Verpflichtung Europa
Mehr als Militär und Außenhandel: Plädoyer für die EU als Wertegemeinschaft
Wahrheitssuche, Demokratie, Toleranz: Es fiele nicht schwer, gemeinsame europäische Werte aufzuzählen. Doch die EU des Berliner Gipfels fällt inzwischen weit hinter die Vision einer Gemeinschaft der Grundrechte zurück. Die Union als Verbund der Abwehr an ihren Grenzen: Soll dies das eigentliche Fundament Europas sein?
Wofür steht die Europäische Union mit ihren nun 27 Mitgliedstaaten? Sie ist weder Staatenbund noch Bundesstaat. Eine Konföderation hat eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik; das ist für die EU nicht einmal annähernd der Fall. Zugleich hat sie bereits etliche bundesstaatliche Züge. Wenn man einem Schweizer oder einem Amerikaner erklären würde, welche Befugnisse Kommission und Gerichtshof haben, wie viele und wichtige gemeinsame Gesetze durchgeführt werden, würde der Schweizer oder der Amerikaner aufschreien: „Bei uns bedeutete so etwas das Ende unseres Föderalismus!“
Laut §17 des Vertrags von Amsterdam gibt es tatsächlich eine europäische Staatsbürgerschaft. Doch zurzeit steht es schlecht mit ihr, nicht nur wegen der Inhalte des neuen Verfassungsvertrags. So war das Deutsch-Französische Jugendwerk bereits eine echte transnationale Einrichtung. Doch seit 2005 ist es, gegen das Vermächtnis Adenauers und de Gaulles, nur noch eine zwischenstaatliche Institution, mit aller Macht für beide Verwaltungen. Notiz genommen wurde davon nicht, was nicht weiter erstaunt, da ganz andere Widersprüche ebenfalls ignoriert werden. So der Ausruf des französischen Präsidenten: „Es lebe zugleich die Europäische Gemeinschaft und die französische Souveränität!“ In Berlin und Brüssel fiel diese Ungereimtheit Sarkozys sogleich auf, in Frankreich jedoch nur einigen Kommentatoren. Zwei Seelen leben in der französischen Brust: Die eine begrüßt, wenn der Präsident eine Art europäische Wirtschaftsregierung fordert. Die andere zeigt Verständnis für seine Wirtschaftspolitik, die darin besteht, die gemeinsamen europäischen Regeln zu brechen und die Staatsverschuldung Frankreichs rapide wachsen zu lassen. Europa ist gut, doch unterwirft man sich seinen Entscheidungen nur zähneknirschend – wenn überhaupt!
Der Ruhm und die Größe der Nation und zugleich die Vision europäischer Einheit – darin liegt Frankreichs Widerspruch. Und Großbritannien? Das Wort Nation wird nicht ausgesprochen, dafür aber jede einende Entwicklung verneint und vor oder hinter den Kulissen bekämpft. Andere Staaten wiederum können kaum noch als Nationen auftreten. So Belgien, so vor allem Spanien, das sich immer mehr in autonome Regionen mit ethnischer Identität auflöst, die auch grenzüberschreitend gelten, wie etwa die spanisch-französische Baskenbewegung zeigt.
Sind die Europäer berechtigt, dieses Ethnische zu verurteilen, wo sie doch im ehemaligen Jugoslawien zukünftige oder bereits jetzige Mitgliedstaaten ermutigt haben, sich auf die ethnische Identität zu berufen, was manche „Säuberung“ mit sich gebracht hat und noch mitbringen wird? Das Ethnische reicht weit in die Vergangenheit. So wollen die baltischen Staaten einerseits völlig zu Recht beider fürchterlichen Unterdrückungen, der nazistischen und der stalinistischen, gedenken dürfen, auch wenn Putin das missfällt. Andererseits sollen die russischen Minderheiten auch nach Jahrzehnten keine echten Staatsbürger sein – im Namen der Vergangenheit, aber auch der ethnischen Identität. Wahrscheinlich haben die Väter der europäischen Verträge bereits vor 50 Jahren in Rom die Last der Geschichte unterschätzt. Vielleicht, weil das deutsch-französische Beispiel demonstrierte, was man im Zweifel überwinden kann. Vom deutsch-französischen Geschichtsbuchabkommen von 1953 bis zur gemeinsamen Sitzung beider Parlamente in Versailles im Januar 2003, einschließlich der Überwindung der Kränkung Frankreichs von 1871 und der Kränkung Deutschlands von 1919: wie viele symbolische, wie viele tatsächliche neue Gemeinsamkeiten!
In seiner Friedenspreisrede am 10. Oktober 2004 behauptete Peter Esterhazy: „Der Hass gegen Deutschland ist Europas Fundament der Nachkriegszeit.“ Genau das Gegenteil ist wahr. Die Gemeinschaft vor 1989 erlag eben nicht der Versuchung, um mit Martin Walser zu sprechen, eine Keule über dem Haupt der Bundesrepublik zu schwingen. Das taten die Deutschen schon selber, mit Entschädigungzahlungen, mit ergreifenden Reden wie der Helmut Kohls in Bergen-Belsen, mit Gesten wie dem Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghettodenkmal.
