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01. Apr. 2007

Vier Jahre nach Saddam Hussein

War das Scheitern des Irak-Kriegs vorhersehbar? Eine retrospektive Analyse

Die Rückschau auf die vier Jahre seit dem Beginn des amerikanisch geführten Krieges gegen den Irak und dem Sturz der Diktatur Saddam Husseins bietet Gelegenheit, die eigenen Einschätzungen jener Tage zu überprüfen – und damit auch die Prognosefähigkeit der Wissenschaft auf den Prüfstand zu stellen. Wie sollte es weitergehen? Einige Empfehlungen.

Viele europäische Wissenschaftler und Politiker haben die amerikanischen Verbündeten vor dem Weg in den Krieg gewarnt oder ihnen – je nach Sichtweise – die Gefolgschaft verweigert. Wir haben dabei zum Teil nicht wesentlich andere Argumente genutzt als manche unserer Kollegen in amerikanischen Denkfabriken. Als klar war, dass die internationale Diplomatie an ihr Ende gelangt war und die Invasion unmittelbar bevorstand, blieb dem kritischen wissenschaftlichen Beobachter vor allem die Frage nach Szenarien für den Krieg und die Zeit nach Saddam Hussein.

Wer heute etwa ein Papier dieses Autors liest, das im Frühjahr 2003 veröffentlicht wurde,1 wird feststellen, dass sich die strukturellen politischen und ökonomischen Variablen, die eine externe Besatzungsmacht vor Ort zu konfrontieren hat, leichter identifizieren lassen als die Entscheidungen einzelner Personen der verschiedenen Konfliktparteien. Umso schwieriger, wenn Entscheidungsträger in den USA sich mit Blick auf den Irak eher von ideologisch geprägtem Wunschdenken leiten ließen. Wer den politischen und sozialen Gegebenheiten des Irak die notwendige Aufmerksamkeit widmete, musste jedenfalls bezweifeln, dass der politische Willen einer Supermacht genügen würde, um den Irak und die gesamte Region durch eine militärische Intervention in die Demokratie zu katapultieren.

Was wurde, halten wir uns bei dieser Frage einmal an die eigenen Analysen, richtig, was wurde falsch eingeschätzt? Es bestand wenig Zweifel daran, dass der Invasionskrieg bis zum Sturz des alten Regimes kurz sein würde – drei oder vier Wochen, nicht mehr. Es war zu erwarten, dass viele Angehörige der zum großen Teil nur durch Repression zusammengehaltenen irakischen Streitkräfte angesichts der drohenden Niederlage lieber nach Hause gehen würden. Nicht zu erwarten war, dass die amerikanische Besatzungsmacht dann die besiegte Armee ersatzlos auflösen würde, anstatt ihre Soldaten und Offiziere zumindest weiter zu beschäftigen und ihren Familien eine Versorgung zu sichern. Anstatt die Truppen zu sammeln, organisiert zu entwaffnen oder Teile von ihnen zur Sicherung von Grenzen, Pipelines und Verkehrswegen einzusetzen, entließ man sie in Arbeitslosigkeit und politischen Zorn und schuf damit ein enormes Rekrutierungspotenzial für die bald beginnende Aufstandsbewegung.

Nicht zu erwarten war auch, dass die Besatzungsmacht Plünderungen in Bagdad und weiteren Städten tatenlos zusehen würde, die Waffenlager des alten Regimes und sogar die Außengrenzen weitgehend ungesichert lassen würde. Diese Entscheidungen der Befehlshaber, nicht zuletzt des amerikanischen Zivilverwalters für den Irak, Paul Bremer, haben Entwicklungen in Richtung eines Szenarios befördert, das in der zitierten Studie unter der Überschrift „Staatszerfall“ firmiert. Es ging davon aus, dass der Irak Saddam Husseins kein starker Staat, sondern ein Gewaltsystem war, das nach dem Sturz seiner Grundpfeiler desintegrieren würde: „Sollte dieses System zusammenbrechen, ist mit heftigen -gewaltsamen Auseinandersetzungen unter der irakischen Bevölkerung zu rechnen. Viele werden sich an persönlichen Feinden und an denjenigen rächen, durch die sie in der Vergangenheit unterdrückt oder gefoltert wurden. Sollte es Stammesführern, anderen lokalen Akteuren und/oder einer Besatzungsarmee nicht gelingen, diese Gewalttätigkeiten rasch unter Kontrolle zu bringen, besteht das Risiko religiöser Konflikte, besonders zwischen Schiiten und Sunniten.“ Man müsse, so hieß es weiter, mit dauerhaftem Widerstand aus Kreisen der Baath-Partei und des Sicherheitsapparats rechnen sowie mit der teilweisen Gebietskontrolle durch kurdische und schiitische Milizen im Norden bzw. Süden des Irak: „Andere Teile des Landes könnten in einen mehr oder weniger anarchischen Zustand verfallen und eine Basis für Terrorgruppen bilden. Eine unsichere Zersplitterung des Landes wäre in jedem Fall wahrscheinlicher als eine stabile ethnisch-regionale Dreiteilung in ein kurdisches, ein schiitisches und ein sunnitisches Gebiet.“ Dies alles jedenfalls sei zu erwarten, wenn eine Militärverwaltung nicht unmittelbar Sicherheit und Ordnung garantiere.

