Verwirrungen über den Geist der Zeit
Werkstatt Deutschland
Rückt Deutschland nach „links“? Nein. Aber die Kluft zwischen Bürgern und gesellschaftlichen Institutionen wächst dramatisch
Die politische Kaste in Deutschland lässt sich derzeit vom Gespenst eines „Linksdralls“ in der Gesellschaft erschrecken. Und ganz schnell wird manches politische Programm „links“ nachgebessert. Doch die deutschen Parteien – allen voran die SPD – jagen nur einer Schimäre nach; denn dass sich (wie eine deutsche Wochenzeitung mit großem Erstaunen konstatierte) heute mehr Deutsche als „links“ einstufen als in den achtziger Jahren, liegt allein daran, dass sich die früheren DDR-Bürger immer noch mehrheitlich als „links“ bezeichnen, und dass der Anteil von Bürgern mit weiterführender Schulbildung, die sich schon immer eher als andere Bildungsgruppen als „links“ etikettierten, gestiegen ist.
Ein Blick auf die Ergebnisse der sechs Landtagswahlen seit der letzten Bundestagswahl vom September 2005 zeigt denn auch, dass die „Links-Parteien“ zusammen (SPD, Linke und Grüne) in der Summe rund 2,3 Millionen Stimmen weniger erhielten als bei der Neuwahl des Bundestags 2005. (Die SPD bekam rund 1,4 Millionen Stimmen weniger, die Linke 570 000 und die Grünen rund 370 000). Der Wähleranteil des linken Spektrums ist also seit 2005 um über ein Drittel geschrumpft. Das bürgerliche Lager (CDU und FDP) plus rechtsradikale Parteien bekam in der Summe der Landtagswahlen 1,55 Millionen Stimmen weniger. Der Wählerschwund der bürgerlichen und rechten Parteien war also mit einem Viertel geringer als der des linken Lagers. Angestiegen ist dagegen der Anteil der kleinen Splitterparteien (von 245 000 auf 321 000) und der Nichtwähler (um 3,7 Millionen von 4,2 auf 7,9 Millionen). Gegenwärtig ist also weder ein akuter Links- noch ein Rechtsruck zu registrieren. Zu beobachten ist vielmehr eine immer größer werdende Entfremdung zwischen den Bürgern und der politischen Kaste. Vor allem die schwindenden Bindekräfte der beiden großen Parteien haben zu dem derzeitigen großen Vertrauensvakuum geführt.
In der Summe der sechs Landtagswahlen seit 2005 haben nur noch 19 von 100 Wahlberechtigten die CDU, 16 von 100 die SPD gewählt. Das linke und das bürgerliche Wählerlager konnte jeweils nur ein Viertel der Wahlberechtigten auf sich vereinen. Rund die Hälfte der Wahlberechtigten nahm an den Wahlen gar nicht teil. Vertrauen haben allerdings nicht nur die Parteien und politischen Institutionen eingebüßt, sondern auch andere Bereiche der Gesellschaft: Neben Gewerkschaften und Kirchen auch die Wirtschaft, und hier insbesondere die Banken, die Bahn, die Versicherungen, die Energie-, Entsorgungs- oder Mineralölunternehmen. Manager haben heute ein ebenso geringes Ansehen wie Politiker oder Gewerkschaftsfunktionäre. Noch weniger halten die Bürger nur noch von den Mitarbeitern der Telekom.
Die Folge dieser immer geringer werdenden Bindekraft gesellschaftlicher Institutionen ist, dass die Menschen so recht keinem mehr glauben. So glauben sie auch nicht an den von allen Analysten behaupteten Aufschwung. Er geht nicht an ihnen „vorbei“, sondern sie nehmen ihn einfach nicht wahr. Der Anteil derer, die heute mit einer Verschlechterung der ökonomischen Verhältnisse im Land rechnen, ist nach zwei Jahren Großer Koalition genauso groß wie nach sieben Jahren rot-grüner Regierung. Und der „Kaufrausch“ der Deutschen ist bis heute ausgeblieben, vor allem weil die Mehrheit der Bürger überhaupt kein Geld für größere Anschaffungen zur Verfügung hat. Das verloren gegangene Vertrauen wird nicht zurückgewonnen, wenn die wahren Befindlichkeiten der Menschen ignoriert, Minderheitsmeinungen als Willen der Mehrheit interpretiert, den Bürgern unangenehme Tatbestände verschwiegen und die Verhältnisse beschönigt werden, oder wenn sich Unternehmen als Global Player positionieren, dabei aber die Bedürfnisse der Menschen vor Ort nicht mehr berücksichtigen.
So dürfte auch die von Kurt Beck eingeleitete Wende der SPD zurück zu Positionen der achtziger Jahre und die Abkehr von der Schröderschen Modernisierungspolitik nicht dazu führen, die SPD den Menschen wieder „näher“ zu bringen. Denn wichtiger als die Einführung von Mindestlöhnen oder die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes sind für die meisten Menschen die Sicherung der bestehenden und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, der Schutz vor der von den Bürgern zunehmend als Bedrohung empfundenen Gewalt in der Gesellschaft oder eine Bildungs- und Schulpolitik, die den Kindern eine lebenswerte Zukunft ermöglicht. Die Bürger erwarten zudem von den Eliten mehr Führung und Orientierung in einer globalisierten Welt. Dabei wird die Globalisierung nicht durchweg als etwas Negatives, sondern von vielen durchaus auch als Chance gesehen. Nur vor den Ausuferungen einer schonungslosen Kommerzialisierung aller Lebensbereiche möchten die Bürger geschützt werden. Das gilt – nach überwiegend negativen Erfahrungen mit der Privatisierung ehemals öffentlicher Dienste – auch bei der Frage, welche Leistungen weiter privatisiert werden sollten. Die Überlegung, etwa bei einer Bahnprivatisierung Volksaktien auszugeben, geht an den Bedürfnissen der Bürger vorbei; denn bei dem extrem negativen Image der Bahn würden derzeit nur wenige Volksaktien der Bahn kaufen. Mit einer Ansammlung von Gemeinplätzen – wie in Becks Rede auf dem SPD-Parteitag – wird keine der großen Parteien Vertrauen zurückgewinnen. Damit fördert man nur den Unmut über die Politik bzw. die politischen Akteure und damit eine weiter zunehmende Tendenz zur Wahlenthaltung.
Internationale Politik 12, Dezember 2007, S. 70 - 71.
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