehr über das sowjetische Erbe der Ukraine und Russlands wissen möchte, dem sei das Buch „Gorbatschow – Der Mann und seine Zeit“ von William Taubman empfohlen. Der Professor für Politikwissenschaft am amerikanischen Amherst College legt eine 800-seitige Biografie vor, die auf der zehnjährigen Auswertung einer Vielzahl von neuen Quellen und Interviews mit Gegnern und Freunden von Michail Gorbatschow basiert. Dabei verdeutlicht das spannend geschriebene Buch, wie Gorbatschow durch seine glückliche, aber auch entbehrungsreiche Kindheit im landwirtschaftlichen Südrussland geprägt wurde, durch seine Eltern, durch seine Großeltern. Die Biografie zeichnet nicht nur ein facettenreiches Bild der Persönlichkeit des jüngsten Generalsekretärs in der Geschichte der KPdSU, sondern gibt auch Einblicke in das Innenleben des sowjetischen Machtapparats von 1985 bis 1991.

Für Taubman war Gorbatschow ein Visionär, der sein Land und die Welt verändert hat. Angetreten, um das Sowjetsystem zu reformieren und den Kalten Krieg zu beenden, unterschätzte Gorbatschow die Dynamik, die er entfesselte und die ihn am Ende das Amt und den Staat kosten sollte.

Als Sohn eines Bauern geboren, ermöglichte ihm die Sowjetunion einen rasanten Aufstieg. Dabei war es vor allem die Moskauer Staatliche Universität, die ihm intellektuelle, politische und soziale Möglichkeiten eröffnete. Er schaffte es an die Spitze als scheinbar ideales Produkt des sowjetischen Systems. Während mächtige Persönlichkeiten im Apparat sich des Zynismus und der Korruption in ihrem Umfeld bewusst waren, förderten sie diesen idealistischen und gebildeten jungen Parteiführer, der noch aufrichtig an den Kommunismus glaubte. Dass er dann maßgeblich zum Untergang der Sowjetunion beitrug, ist eine Ironie der Geschichte.

Dr. Stefan Meister leitet das Robert Bosch-Zentrum für ­Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentral­asien in der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 138 - 141

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