Nicht ohne Grund hatte man nach der Wende von 1990 annehmen können, auch Deutschland und Polen würden sich versöhnen, so wie es zwischen Deutschland und Frankreich geglückt war. Heute jedoch muss man feststellen, dass die so genannte „kollektive Erinnerung“ nicht etwas von allen Erlebtes, sondern etwas Übermitteltes ist, was die Menschen sich aneignen – und was durch die Regierungen, Medien und Schulbücher auch anders hätte übermittelt werden können. Die polnischen Zwillinge jedenfalls wollen ihr Volk erneut mit der Vergangenheit belasten und ein ewiges Deutschland als ewige Gefahr für Polen darstellen. Zugleich vergewaltigen sie die jüngste Vergangenheit, indem sie die Mutigen der Solidarnosc der Kollaboration mit der Jaruzelski-Herrschaft verdächtigen. Es ist wahr, dass die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder, die der sowjetischen Unterdrückung entronnen sind, hin- und hergerissen sind, ob und wie sie ein „Sühneopfer“ durchführen sollen: manche, weil zu viele jetzige Machthaber betroffen wären, andere, um nicht den Konflikt mit Russland heraufzubeschwören – einem Russland, das unter Putin keinerlei „Vergangenheitsbewältigung“ zulassen will. In unterschiedlicher Weise leiden die Neuen (Zypern und Malta ausgenommen) alle an ihrer Vergangenheit, was sich für die EU durch psychologische Belastungen und politische Empfindsamkeiten niederschlägt.
Wirtschaft und Werte
Und auf militärischem Gebiet? Dort nimmt die Verwirrung noch zu. Im ehemaligen Jugoslawien war und bleibt es schwer zu sagen, was im Namen von UN, NATO und EU geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Am Irak-Krieg sind Frankreich und Deutschland nicht beteiligt, aber die Zustände in Afghanistan ähneln immer mehr denen im Irak. Dort sind Frankreich und Deutschland dabei, mit vielen anderen Ländern. Der Unterschied ist, dass in Berlin Fragen gestellt werden, die das Parlament und auch das Bundesverfassungsgericht zu beantworten haben, während in Paris allein der Präsident entscheidet. Das Problem einer gemeinsamen Militärpolitik der EU bleibt so lange ungelöst, wie sich Großbritannien von den USA abhängig macht und Frankreich eine dauerhafte Sonderrolle beansprucht, die seine volle Solidarität untersagt: Der Einsatz von Atomwaffen als Kernelement der Abschreckung gilt nur dem nationalen Territorium, nicht dem Gebiet der EU. Die Beteiligung der 26 anderen Armeen an der Militärparade zum 14. Juli dieses Jahres besaß zwar eine hübsche Symbolkraft, änderte aber keinen Deut an der Begrenzung der französischen Solidarität. Unbegrenzt scheint hingegen die Möglichkeit des militärischen Engagements außerhalb der EU – französische Einheiten sind in weitaus mehr Ländern präsent als deutsche. Früher schickte man Truppen, um nationale Interessen zu schützen. Heute, um Demokratie zu verteidigen oder mehr oder weniger aufzuerlegen, um Menschen vor Hunger oder Vernichtung zu schützen, um Frieden zu sichern oder wieder herzustellen.
Beim Militärischen findet demnach ein Rückgriff auf Werte statt. In der Wirtschaft jedoch soll sich alles ums Materielle drehen. So sind besonders die Deutschen überzeugte Anhänger der These, der Begriff der Freiheit sei eindeutig und betreffe ebenso die Politik wie die Wirtschaft. Dabei vergessen Banker und Industrielle einschließlich der ihnen wohlgesonnenen Medien den 23. März 1933: An diesem Tag hatten alle Fraktionen, die sich auf die freie Marktwirtschaft beriefen, Hitler ermächtigt, sämtliche bürgerliche Freiheiten abzuschaffen. Nur die SPD stimmte gegen das Ermächtigungsgesetz – im Namen von Sozialismus und Freiheit. Eine echte Auseinandersetzung über politische und wirtschaftliche Freiheit hat in der EU bis heute nicht stattgefunden: Welche Rolle steht dem Staat zu? Wie weit darf er die „freie Wirtschaft“ kontrollieren und beschränken?