Nicht nur europäische Think-Tanker haben in diesem Sinne gewarnt. Glaubt man dem Journalisten Bob Woodward, hat auch Colin Powell, der damalige amerikanische Außenminister, seinem Präsidenten prophezeit: „You break it, you own it“ – frei übersetzt: Wer die alte Ordnung zerstört, trägt die Verantwortung für die daraus resultierende Unordnung. Manche Elemente dieser Unordnung traten anders oder viel später ein als erwartet. So kam es während der Invasion und in ihrer unmittelbaren Folge nicht zu Flüchtlingswellen. Tatsächlich hatte die große Mehrheit der Iraker nach dem Sturz des alten Regimes erst einmal Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Man wunderte sich zwar, dass eine Weltmacht wie die USA nicht in der Lage war, Bagdads Strom- und Benzinversorgung zu sichern oder die Kriminalität in den Griff zu bekommen. Dennoch gab die Bevölkerung dem politischen Prozess, den die US-Verwaltung rasch auf den Weg brachte, zunächst eine Chance. Erst als Terror, Kriminalität und ethnisch motivierte Gewaltakte sich auszuweiten begannen, suchten mehr und mehr Iraker Zuflucht in „sicheren“, von ihrer eigenen Konfessionsgemeinschaft dominierten Gebieten – oder gleich im Ausland. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt die Zahl irakischer Flüchtlinge in den angrenzenden Ländern heute auf 1,8 Millionen, die Zahl der im eigenen Land Vertriebenen oder unfreiwillig Umgesiedelten auf 1,6 Millionen.

Was die regionalen Auswirkungen des Krieges betraf, realisierten sich eher skeptische europäische Erwartungen als die der neokonservativen Kriegsvordenker: Zwar war die arabische Staatengemeinschaft tatsächlich beeindruckt – „shocked and awed“ – von der Aggressivität, mit der die USA den Regimewechsel gegen Saddam Hussein durchsetzten. Einige dieser Regime versuchten auch, durch begrenzte politische Reformen amerikanischen Veränderungsdruck von sich abzuwenden. Je weniger jedoch die amerikanische Politik im Irak der auftretenden Schwierigkeiten Herr wurde, desto mehr nahm die Sorge um regionale Stabilität und gleichzeitig das Selbstbewusstsein der regionalen Herrscher zu. Das zeigte sich vor allem im Iran – dem Staat, der wohl am ehesten und ohne eigenes Zutun als Gewinner des Irak-Krieges gelten kann: Mit Saddam Hussein war der jahrzehntelange Konkurrent um Hegemonie am Golf gestürzt; iranischer Einfluss wuchs, vor allem im Süden des Irak und in Bagdad. Erstmals hatten Iraks Schiiten die Chance, einen ihrer demographischen Stärke entsprechenden Anteil an der politischen Macht in Bagdad zu übernehmen, und viele schiitische Politiker waren lange im iranischen Exil gewesen.

