Verkalkuliert in Vilnius
Warum die EU ihre Östliche Partnerschaft jetzt neu aufstellen muss
Die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, eine Woche vor dem Gipfel in Vilnius das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterschreiben, hat die EU-Nachbarschaftspolitik in eine tiefe Krise gestürzt. Positiv formuliert, bietet sich jetzt die Chance eines Neuanfangs. Die EU sollte sie nutzen.
Es sollte das umfassendste Freihandelsabkommen werden, das die EU jemals mit einem Land verhandelt hat. Damit sollte ein Präzedenzfall für wirtschaftliche Integration und Angleichung von Standards für die gesamte Region geschaffen werden.
Die Weigerung der ukrainischen Führung, nach jahrelangen Verhandlungen das Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, verdeutlicht, wie wenig überzeugend die Angebote der EU für postsowjetische Eliten sind. Gleichzeitig zeigen die Massenproteste in der Ukraine, wie tief die Spaltung zwischen Gesellschaft und Elite ist. Die EU hat mit ihrer Fokussierung auf die Reformbereitschaft der Führung auf den falschen Modernisierungspartner gesetzt. Der ukrainische Präsident ist an der Erhaltung des Status quo interessiert, während sich die ukrainische Zivilgesellschaft mit einer Annäherung an die EU bessere Lebensbedingungen und einen politischen Wandel erhofft.
Präsident Janukowitsch hat die Verhandlungen mit der EU dafür genutzt, den Preis gegenüber Russland so hoch wie möglich zu treiben. Die Ukraine befindet sich in einer prekären ökonomischen Situation. Dem stellvertretenden Premierminister Serhij Arbusow zufolge droht dem Land die Zahlungsunfähigkeit, wenn es nicht baldmöglichst einen Kredit in der Größenordnung von zehn Milliarden Dollar erhält.
Unattraktive Angebote
Mit Blick auf die für 2015 anstehenden Präsidentschaftswahlen braucht der ukrainische Präsident neben Krediten vor allem eins: einen niedrigen Gaspreis. Beides kann ihm nur Moskau liefern – nicht Brüssel. Die langfristige Modernisierungs- und Demokratisierungspolitik der EU ist für die extrem kurzfristig denkenden ukrainischen Eliten eher unattraktiv.
Die Kosten für einen Umbau der ukrainischen Wirtschaft nach einer Unterschrift unter das Freihandelsabkommen erscheinen der ukrainischen Führung zu hoch – zumindest, solange es an einer Beitrittsperspektive und den damit verbundenen Transferzahlungen fehlt. Hier muss die EU entweder neue Angebote machen oder ihre Erwartungen herunterschrauben.
Es ist auch nicht klar, ob sich die Mitgliedstaaten der Konsequenzen eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der Ukraine bewusst waren. Das Land hat 2013 ein Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit von rund 8 Prozent eingefahren, die Devisenreserven sind von 32 Milliarden Dollar Anfang 2013 auf 18,8 Milliarden im Dezember des Jahres geschrumpft. Auch wenn die ukrainische Wirtschaft in Teilen modernisiert worden ist, so ist sie insgesamt von veralteten Industriestrukturen geprägt und kaum wettbewerbsfähig. Mit einer Öffnung der Märkte wären enorme Anpassungskosten angefallen und die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt. Damit wären innerhalb eines Jahres die Zustimmungsraten zu einer Integration mit der EU und zu Präsident Janukowitsch massiv gesunken.
Punktsieg für Russland
Für Russland hätte ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine einen Rückschlag für seine Integrationsprojekte im postsowjetischen Raum bedeutet. Die Zollunion mit Belarus und Kasachstan sowie die für 2015 geplante Eurasische Wirtschaftsunion werden nur politische Relevanz erhalten, wenn die Ukraine, als der zweitgrößte Staat des postsowjetischen Raumes, dazu gehört. Gleichzeitig ist die Ukraine ein wichtiger Abnehmer von russischem Gas und zentraler Wirtschaftspartner für die russische Luftfahrt-, Atom-, Militär- und Maschinenbauindustrie. Ein Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der EU hätte auch die russische Industrie erheblich getroffen und Russlands Position im postsowjetischen Raum geschwächt. Deshalb hat Moskau im August 2013 mit einer Handelsblockade deutlich gemacht, welche Konsequenzen eine Unterzeichnung für die Ukraine haben könnte.
