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01. Nov. 2021

Verhexter Ansatz

Nach Afghanistan gilt es, Deutschlands Krisenpolitik zu verbessern: Dafür sollte der vernetzte Ansatz aus Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik überdacht und komplexen Realitäten angepasst werden.

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Bild: patrullierende Soldaten in Mali während ihrer Ausbildung im Rahmen der EUTM-Mission
Außer Tritt geraten: Vieles läuft in Mali trotz westlichen Engagements alles andere als rund. Hier eine Szene aus dem Ausbildungszentrum der EUTM.
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Afghanistan diente 20 Jahre lang unfreiwillig als Versuchslabor für die Politik der NATO-Staaten in Ländern, deren Sicherheitsprobleme zumindest teilweise auch unsere eigenen sind. Schonungsloser Kampf gegen den Terror nach 9/11, Aufstandsbekämpfung nach Wiedererstarken der Taliban, Staatsaufbau inklusive Ausbildung und Ausrüstung der lokalen Sicherheitskräfte und Milliarden für Frieden und Sicherheit am Hindukusch. Einige Militärdoktrinen sowie zivile und politische Instrumente wurden debattiert, entwickelt, erprobt und auf andere Länder wie Mali ausgeweitet.



Am 15. August 2021 schließlich fällt Kabul in die Hände der Taliban, das Auswärtige Amt schafft es nicht, die geregelte Evakuierung des eigenen Botschaftspersonals sicherzustellen – geschweige denn die der afghanischen Ortskräfte. Die wenigen überzeugenden Errungenschaften in Bereichen wie Bildung und politische Teilhabe in Afghanistan stehen vor dem Aus. Die großen Fragen lauten zu Recht: War alles umsonst? Und wie weiter in der ­Krisenpolitik?



Eine der wenigen guten Nachrichten: Analysiert wurden in Afghanistan gemachte Fehler schon lange. Die Idee des Staatsaufbaus von außen ist in fachlichen und endlich auch politischen Debatten überholt. Den besten Beweis dafür liefert die Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans, die einräumt, dass es kein Erfolgsmodell für Stabilisierung nach Konflikten gibt. Nach über 980 Milliarden Dollar und 70 000 gefallenen afghanischen und ausländischen Soldaten und Soldatinnen schreibt sie, es fehlte an der Implementierung einer kohärenten Strategie, an nachhaltigen Maßnahmen sowie Geduld und Verständnis für die lokalen Bedingungen in einem Einsatz, für den „Berater der Armeepolizei sich amerikanische Fernsehsendungen ansahen, um etwas über Polizeiarbeit zu lernen, massenhaft Teams für zivile Angelegenheiten durch PowerPoint-Präsentationen gebildet wurden und jede Be­hörde eine jährliche Lobotomie erlebte, da das Personal ständig wechselte, die Nachfolger bei Null anfingen und die gleichen Fehler immer wieder begangen wurden“.



In der deutschen Debatte wäre ein solcher Satz von offizieller Stelle ein Paukenschlag, denn mit Fehlerkultur und transparenter öffentlicher Aufarbeitung ist es nicht weit her – wie der Umgang mit dem Afghanistan-Abzug zeigt. Die politischen Parteien forderten eine Evaluierung des Beitrags zur NATO-Mission vorzugsweise von der Oppositionsbank. Eine ressort­übergreifende Evaluierung des zivilen Engagements steht bevor. Für die militärische Seite hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Bilanzierung angekündigt. Wobei es noch einiges an politischem Gezerre um ein Zusammenführen der Lehren und die Rolle des Bundestags ge­ben dürfte. Der vermasselte Abzug verleiht der Sache eine zusätzliche politische Brisanz, die einer nüchternen Aufarbei­tung selten gut tut.



Die Fallstricke des Staatsaufbaus

Während die große Evaluation aussteht, hat die Bundesregierung ihr Engagement in den vergangenen 15 Jahren durchaus weiterentwickelt. Ein Ergebnis davon ist der vernetzte Ansatz aus diplomatischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen Mitteln, der besser koordiniert und umfassend Frieden und Sicherheit schaffen soll. Deutschland war einer der größten Befürworter, neben militärischem Einsatz einen stärkeren Schutz der Zivilbevölkerung, Hilfe für rechtsstaatliche Strukturen und Reformen des Sicherheitssektors zu fordern – also nach militärischer Invasion und Regimesturz auch Staatsaufbau zu betreiben und mit zivilen Mitteln Gutes zu tun.