Politischer Aufbau und Bürgerkrieg

Zwar haben auch amerikanische Kriegsbefürworter aus Politik und Gesellschaft heftige Kritik an den Fehlern der Besatzungspolitik geübt. Meist stellten sie dabei aber keinen Zusammenhang zu der Hybris her, mit der der Krieg gerechtfertigt worden war. Dazu gehörten der nonchalante Umgang mit unzureichenden oder falschen Informationen; ebenso die bei einer Reihe der politisch Verantwortlichen fest verwurzelte Überzeugung, dass die irakische Gesellschaft nur darauf warte, von den Amerikanern befreit und zur Demokratie geführt zu werden. Die Fehler des in der Irak-Politik führenden Pentagons entsprachen dieser Geisteshaltung: zu wenig Truppen, um eine Stabilisierungsmission in einem Land dieser Größenordnung effektiv durchführen zu können, zu wenig Interesse für die Sicherheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung und zu wenig Sensibilität im Umgang mit der irakischen Gesellschaft. Die politisch Verantwortlichen im Pentagon und im Weißen Haus befanden sich zudem, um einmal mehr Bob Woodward zu zitieren, zunehmend in einem „state of denial“. Sie verweigerten die Einsicht, dass es nicht nur einzelne Gewaltakte terroristischer Elemente, sondern bald schon eine wohlorganisierte Aufstandsbewegung gegen die Besatzungsmacht gab, die sich die Erfahrungen vieler ehemaliger Soldaten zunutze machen konnte.

Tatsächlich haben die Amerikaner sich ernsthaft bemüht, politische Prozesse und den Aufbau irakischer Institutionen zu fördern. Bereits im Sommer 2003 wurde ein „Governing Council“ eingesetzt, der einen Teil der Regierungsgeschäfte übernahm; im Sommer 2004 wurde daraus eine provisorische Regierung. Gleichzeitig wurde der Irak formal für souverän erklärt. Im Januar und im Dezember 2005 gab es Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung und ein Parlament, im Oktober desselben Jahres eine Abstimmung über die neue irakische Verfassung.

Der politische Wiederaufbauprozess leidet jedoch an Widersprüchlichkeiten auf amerikanischer wie auf irakischer Seite. Der amerikanische Wunsch nach souveräner Demokratie im Irak wurde durch zu starke Kontrollansprüche der Bush-Regierung konterkariert. Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats in Washington ließen etwa während der Beratungen über eine irakische Verfassung in Bagdad vernehmen, dass man den Verfassungsprozess natürlich den Irakern überlasse – Paragraphen, die auf der Scharia basieren, werde man jedoch nicht akzeptieren. Die Amerikaner machten auch deutlich, wen sie sich als Regierungschef wünschten, sorgten für die Ablösung des ihnen zu unentschiedenen Premiers Ibrahim Dschaafari und nahmen erheblichen Einfluss auf den Prozess der Regierungsbildung unter Nuri al-Maliki.

Zweifellos ist der Irak heute freier und demokratischer als je zuvor. Die Wahlen und Abstimmungen sowie die Bemühungen, eine regional und konfessionell repräsentative Regierung zu bilden, wurden von lokalen Akteuren vorangetrieben. Insofern kann man von einem be-grenzten politischen Aufbau sprechen, wenn man gleichzeitig nicht übersieht, dass wesentliche Elemente von Staatlichkeit im Irak heute fehlen. Unter den politischen Eliten des Landes besteht kein Konsens über fundamentale Fragen: den Grad der Autonomie etwa, den einzelne Regionen für sich beanspruchen und durchsetzen können, genauso wie den Stellenwert der Religion im Staat. Eine Einigung über die Prinzipien, nach denen die Einkommen aus dem Ölexport – der auch in Zukunft wichtigsten Einkommensquelle des Irak – verteilt werden sollen, scheint dagegen nach langem Stillstand auf dem Weg zu sein.

Man kann von mindestens drei Parallelgesellschaften sprechen, die im Irak zusammenleben müssen. Es war kein Zufall, dass die Verfassung vor allem in den mehrheitlich sunnitisch bewohnten Gebieten abgelehnt wurde, wo der Aufstand gegen die Besatzung und das neue Regime am stärksten ist. Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass die schiitische Parlamentsmehrheit wenig Bereitschaft zeigt, den Verfassungstext wie ursprünglich vorgesehen noch einmal zu revidieren, um sunnitische Kritik zu berücksichtigen. Die Parlamentswahlen hatten deshalb eher den Charakter einer Volkszählung als den einer Abstimmung zwischen unterschiedlichen -politischen Programmen: Schiiten stimmten überwiegend für schiitische, Kurden fast ausschließlich für kurdische und Sunniten für sunnitische Listen. Eine ausdrücklich -säkulare, konfessionsübergreifende Gruppierung wie die Irakische Nationale Liste des einstigen Ministerpräsidenten der Übergangsregierung Iyad al-Allawi kam nur auf 8,1 Prozent der Stimmen und erhielt damit nur 25 Sitze.

