Porträt

30. Dez. 2024

Visionär und Militärfreak

Japans Premierminister Shigeru Ishiba ist sein Amt so geschwächt angetreten wie kaum jemand vor ihm. Ausgerechnet er strebt nun die Stärkung ­Japans in der Welt an. Die Zeichen könnten dafür überraschend gut stehen.

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Foto: Premierminister Shigeru Ishiba
Träumer oder Macher? Nach einem buchstäblich verschlafenen Start in seine Amtszeit als Premierminister könnte Shigeru Ishiba in Japan noch einiges bewegen.
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Als es geschafft war, hielt Shigeru Ishiba erstmal ein Nickerchen. Die Tage und Wochen zuvor waren zermürbend gewesen, ehe er am 11. November endlich am Ziel war: Nach einer seltenen Stichwahl hatte Japans Parlament den 67-Jährigen zum Premierminister gewählt. Und dies, obwohl seine Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit der Nachkriegszeit fast immer regiert hat, in der Parlamentswahl Ende Oktober sensationell ihre Mehrheit verloren hatte. Ishiba war müde und döste kurz weg. 

Seither aber muss der Konservative hellwach sein. Denn er hat nicht nur große Aufgaben vor sich, sondern auch reichlich Widersacher um sich herum. Innerparteilich gilt der Mann, der wegen seines Faibles für Kriegsminiaturspielzeuge den Spitz­namen „gunjin otaku“ (Militärfreak) trägt, als Außenseiter. Ishiba gehört keinem der größten Flügel in der LDP an. Und mit seinem erklärten Vorhaben, Japans Verteidigungsfähigkeit zu stärken, kommt er auch bei der Opposition nicht gut an. 

Denn wie in Deutschland hat es auf Russlands erneuten Angriffskrieg gegen die Ukraine ab Februar 2022 auch in Japan eine Art Zeitenwende gegeben. Ishibas Vorgänger Fumio Kishida verkündete Ende jenes Jahres, Japan würde seine Ausgaben für Verteidigung künftig auf 2 Prozent des Bruttoinlands­produkts verdoppeln. In einem Land, das seit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg eine ausdrücklich pazifistische Verfassung hat, deren Artikel 9 formal sogar ein Militär verbietet, ist das kontrovers.

So gilt dieser Shigeru Ishiba, der durch die Fotos vom Nickerchen im Abgeordnetensessel schon im Moment des größten Triumphs seiner Politikerkarriere blamiert war, aus mehreren Gründen als eher schwacher Premier. Indem seine LDP im Parlament keine Mehrheit mehr besitzt, muss er mit der buddhistischen Partei New Komeito in einer Minderheitskoalition regieren. Überall wird Shigeru Kompromisse eingehen müssen. 

Gleichzeitig muss er innerparteilich auf schmalem Grat zwischen Aufräumen und Appeasement wandern: Ishiba wurde Ende September nämlich nur deshalb zum Chef der LDP gewählt, weil sein Vorgänger Kishida mit schlechten Beliebtheitswerten den Rücktritt eingeleitet hatte. Hintergrund ist, dass zahlreiche LDP-Abgeordnete heimlich Spenden angenommen hatten. In diesem Zusammenhang steht auch die Ermordung des Ex-Premiers Shinzo Abe im Sommer 2022 – ein Racheakt für die Verbandelung der LDP mit einer Sekte, die Menschen das Geld aus der Tasche zog.

Die ganze LDP – die als Architektin des Wirtschaftswunders in der Nachkriegszeit gilt und deshalb vor allem auf die Stimmen älterer Wahlberechtigter zählt – steckt daher in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise. Für deren Lösung gilt Ishiba als beste Personalie. Denn er wurde persönlich nicht durch die Spendenaffären belastet, galt außerdem über Jahre als Gegner des nationalistischen Ex-Premiers Shinzo Abe„Ich werde an die Menschen glauben, mit Ehrlichkeit die Wahrheit sprechen“, versprach Ishiba, als er den innerparteilichen Wettkampf um den Parteivorsitz gewonnen hatte. Direkt danach wählte das Parlament mit den Stimmen der LDP Ishiba zum Premier. Aber weil es die politische Kultur in Japan gebietet, als Premier auch die Legitimität des Volkes zu haben, rief er sofort Neuwahlen aus. Und da kurz vorm Wahltag noch weitere Un­regelmäßigkeiten ans Licht kamen, verlor die LDP die Mehrheit. 

Für diesen Fall hatte Shigeru Ishiba, der zuvor schon Minister für Verteidigung, Landwirtschaft und Bevölkerungsentwicklung war, eigentlich seinen Rücktritt angekündigt. Aber von dieser Selbstverpflichtung – auch dies in Japans politischer Kultur nicht untypisch – wollte der Mann dann nichts mehr wissen. 

Nun führt er also eine Minderheitsregierung. Und mehrere gestärkte Oppositionsparteien rechts wie links der Mitte bereiten schon den Sturz des Premiers vor. Kann das gut gehen?

