Gegen den Strich: Zukunftsforschung und Sicherheitspolitik
„Vorhersagen sind schwierig – vor allem, wenn es um die Zukunft geht“, schrieb einst der dänische Physiker Niels Bohr. Kassandra hat es, so der Mythos, mit präzisen Prognosen versucht und wurde ebenso ignoriert wie Deutschlands osteuropäische Nachbarn vor Russlands Vollinvasion der Ukraine. Was kann die Zukunftsforschung zu einer besseren Sicherheitspolitik beitragen? Sechs Thesen auf dem Prüfstand.
„Zukunftsforschung ist nicht viel mehr als pseudointellektuelle Kaffeesatzleserei“
Doch – sofern sie ernsthaft betrieben wird. Wie die Politikwissenschaft, so basiert auch die seriöse Zukunftsforschung auf Methoden unterschiedlicher Disziplinen, der Psychologie, der Geschichte, der Mathematik oder der Soziologie. Es gibt universitäre Studiengänge für Zukunftsforschung; multinationale Unternehmen wie Shell leisten sich ebenso wie die Vereinten Nationen Zukunftsforschungsteams.
Hinzu kommt, dass die Zukunftsforschung viel stärker anwendungsorientiert, also auf einen praktischen Mehrwert für die Gesellschaft ausgelegt ist als die meisten anderen Wissenschaftsdisziplinen.
Laut einer Befragung des Nürnberg Instituts für Marktentscheidungen aus dem Jahr 2020 beschäftigen sich 90 Prozent der größten europäischen und US-amerikanischen Unternehmen mit strategischer Vorausschau. In einem guten Drittel der Fälle verfügen sie sogar über eigene Abteilungen für strategische Vorausschau. Für die NATO, Verteidigungsministerien und Rüstungsunternehmen, die heute die Technik für die nächsten 20 oder gar 50 Jahre entwickeln, in Auftrag geben und produzieren, ist Zukunftsforschung essenziell.
Da geht es etwa darum, auf der Basis von Klimamodellen die Frage zu beantworten, bei welchen Temperaturen ein Helikopter an der NATO-Südflanke im Jahr 2060 fliegen können muss – oder ob er durch ein ganz anderes Gerät ersetzt werden sollte.
Wo man es sich nicht leisten kann, relevante Entwicklungen und Trends zu verschlafen, wird die Zukunft seriös, professionell und strukturiert erforscht – um Fehleinschätzungen zu vermeiden und zukunftsfähig zu planen.
„Es wäre besser, wenn sich Gesellschaft und Politik entspannt auf die mit der Zukunft verbundene Ungewissheit einstellten“
Nein, das wäre fatal. Individuell denken nur wenige Menschen bewusst darüber nach, wie unsere Welt im Jahr 2060 aussieht. Und wenn wir es tun, dann legt das menschliche Gehirn mit seinen seit der Steinzeit evolutionär eingeübten Denkpfaden dem Denken über die Zukunft zahlreiche Steine in den Weg.
So führen kognitive Verzerrungen dazu, dass wir gerade persönlich Erlebtes auch in Zukunft für sehr wahrscheinlich halten. Ereignisse, die geografisch weit entfernt stattfinden – wie die Ebola-Epidemie in Westafrika einige Jahre vor der Corona-Pandemie – führen dagegen nicht dazu, dass wir einen Handlungsdruck verspüren und uns adäquat auf eine vergleichbare Situation vorbereiten.
Das Ausmaß an Veränderung wird vom Menschen systematisch unterschätzt. Die künftige Entwicklung von Gesamtgesellschaft und globaler Lage bewerten wir tendenziell überdurchschnittlich schlecht, während wir unserer eigenen nahen Zukunft oft mit überdurchschnittlichem Optimismus begegnen. Letzteres ist evolutionär sinnvoll und hilfreich, um morgens halbwegs motiviert aus dem Bett zu kommen. Was gesellschaftliche Entwicklungen angeht, sollten wir deswegen aber nicht in Endzeitstimmung verfallen, sondern uns mögliche positive Entwicklungen öfter bildlich vorstellen – das kalibriert unsere Wahrnehmung auf Möglichkeiten statt auf Defätismus.
Für politische Entscheidungen sind diese „Bauchgefühle“ jedenfalls kein guter Leitfaden. Das gilt umso mehr, als in Gruppenkontexten zusätzlich zu den kognitiven noch soziale und institutionelle Verzerrungen hinzukommen, die dazu führen, dass wir ungern den Konflikt mit dem besten Parteifreund oder der Vorgesetzten suchen. Denn ein verlässliches soziales Netzwerk war in der Steinzeit genauso wichtig für das eigene Überleben, wie es das heute für den beruflichen Erfolg ist.