Diese Konfessionalisierung der Politik nährt sich auch aus der allgemeinen Unsicherheit und dem Fehlen eines effektiven Staates. Regierung und Parlament verstecken sich in verheerender Symbolik hinter den Betonmauern der von US-Truppen kontrollierten Grünen Zone in Bagdad, wo auch die amerikanische Botschaft – im ehemaligen Präsidentenpalast – residiert. Der „Staat“ ist also für seine Bürger praktisch unerreichbar; wesentliche öffentliche Güter wie Sicherheit und Wohlfahrt werden, wenn überhaupt, von Stammesverbänden oder konfessionellen Milizen bereitgestellt. Zwar beeindruckt die Zahl der neu eingestellten Polizeikräfte; in der Praxis aber ist der Übergang zwischen Polizei, konfessionellen Parteimilizen und Todesschwadronen oft fließend.

Ließ die Gewalt im Lande sich in den ersten drei Jahren nach dem Sturz des alten Regimes noch als Aufstand gegen die Besatzung mit gelegentlichen konfessionellen Untertönen charakterisieren, so muss man seit Anfang 2006 von einer Mischung aus Aufstand und Bürgerkrieg sprechen. Spätestens seit dem Bombenanschlag auf den Al-Askari-Schrein der schiitischen Moschee von Samarra im Februar 2006 kam es zu groß angelegten Racheakten schiitischer Milizen gegen Sunniten. Ethnisch motivierte Gewaltakte haben seither nahezu kontinuierlich zugenommen. Morde nach Konfessionszugehörigkeit wurden zur Realität mit oftmals mehr als 100 Opfern pro Tag. Die Zahl der irakischen Zivilisten, die im Jahre 2006 durch politisch oder konfessionell motivierte Gewalt ums Leben kamen, schätzte das irakische Innenministerium zunächst auf 12 320, die Vereinten Nationen dagegen auf 34 452.

Die Bürgerkriegsstimmung im Land und die nahezu verzweifelten Versuche der Regierung Maliki, Regierungsgewalt und Staatlichkeit zu demonstrieren, zeigten sich in einem Akt von höchster symbolischer Relevanz: der Hinrichtung des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein Ende 2006. Westliche Beobachter, die aus rechtsstaatlicher Perspektive -Mängel des Verfahrens gegen Saddam Hussein kritisierten, unterstrichen damit zwar ihre moralischen Prinzipien, zeigten aber wenig Sinn für irakische Realitäten. Immerhin hatte Saddam Hussein überhaupt einen Prozess bekommen und das zuständige Tribunal bemühte sich zumindest um einen rechtsstaatlichen Rahmen.

Man mag bedauern, dass der nächste Prozess, über den organisierten Massenmord an irakischen Kurden, nun ohne den Hauptangeklagten fortgeführt werden muss. Die konfessionalistische Realität im Irak spiegelt sich schon hier: Der erste Prozess beschäftigte sich mit einem Verbrechen gegen Angehörige der schiitischen Konfessionsgemeinschaft, die sich heute als dominierende Gruppe sieht. Dass die Hinrichtung dann auf einen sunnitischen Feiertag gelegt wurde und schiitische Wachleute den Delinquenten kurz vor dessen Tode noch demütigten, war fast konsequent. Für Regierungschef Maliki, der den zügigen Vollzug der Todesstrafe anordnete, kamen weitere Motive hinzu: Er gab dem Verlangen eines großen Teiles seiner eigenen Basis nach Rache nach; er ließ demonstrieren, dass das alte Regime nun tatsächlich und ein für alle Mal am Ende war; er versuchte letztlich auch – so paradox das erscheinen mag – die Integration von Mitgliedern des alten Regimes in den neuen Staat zu ermöglichen. Denn nur wenn Saddam Hussein, der sich auch während des Prozesses stets als legitimer Präsident des Irak betitelte, verschwand, würden Teile seiner ehemaligen Anhängerschaft vielleicht die neuen Realitäten akzeptieren.