Die EU hat sich verrechnet – sie hat die Attraktivität der eigenen Angebote überschätzt und die russischen Möglichkeiten, Druck auszuüben, unterschätzt. Dabei hat Brüssel mit seinen Forderungen nach Reformen und einer Freilassung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko viel zur Verzögerung des Unterzeichnungsprozesses beigetragen.
Mit ihrem Einsatz für Timoschenko, eine nicht gerade unproblematische Politikerin, hat man zudem viel Kredit bei der ukrainischen Bevölkerung verspielt, da Brüssel nicht erklären konnte, warum es gerade in diesem Fall von selektiver Justiz konsequent ist. Plötzlich befand sich die EU in einem geopolitischen Konflikt mit Russland, das im Gegensatz zu Brüssel eine eindeutige Interessenpolitik verfolgt und bereit ist, der ukrainischen Führung kurzfristige Angebote zu unterbreiten. Als sich zeigte, dass die ukrainische Führung nicht bereit war, Timoschenko freizulassen, waren die EU-Mitgliedstaaten zu immer mehr Zugeständnissen bereit und schwächten damit ihren normativen Ansatz.
Lehren aus Vilnius
Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich bewusst werden, was sie in ihrer östlichen Nachbarschaft erreichen wollen und dies mit dem in Einklang bringen, was in der Region möglich ist. Wenn die EU tatsächlich langfristig Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wettbewerbsfähige Wirtschaft schaffen will, dann ist das mit erheblichen Kosten und Geduld verbunden. Die Eliten in diesen Ländern haben kein Interesse an Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und freien Wahlen. Nicht die Eliten, sondern Bevölkerung und Zivilgesellschaft sind die natürlichen Modernisierungspartner für die EU.
Zentrale Bestandteile der EU-Strategie sollte die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Umsetzung von Reformprozessen sein. Rückschläge sind aufgrund der unterschiedlichen Ziele der EU und der postsowjetischen Eliten vorprogrammiert und sollten zu einer realistischeren Einschätzung der Entwicklungen in den Ländern der Östlichen Partnerschaft führen. Dies könnte künftig auch eine völlig übertriebene Gipfeldiplomatie wie in Vilnius verhindern, die nur Enttäuschungen bringen kann.
Die EU muss in ihrer Politik viel stärker den unterschiedlichen Interessen von Eliten und Gesellschaften in postsowjetischen Ländern Rechnung tragen. Auch das aktuelle Lieblingsland der östlichen Nachbarschaftspolitik, die Republik Moldau, kämpft noch immer mit einer korrupten Verwaltung und den ökonomischen Interessen seiner Eliten. Für Ende 2014, Anfang 2015 stehen dort Parlamentswahlen an, bei denen nach aktuellen Umfragen die kommunistische Partei gewinnen würde. Diese hat angekündigt, dass der Beitritt zur von Russland geführten Zollunion für sie Priorität besitzt. Nachhaltige Reformen bedeuten Einbindung der Gesellschaft, längerfristigeres Engagement und höhere Umsetzungskosten für die EU.
Schließlich sollte die EU bei ihrer Nachbarschaftspolitik endlich Russlands Bedeutung in der Region Rechnung tragen. Brüssel steht in einer Integrationskonkurrenz mit Moskau, die die EU und einige Mitgliedstaaten akzeptiert haben. Das darf aber nicht dazu führen, dass Brüssel seine normative Politik schwächt. Die Stärke der EU ist ihre Attraktivität gegenüber den Gesellschaften der Region, nicht gegenüber den Eliten. Gleichzeitig gilt es, Formate zu finden, um die Konkurrenz zu Russland abzumildern. Dies könnte in Wirtschaftsfragen im Rahmen internationaler Wirtschaftsinstitutionen (WTO) erfolgen oder im politischen Bereich durch die OSZE. Die EU darf Moskau kein Vetorecht für ihre Politik gegenüber den ÖP-Staaten einräumen, jedoch braucht es Formate, in denen man mit Russland unter Einbindung der Nachbarstaaten über gemeinsame Interessen spricht. Scharfe Rhetorik stärkt Putin nur und bleibt zahnlos, wenn keine Konsequenzen folgen.
Dr. Stefan Meister ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations in Berlin.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 80-82