Dass dieses Vorhaben in Afghanistan nicht funktionierte, lag einerseits da­ran, dass die USA für schnelle Erfolge im „Kampf gegen den Terror“ zum Staat parallele Macht-, Finanz- und Gewaltstrukturen förderten. Diese unterminierten die höchstens sekundären Ziele von Aufbau und Frieden vor Ort. So zahlte die US-­Regierung wesentlich höhere Summen Geldes an Anführer lokaler bewaffneter Gruppen und alle anderen, die zur Zusammenarbeit gegen Al Kaida und die Taliban bereit waren, als jemals für einen verantwortlich organisierten Staatsaufbau zur Verfügung standen.



Aber auch abgesehen davon zeigen Evaluierungsstudien, dass Entwicklungshilfe während aktivem Kriegsgeschehen kaum half und die Unsicherheit sogar noch verstärkte. Für den Erfolg von Stabilisierungsprogrammen in Regionen ohne Regierungskontrolle und funktionierende Teilhabe der Bevölkerung gibt es ebenfalls kaum Belege. Die Gefahr: mehr Aktivismus als verantwortliche Politik.



Das Problem am vernetzten Ansatz: Vieles gleichzeitig und überlegter anzugehen, ist noch keine koordinierte Vernetzung – und selbst bessere Vernetzung ist keine überzeugende außenpolitische Strategie. Sie löst nicht die eigentlichen Zielkonflikte vernetzter Einsätze zwischen Verteidigung, Entwicklung, humanitärer Nothilfe und Diplomatie – und den entsprechenden Ressorts. Es fehlen Mechanismen und Anreize, um Lehren zentral zusammenzuführen, um kohärente Strategien mit komplementären Maßnahmen zu entwickeln und diese regelmäßig anzupassen. In anderen Worten: dafür zu sorgen, dass der vernetzte Ansatz nicht nur wie eine Fassade vor einem laufenden Kriegseinsatz und eine Maßnahme zur ­Beruhigung des Gewissens scheint, während jedes Ressort in seiner Binnen­logik und im Zweifel in gegengesetzte Richtungen arbeitet.



Für dringende Fragen braucht es genau diese Zusammenarbeit. So hat man zwar gelernt, dass „mit Terroristen verhandeln“ für nachhaltigen Frieden notwendig sein kann – besonders wenn die lokale Bevölkerung dies für notwendig hält. In Af­ghanistan hätten die NATO-Partner nach der Schwächung der Taliban in den 2000er Jahren aus einer weitaus stärkeren Position verhandeln können als zu Zeiten des Trump-Deals, als die afghanische Regierung in weiten Landesteilen unbeliebt war und Washington unbedingt abziehen wollte. Diese Einsicht beantwortet jedoch nicht, wieviel Hilfe jetzt gegenüber dem Taliban-Regime angemessen ist, das man nicht legitimieren will; aber den Zusammenbruch aller Versorgungssysteme im Land möchte man auch vermeiden.



Eine Strategie für vernetztes Engagement müsste die Frage beantworten, wie man in Staaten, deren Sicherheitskräfte man mit aufbaut, Finanzflüsse an staatlichen Strukturen vorbei vermeiden und eine wirtschaftliche Grundlage für funktionierende Regierungssysteme sicherstellen will. Zu den großen Rätseln in Afghanistan gehörte, wie ein von Hilfsgeldern abhängiges System, in dem internationale Zahlungen das Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches übersteigen und dennoch zu selten bei den Bedürftigsten ankommen, langfristig bestehen soll (dabei dürfte spätestens seit dem Abzug nachvollziehbar sein, warum von den Taliban bedrohte Eliten alles versuchten, um Geld anzuhäufen). Armut, fehlende grundlegende Versorgungsleistungen und Gewalt zwischen Gruppen mit unterschiedlichen ausländischen Unterstützern ist ein Teufelskreis. Internationale Finanzinstitutionen und einige deutsche Parteien argumentieren inzwischen immerhin, dass der Kampf gegen globale Steuerflucht und Organisierte Kriminalität dabei helfen könnte, immer teurere Maßnahmen gegen klimabedingte Konflikte zu finanzieren.