Amerikas Strategie

Im Laufe des Jahres 2006 wurde der amerikanischen Führung klar, dass die Lage im Irak sich zunehmend verschlechterte. Auch der Präsident und seine Mitarbeiter verglichen die Situation nun gelegentlich mit dem Vietnam-Krieg. Der Präsident erlebte die Unpopularität des Krieges, der mittlerweile auch mehr als 3000 amerikanischen Soldaten das Leben gekostet hat, bei den Zwischenwahlen im November 2006; der Kongress und der Präsident selbst beauftragten verschiedene Kommissionen, um die Irak-Strategie zu überdenken; und der neue Verteidigungsminister Robert Gates beantwortete bei seiner Anhörung im Kongress die Frage, ob Amerika im Irak noch siegen könne, mit einem entwaffnenden „No, Sir.“

Gab es im ersten und zweiten Jahr nach der Invasion noch zwei schlechte Alternativen, nämlich die Fortsetzung der Besatzung bei anhaltendem Aufstand oder den Ausbruch eines Bürgerkriegs bei Abzug ausländischer Truppen, so gibt es heute bereits einen Bürgerkrieg unter amerikanischer Kontrolle. Nun kann lediglich die Besatzung mit Aufstand und Bürgerkrieg fortgeführt oder eine Exit--Strategie gefunden werden, die die Nachbarn in eine Stabilisierung der Situation einbezieht. Die großen Ziele eines amerikanisch geführten Wiederaufbaus und einer Transformation des Irak in einen Leuchtturm der Demokratie im Nahen und Mittleren Osten sind bereits stillschweigend begraben worden. Vorsorglich macht man die Iraker selbst für das Scheitern der Ambitionen verantwortlich. „Wir haben den Irakern eine einmalige Chance gegeben“, hieß es in einem Beitrag im US-Massenblatt USA Today, „eine rechtsstaatliche Demokratie aufzubauen. Sie haben es vorgezogen, altem Hass, konfessioneller Gewalt, ethnischer Bigotterie und einer Kultur der Korruption zu frönen. Es scheint, dass die Zyniker Recht hatten: Arabische Gesellschaften können Demokratie, wie wir sie kennen, nicht ertragen. Und die Leute erhalten die Regierung, die sie verdienen.“2

Natürlich sagt das Scheitern der amerikanischen Strategie nichts über die Fähigkeit arabischer Gesellschaften aus, ihre eigenen Demokratien zu entwickeln. Und die von amerikanischen Amtsträgern an die irakische Regierung gestellte Forderung, sich wirksamer für Sicherheit und Ordnung einzusetzen, ist nicht völlig falsch – tatsächlich haben Korruption und Selbstbereicherung unter der gegenwärtigen Regierung neue Höhepunkte erreicht, und tatsächlich geht ein Teil der konfessionalistischen Gewalt von Todesschwadronen aus, die zu den Milizen der Regierungspartei gehören. Mowaffaq al-Rubai, der na-tionale Sicherheitsberater des Irak, fragt allerdings zu Recht, wie man die irakische Regierung für etwas kritisieren könne, das doch eigentlich zu den Aufgaben der Koalitionstruppen gehöre. Im Sommer 2007, immerhin vier Jahre nach der Wiedergewinnung formaler Souveränität, soll die irakische Regierung von der amerikanisch geführten Koalition möglicherweise die Autorität über die zehn Divisionen der neuen irakischen Armee erhalten. Noch operieren diese Einheiten unter US-Kommando. Die Amerikaner haben bislang auch nicht die Absicht, die Kontrolle über den Luftraum aus der Hand zu geben.