Auf den ersten Blick scheint der Mann zum Scheitern verurteilt, zumal ein laut ­verkündetes Ziel nur schwer zu erreichen ist: In einem Essay erklärte der „Militärfreak“, dass er eine Art „asiatische NATO“ anstrebt. Ein Verteidigungsbündnis also, das Staaten zusammenführt und gegen einen äußeren Rivalen oder Feind beschützt; hierbei geht es natürlich um China, mit dem im Pazifikraum diverse Staaten Territorialstreitigkeiten haben. Die Sorge vor chinesischer Aggres­sion ist weit verbreitet. 

Auch vor diesem Hintergrund ist Ishiba bekannt dafür, das Ziel zu verfolgen, dass Japan eigenen Zugang zu Atomwaffen erhalte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land zu einem Teil des atomaren Schutzschilds der USA. Vielen Konservativen gefällt ­diese Rolle aber nicht, da Japan so kein „normales“ Land sei, das in Verteidigungsfragen autark agieren könne. Über die vergangenen Jahre haben LDP-Regierungen daran gearbeitet, die Befugnisse des „Selbstverteidigungskräfte“ genannten Quasi-Militärs auszuweiten. Die Regierung erlaubt ihnen nun, bei Angriffen zurückzuschlagen.

Die Zahl der Militärmanöver ist gestiegen. Ishiba will weitermachen. „Eine asiatische Version der NATO müsste zudem die Teilhabe Amerikas an Atomwaffen und die Einführung von Atomwaffen in der Region in Betracht ziehen“, schrieb Ishiba in seinem Essay kurz vor der Parlamentswahl. Neben Abschreckung gegenüber China solle sich so ein Bündnis auch gegen die atomar bewaffneten Staaten Russland und Nordkorea richten. 

Nur: Besonders gut angekommen ist die Idee der Asien-NATO nicht. Neben Kritik aus China war Skepsis aus Indien sowie mehreren südostasiatischen Staaten zu hören, wo China oft der wichtigste Handelspartner ist. Selbst Vertreter der US-Regierung haben Ishiba abgekanzelt. So sagte Daniel Kritenbrink, Beamter im Außenministerium: „Es ist zu früh, in diesem Zusammenhang über kollektive Sicherheit und formellere Institutionen zu sprechen.“ 

„Die USA wollen ihren Supermachtstatus bis heute bewahren“, erklärte Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophia Universität in Tokio. Das Abkommen über die US-Militärpräsenz in Japan manifestiere diese, denn es sei ein ungleicher Vertrag: „Strafverfolgung amerikanischer Soldaten in Japan ist sehr schwierig.“ Auch im Umgang mit Waffen habe Japan wenig Mitspracherechte. „Ishiba will diesen Vertrag neu verhandeln und mehr Augenhöhe erreichen.“ In Japan ist das populär. In US-Regierungskreisen aber nicht – bis jetzt. Denn mit der Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident könnte sich dies ändern. Während seiner ersten Amtszeit hatte Trump strategische Partnerstaaten dazu aufgefordert, mehr eigenes Geld für Verteidigung aufzuwenden. Für Ishiba könnte dies eine Chance sein, ernsthafte Gespräche über solche Fragen zu beginnen. 


Radikal und offen zugleich

Dies betrifft auch das Szenario einer „asiatischen NATO“, das bei einer mehr nach innen gerichteten US-Regierung eher Anklang finden könnte. Zwar ist Ishiba hier schon etwas zurückgerudert, auf einem ­ASEAN-Gipfel sparte er das Thema zuletzt aus. Und Außenminister Takeshi Iwaya erklärte: „Wir sollten dies als Teil unserer mittel- bis langfristigen Zukunftsvision betrachten. Vorerst möchten wir verschiedene multilaterale Sicherheitskooperationsprogramme, die wir jetzt haben, vorsichtig stärken.“

Um Ishibas Vision eines Japans, das in der Welt mit breiterer Brust auftritt, weiter zu stärken, wird der neue Premier auch die Unterstützung der Opposition benötigen. Und obwohl die Militarisierung Japans unter der stärksten Oppositionspartei, der linksliberalen Verfassungsdemokratischen Partei, höchst unbeliebt ist, könnte er hier einiges erreichen. 

Denn Shigeru Ishiba mag für japanische Verhältnisse radikal denken, was Verteidigungsfragen angeht. Aber energie- und gesellschaftspolitisch ist er für Ideen offen, die in der konservativen Partei ansonsten eher selten sind: Ishiba hat angedeutet, die Abhängigkeit von Atomkraft reduzieren zu wollen. Außerdem steht er der Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen sowie der Möglichkeit, dass Frauen mit der Eheschließung nicht mehr ihre Nachnamen abgeben müssen, aufgeschlossen gegenüber.

Dies sind Themen, die für die Kräfte links der LDP und deren Wählerschaft wichtig sind. Falls es hier eine Einigung gibt, könnte Ishiba in Verteidigungsfragen einen Kompromiss mit der Opposition erreichen. Zumal seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine auch links der Mitte die Angst vor einem Krieg zugenommen hat. So könnte ausgerechnet dieser eher schwache Premier eine Menge ­erreichen. Allzu viel schlafen sollte er dafür aber nicht.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 9-11

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Dr. Felix Lill ist Journalist und Autor. Er berichtet aus vielen Ländern,  vor allem mit Fokus auf Ostasien.

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