Lokales Wissen statt Generalisierung

Hinzu kommt ein grundlegenderes Problem: Es fehlt oft an Wissen darüber, welche Maßnahmen wo funktionieren. Ein „Mainstreaming“ von Frieden im Sinne der UN-Friedensagenda erweckt leicht den Eindruck, dass jegliche Hilfe irgendwie zu Frieden beitragen kann. Mit Sicherheit ist ein besseres Verständnis lokaler Gegebenheiten nötig. Nicht nur in Bezug auf historisch-kulturelles Wissen, sondern auch über aktuelle Machtdynamiken und den Einfluss internationalen Engagements auf diese – wenn beispielsweise Projekte, die Konflikte eindämmen sollen, eher bewaffnete Gruppen finanzieren und Gewalt befeuern. Dabei können selbst jahrelange Studien höchstens erforschen, unter welchen Bedingungen und in welchen afghanischen Provinzen beispielsweise die Organisation bewaffneter Milizen zum Kampf gegen die Taliban unter den Bedingungen der 2010er Jahre kurzfristig mehr Probleme gelöst als sie geschaffen hat. Und was bedeutet das für Mali? Das lässt sich ohne ähnlich tiefgreifende Forschung in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten vor Ort nicht beantworten; und selbst damit nur sehr begrenzt.



In Fachdebatten besteht die Tendenz, grob vereinfachte sozialwissenschaftliche Theorien und Modelle wie physikalische Gesetze zu behandeln. Doch das liefert keine Erklärungen für komplexe soziale Phänomene wie Staatsaufbau oder Konfliktausbruch. Wer empirische Politikwissenschaft betreibt, weiß: Bei kaum einem Forschungsvorhaben in Konfliktgebieten lassen sich einzelne Faktoren sauber isolieren, und selten gibt es eine ausreichende Anzahl an Beobachtungen, um aus der Ferne generalisierbare Schlüsse zu ziehen. Wenn jedoch Erkenntnisse für politisches Handeln greifbar gemacht werden sollen, tun allzu viele doch so als ob.



Zumutung Komplexität

Zugegeben, die Komplexität rund um funktionierendes Regieren in Konfliktregionen grenzt zuweilen an eine Zumutung. Doch das entspricht der Realität besser als die Hybris der NATO-Staaten in Afghanistan. Nicht umsonst zieht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem jüngsten Bericht zu Fragilität und Konflikten den Schluss: Es braucht einen systemischen Ansatz, um von Fragilität als Konfliktrisiko zu langfristiger Resilienz sozialer Systeme als Grundlage für Frieden zu gelangen.



Dieser Ansatz ruft dazu auf, lineare Modelle hinter sich zu lassen. Soziale Systeme sind komplex, verändern sich schnell und unvorhersehbar und scheitern zuweilen dennoch daran, sich Herausforderungen wie Klimawandel oder neuen Großmachtkonflikten anzupassen. Was bleibt, ist demnach in Rückgriff auf Forscher wie den südafrikanischen Politikwissenschaftler Cedric de Coning, „sich auf eine Kombination aus besten Schätzungen, schnellem Feedback und Anpassung“ und die Selbst­organisation lokal gewachsener sozialer Systeme zu verlassen – anstatt auf der Grundlage vereinfachter Logiken mit unabsehbaren Folgen einzugreifen. Laut OECD bedeutet das, Interventionen so zu planen, dass sie ständige Überprüfung und Nachjustierung brauchen. Nur so lassen sich Systeme im Kontext von Fragilität und Krisen besser Richtung Resilienz für Sicherheit und Frieden steuern.