Die Souveränität des Irak ist aber nicht nur in militärischen Dingen defizitär. Auch bei politischen Entscheidungen bemüht die amerikanische Regierung sich häufig weiter um ein Management eigentlich irakischer Entscheidungen. Das gilt unter anderem für eine Amnestie für Aufständische, von Iraks Regierungschef Maliki Mitte 2006 erstmals vorgeschlagen. US-Vertreter lehnten sie zunächst heftig ab, weil davon auch Personen profitieren könnten, die den Tod von amerikanischen Soldaten verursacht hatten. Mittlerweile bemüht sich der US-Botschafter selbst um eine solche Amnestie. Ähnliches gilt für die Politik der De-Baathifizierung: Unter Zivilverwalter Bremer wurde sehr aggressiv und gegen den Widerstand pragmatischer irakischer Politiker versucht, nahezu alle ehemaligen Parteimitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Mittlerweile hat auch hier ein Umdenken bei amerikanischen Verantwortlichen begonnen, die nun wiederum die irakische Regierung drängen, sich bei der De-Baathifizierung auf einen möglichst kleinen Kreis verantwortlicher Kader zu konzentrieren. Im Ergebnis zeigt sich hier, dass die irakische politische Klasse insgesamt kaum wirkliche Verantwortung für die Zukunft des Landes übernehmen wird, solange sie noch unter der Aufsicht der amerikanischen Armee und Botschaft steht.

Die amerikanische Debatte über die eigene Strategie im Irak ist noch nicht abgeschlossen. Sie wird sich weiter entwickeln – immer mit einem Auge auf die amerikanische Innenpolitik und die Legacy, die politische Hinterlassenschaft der Ära Bush. Die realistischste Einschätzung wurde von der vom Kongress eingesetzten Baker-Hamilton-Kommission vorgelegt. Die bisherige Strategie der US-Regierung, hieß es darin, verspreche keinen Erfolg. Die Lage im Irak sei schwerwiegend und verschlechtere sich kontinuierlich. Auch wenn die US-Streitkräfte immer wieder einzelne Stadtteile unter Kontrolle bringen könnten, habe man bisher noch nicht einmal die Hauptstadt Bagdad zu stabilisieren vermocht. Den Kurs zu halten sei genauso wenig eine Lösung wie die Zerlegung des Irak in drei Einzelteile oder ein sofortiger Abzug der amerikanischen Streitkräfte.

Die Hauptvorschläge der Kommission gehen in zwei Richtungen. Gefordert wird erstens ein gradueller, aber nicht vollständiger Truppenabzug. Bis Frühjahr 2008 könne etwa die Hälfte der derzeit noch etwa 140 000 US-Soldaten den Irak verlassen haben. Die verbleibenden Truppen sollen vorwiegend dem Training irakischer Sicherheitskräfte sowie der gezielten Terrorbekämpfung dienen. Zweitens setzt man auf regionale Diplomatie: Auf eine Einbindung der Nachbarstaaten des Irak und auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Nahen Osten. Während dieser zweite Teil der Vorschläge innerhalb der Kommission rasch Konsens fand, ist der Truppenabzugsplan ein Kompromiss, der keinen echten Politikwechsel fordert. Was fehlt, ist ein Zieldatum, zu dem die US-Armee den Irak verlassen haben soll. Ohne einen solchen Termin wird sich praktisch nicht viel ändern. Schließlich ist auch in den Jahren zuvor ein Truppenabzug stets an bestimmte Bedingungen geknüpft worden, die unerreichbar waren und bleiben, solange amerikanische Truppen die letzten Entscheidungen treffen können.

Für manche der irakischen Entscheidungsträger ist es bequemer, sich auf die Amerikaner und ihre Feuerkraft zu verlassen, als die Folgen politischer und militärischer Entscheidungen selbst zu verantworten. Hier scheint ein Perspektivwechsel nötig: Nur wenn durch einen Tag X in 12 oder 15 oder 18 Monaten ein politischer Countdown bis zum Abzug beginnt, wird tatsächlich der notwendige Druck entstehen, verbleibende Trainingsaufgaben effizient zu erledigen. Auch würde deutlich, dass die Amerikaner nicht beabsichtigen, den Irak und seine Ressourcen dauerhaft zu kontrollieren. Dies wiederum würde die Iraker tatsächlich und eindeutig in die Verantwortung für die Zukunft und den Erhalt ihres Landes zwingen. Die irakische Bevölkerung dürfte ein klares Abzugsdatum mittlerweile ebenfalls befürworten. Anders als in den ersten Jahren der Operation, als eine Mehrheit der Iraker trotz aller Kritik am Verhalten der US-Streitkräfte deren Verbleib im Land für notwendig hielt, wollen nach einer Umfrage des Iraq Centre for Research and Strategic Studies (ICRSS) heute zwei Drittel der Bevölkerung einen Abzug der multinationalen Truppen sehen, der unmittelbar beginnen solle.