Jede Umverteilung stellt eine solche Begrenzung dar – doch wer ist schon gegen jegliches „soziale Netz“? Der Staat, das sind auch die Lehrer, die Krankenhausärzte, die Kontrolleure, die Polizisten. Ein Teil seiner Aufgaben wird längst im Namen europäischer Gesetze und Weisungen durchgeführt. Um zu wissen, wie weit die EU dort gehen darf und soll, brauchen wir neue Klarheit über die Begrenzung der Wirtschaftsfreiheit – im Namen des Schutzes der Schwächeren. Symptomatisch hierfür ist Europas Einwanderungspolitik, insbesondere gegenüber den Asylsuchenden. Die EU als Gemeinschaft der Abwehr an ihren Grenzen, unter Inkaufnahme vieler Toten auf versinkenden Schiffen: Soll dies das Fundament Europas nach außen sein? Diese Frage ist -ebenso wichtig wie die der möglichen Erweiterungen in Richtung Türkei, Ukraine oder der Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Es geht also um Menschen. Und es geht um Prinzipien, um Werte. Doch im Mittelpunkt steht die Religion – als kulturelle Überlieferung, als geistige Zugehörigkeit auch für ungläubige Europäer. Aber gehört das Dorf-, das Stadtbild auch zu dieser Überlieferung? Inwieweit würde das Minarett von Köln das Monopol nicht nur des Doms, sondern auch der romanischen Kirchen zerstören und die Stadt sich ihrer selbst entfremden lassen? Wichtiger ist vielleicht, dass die Innenminister in Frankreich und Deutschland einen deutschen, einen französischen Islam anstreben, mit von deutschem/französischem und nicht saudi-ara-bischem Geld gebauten Moscheen, mit deutsch/französisch sprechenden Imamen.
Die christlichen Konfessionen stehen vor einer Frage, die auf deutscher und französischer Seite anders beantwortet wird. Beide Kirchen in Deutschland und etliche Politiker tun so, als stammten Europas Werte allein aus dem Christentum. In seiner Regensburger Rede sprach Benedikt XVI so, als sei die katholische Kirche stets ein Modell der Toleranz gewesen – obwohl nach Jahrhunderten der Verfolgungen, Verketzerungen und Zwangsbekehrungen erst im Zweiten Vatikanischen Konzil das „Dekret über die Religionsfreiheit“ verkündet wurde.
Auf der anderen Seite geht es um Mitsprache. Die Kirchen wollen aus dem Glauben heraus und im Namen christlicher Werte auf die Gesellschaft und die Politik Einfluss nehmen. Vor dem französischen Referendum veröffentlichten der Präsident der Versammlung der orthodoxen Bischöfe, der Präsident der Fédération protestante de France und der Präsident der Konferenz der katholischen Bischöfe einen gemeinsamen Text zur Bejahung der Verfassung. Als Etappe beim Aufbau Europas, vor allem jedoch, weil die Grundrechtecharta den Staaten Verpflichtung sein soll und den Menschen in ihren Mittelpunkt stellt.
Aber sind es nicht dieselben Werte, auf die sich der atheistische Humanismus beruft? Darf nicht, soll nicht gesagt werden, dass es heute eine echte Wertegemeinsamkeit gibt, mit und ohne Gott? Es wäre nicht schwer, die gemeinsamen Werte aufzuzählen – von der Wahrheitssuche, der pluralistischen Demokratie und der Toleranz bis zum Verständnis für das Leiden des Anderen. Jenes Europa, das sich auf gemeinsame Grundwerte bezieht, reicht weiter als das der Union. Es ist die Gemeinschaft der Staaten, die im Europarat sitzen und von denen sich die meisten, zumindest in der Theorie, den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterwerfen. Die Charta und der Gerichtshof sind wohl das Einzige, was den Europarat überleben lässt, sodass es heute ein Hohn ist, dass Putins Russland die Präsidentschaft innehat. Wichtiger aber ist die Tatsache, dass Europa nur berechtigt ist, die Zustände in anderen Ländern zu kritisieren, wenn es sich selber vorbildlich verhält. Das Amerika des George W. Bush tritt in Guantánamo die trans-atlantischen Grundwerte mit den Füßen. Doch die harte Kritik wird durch komplizenhaftes Verhalten französischer wie deutscher Behörden geschwächt. Russland und China dürfen ungestört in Tschetschenien und in Tibet wüten. Umso mehr sollte sich die Union bemühen, bei der Verwirklichung jener Werte Vorbild zu sein, auf die sie sich beruft.
Deshalb ist das schlimmste Resultat des Berliner EU-Gipfels der Großbritannien gewährte Freibrief, die Grundrechtecharta ad acta zu legen. Der neue Vertrag wird damit nicht jenen wertvollen Text enthalten, der unter dem Vorsitz Roman Herzogs ausgearbeitet worden war. Das wird zwar nicht Europas Außenhandel beeinträchtigen, aber doch die eigentliche Substanz der Union.
Prof. Dr. ALFRED GROSSER, geb. 1925 in Frankfurt, ist Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Der Politikwissenschaftler lehrte bis zu seiner Emeritierung 1992 am Institut d’études politiques in Paris.
Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 111 - 115.