Dieses „Schau’n wir mal, dann seh’n wir schon“ mag gefährlich nach dem blauäugigen Engagement voller Widersprüche und offener Fragen in Afghanistan klingen – aber nur, solange sich die Anpassungen mehr nach der politischen Eigenlogik von Geberstaaten und vagen Trends richten als nach detailliertem Monitoring und regelmäßigen Analysen als Grundlage für koordinierte Anpassungen.



Was also tun, wenn beim nächsten Mal die in der deutschen Debatte beliebten Forderungen nach vernetzten Friedens­einsätzen und wasserdichten Strategien auf Regionen treffen, die die wenigsten Politikerinnen, Diplomatinnen, Entwicklungshelfer und Generäle aus eigener Erfahrung kennen?



Eine angemessene Schlussfolgerung wäre, dass Akteure wie Deutschland in fernen Krisengebieten nur noch so viel für Frieden, Sicherheit und Entwicklung tun, wie sie gezielt und verantwortungsbewusst nachverfolgen und evaluieren können. Diese Forderung erhebt die Denkfabrik Overseas Development Institute in einem Bericht zur Aufbauhilfe Afghanistan von 2020. Auch laut der US-Aufsichtsbehörde für den Wiederaufbau krankte der Einsatz in Afghanistan an fehlender Überwachung von Ausgaben durch qualifiziertes Personal und anhand klarer Strategien. Diese Kritik kann man von einer Behörde, deren Daseinsberechtigung die Aufsichts- und Rechenschaftspflicht ist, erwarten; vor allem ist sie angemessen angesichts des Ausmaßes eingesetzer Ressourcen und verlorener Leben.



Trotz aller Verweise auf Großmachtkonflikte im Indo-Pazifik und hochtechnologisierte Kriege sieht die US-Behörde den Bedarf für bessere Ansätze in fragilen Kontexten, denn von dort würden weiterhin Bedrohungen auf NATO-Partner zukommen. Dies wird deutlich im Bundeswehr­einsatz an der Seite des französischen Anti-Terror-Kampfes in der Sahelzone, in dem der vernetzte Ansatz einer ähnlichen Logik folgt wie in Afghanistan: Und auch dort verschlechtert sich die Sicherheitslage in den vergangenen Monaten stetig.



Ob ein zurückhaltenderer Ansatz Deutschland und seinen Verbündeten nach einem Angriff in Dimensionen wie dem 11. September 2001 gelingen würde, ist fraglich. Gegen Zurückhaltung spricht auch das Argument, dass wir als mäch­tige NATO-Partner und EU-Staaten genauso verantwortlich für das sind, was wir tun, wie für das, was wir im Ernstfall unterlassen. Wir sollten also unbedingt schnell eingreifen, um Menschen vor Gewalt und Terror zu schützen. Dies muss besser vernetzt mit dem Anspruch geschehen, nachhaltige Regierungssysteme aufzubauen, anstatt Gewalt nur mit Gewaltmitteln zu beantworten. Selbst wenn wir die Gegebenheiten vor Ort nicht gut kennen und auch nicht recht wissen, wohin die Reise gehen soll. Die Frage ist nur, ob wir dies verantwortlich und nach bestem Wissen und Gewissen tun können – angesichts der geringen Kontrolle über die Auswirkungen von Stabilisierungs-, Präventions- und Entwicklungsmaßnahmen.



Viel hilft nicht viel

Zurückhaltung würde bedeuten: Etwas von dem zu tun, was sich andernorts bewährt hat und Erfolg verspricht. Bei guten Ergebnissen: mehr davon, aber nur so lange, wie es keine gegenteiligen Ergebnisse gibt. Neues wohldosiert und in Absprache mit der Lokalbevölkerung ausprobieren und erst dann ausweiten, wenn klar ist, welche Auswirkungen es hat.



Dieses Vorgehen kann in jedem neuen Kontext Jahre dauern. Es fordert mehr Geduld und Investition in das Verstehen komplexer Zusammenhänge sowie die Koordinierung und Zusammenführung operativer Erfahrungen zwischen Ressorts und Partnern. Denn wenn Afghanistan einen Glaubenssatz definitiv widerlegt hat, dann ist es dieser: „Viel hilft viel“.    



Sarah Bressan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global Public Policy Institute (GPPi) ​​in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 34-38

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