Kein politischer Plan für einen Abzug kann angesichts der verfahrenen Situation den Erfolg garantieren. Ein festes Abzugsdatum könnte aber eine Einbindung der regionalen Staaten erleichtern. Diese sind derzeit durchaus gespalten, was ihre taktischen Erwägungen und mittel- bis langfristigen Interessen mit Blick auf den Irak angeht. Sowohl in Damaskus und Teheran als auch in Riad wünschen Teile der politischen Eliten den USA sehr herzlich eine Niederlage. Gleichzeitig sind sie kaum an einem sofortigen Abzug der Amerikaner aus dem Irak interessiert, der die regionalen Nachbarn möglicherweise in einen Bürgerkrieg hineinziehen würde. Vorschläge aus Saudi-Arabien, die Sunniten des Irak militärisch zu unterstützen, zeugen von einer tiefen Beunruhigung, die Lage im Irak könne außer Kontrolle geraten und Chaos und Bürgerkrieg könnten auch über die Grenzen des Landes schwappen. Schon heute sprechen manche Kommentatoren von einem saudisch-iranischen Stellvertreterkrieg im Irak. Alle Nachbarstaaten teilen allerdings ein Interesse: die Erhaltung der territorialen Integrität des Irak. Schließlich könnte eine Spaltung des Irak mit der Entstehung neuer zwischenstaatlicher Grenzen auch andere Grenzen in der Region in Frage stellen.

An diesen gemeinsamen Interessen gilt es anzusetzen. Keiner der regionalen Spieler hat Einfluss auf alle Akteure im Irak, aber fast alle Nachbarn können positiv oder negativ auf die Entwicklung im Lande einwirken. Die irakische Regierung selbst ist sich dessen bewusst und hat deshalb auch kein Problem, mit Ankara, Amman und Riad oder auch mit Teheran und Damaskus zu sprechen. Sie hat deshalb die Initiative für das Treffen ergriffen, das Anfang März Vertreter aller Nachbarstaaten sowie der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats in Bagdad zusammengebracht hat. Es wird möglicherweise im April auf höherer Ebene und mit breiterer Beteiligung fortgesetzt werden. Die amerikanische Regierung würde ihren irakischen Partnern – wie auch ihrer eigenen Politik – einen Dienst erweisen, wenn sie diese Treffen zum Dialog mit Teheran und Damaskus nutzt.

Noch ist unklar, inwieweit George W. Bush im Laufe des Jahres einen substanzielleren Kurswechsel im Irak einleiten wird. Vorerst hat er eine vorübergehende Erhöhung der Truppenstärke angekündigt, die keinen entscheidenden Unterschied machen und nicht genug Sicherheit schaffen wird, um zusätzliche Wiederaufbaugelder überhaupt ausgeben zu können. Es scheint, dass Präsident Bush im Rest seiner Amtszeit noch „den Kurs halten“ und einen Abzug lieber seinen Nachfolgern überlassen will. Das eigene historische Ansehen wird damit kaum gerettet. Es wird mit dem Irak-Krieg verbunden bleiben, der die Region des Nahen und Mittleren Ostens zwar erschüttert, sie aber weder sicherer noch demokratischer gemacht hat.

Die Entwicklungen im Irak haben eher den autoritären Herrschern Auftrieb gegeben. Im Irak selbst dominiert der Wunsch nach Herstellung eines effektiven, notfalls auch autoritären Staates; in Ländern wie Syrien oder Saudi-Arabien ist es mit Blick auf die Verhältnisse im Irak sehr viel leichter geworden, Forderungen nach politischer Liberalisierung abzuwehren.

DR. VOLKER PERTHES, geb. 1958, ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sein jüngstes Buch „Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch“ erschien 2006 – siehe dazu die Rezension in der März-Ausgabe der IP.
 

  • 1Volker Perthes: Nach Saddam Hussein. Politische Perspektiven im Mittleren Osten, SWP-Studie 13/2003. 2 Ralph Peters: Last Gasps in Iraq, USA Today, 2.11.2006.
  • 2Ralph Peters: Last Gasps in Iraq, USA Today, 2.11.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2007, S. 112 - 120.

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