All das hat zuletzt gravierende Fehlentscheidungen und mangelnde Prävention in der Sicherheitspolitik in Deutschland begünstigt. Unsere politische Führung war in den vergangenen Jahrzehnten Weltmeister darin, mit ihrer verzerrten Wahrnehmung selbst die besten Analysen zu übergehen.
Wer beispielsweise als Kanzlerin oder Außenminister seine Annahmen über Wladimir Putins Absichten für die europäische Sicherheitsordnung nicht auf Basis neuer Informationen hinterfragt und bereit ist, Fehler einzugestehen, sondern stattdessen im Wohlfühlbereich des persönlichen Wunschdenkens und der Parteilinie bleibt, der betreibt keine verantwortliche Sicherheitspolitik.
„Die ganze Zukunftsforschung beruht auf der Extrapolation von Trends“
Ganz im Gegenteil. In der Zukunftsforschung als wissenschaftlicher Analyse von Zukunftsbildern spricht man selten von „der Zukunft“, sondern vielmehr von Zukünften. Zeitreihen-Daten wie etwa die Größe der Weltbevölkerung in die Zukunft fortzuschreiben, ist die banalste Form, über das, was kommt, nachzudenken.
Bis vor zehn Jahren enthielten wissenschaftliche Aufsätze und deutsche Schulbücher eine Kurve zur Entwicklung der Weltbevölkerung, laut der exponentielles Wachstum und Überbevölkerung unaufhaltbar schienen. Heute weiß man, dass sich dahinterliegende Annahmen wie Geburtenraten und Lebenserwartungen verändert haben; entsprechend wurden die Modelle angepasst.
Entsprechende Prognosen gehen von einer globalen Trendumkehr zu einer schrumpfenden Weltbevölkerung ab spätestens dem Jahr 2100 aus – so wie das in Europa schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall ist.
Wer sich jetzt denkt: „Das war doch schon lange klar“, hatte entweder schon immer eine gesunde Portion Skepsis gegenüber deterministischen Vorhersagen – oder ist der verbreiteten Verzerrung zum Opfer gefallen, im Nachhinein ganz simple Erklärungen zu finden und zu denken, wir hätten es kommen sehen. Einer Online-Plattform für Vorhersagewettbewerbe beizutreten oder Tagebuch über die eigenen Zukunftsannahmen zu führen, kann da heilsam sein – und sollte für die Mitarbeiterinnen geopolitischer Analyseeinheiten Pflicht sein.
Eine große Anzahl von Faktoren und expliziten Annahmen über ihre Zusammenhänge systematisch zusammenzudenken und Zukunftsbilder kritisch zu hinterfragen, ist Aufgabe der Zukunftsforschung. Das ist wichtig, da entsprechende Prognosen unterschiedlicher möglicher Zukünfte die Politik in allen Bereichen beeinflussen. Die Frage nach dem Bevölkerungswachstum etwa hat viel damit zu tun, wie viele Fachkräfte in Deutschland oder Europa zukünftig fehlen oder wie viele Lehrkräfte an Schulen und Universitäten gebraucht werden – bis hin zur Frage, wie viel Personal im Ernstfall dem Militär zur Verfügung stehen kann.
Selbst wenn sich die Zukunft nicht präzise vorhersagen lässt, so ist es doch wichtig, wünschbare und wahrscheinliche Zukünfte klar voneinander zu trennen und den Raum der als möglich gedachten Zukünfte zu erweitern, um auf Eventualitäten vorbereitet zu sein und all diese Zukünfte systematisch für strategische Planung einzusetzen.
Wer Vorausschau als reine Fortschreibung von Trends betreibt, verfällt zudem leicht in Fatalismus und wird zum passiven Empfänger der Zukünfte Anderer. Das, was die Zukunftsforscherin Florence Gaub mit dem Bild des „offensiv Spielen“ im Fußball beschreibt – das Ausloten des eigenen Gestaltungsspielraums und Erdenken möglicher Zukünfte, an denen sich als Verein, Gesellschaft oder Organisation gemeinsam arbeiten lässt: Das muss Teil angewandter Vorausschau sein.
„Die sogenannten ‚Megatrends‘ sind durch die Analysen öffentlicher Forschungsinstitutionen längst bekannt und stehen allen zur Verfügung“
Ja, aber. Zahlreiche Organisationen veröffentlichen Berichte über solche Trends und künftige Entwicklungen. Diese sind hilfreich für einen groben Überblick, aber nicht genug, um die eigene Organisation zukunftsfähig zu machen. Öffentliche Berichte wie der Global Trends Report des US-Direktors der nationalen Nachrichtendienste müssen als das gesehen werden, was sie sind – öffentliche Kommunikationsinstrumente, die strategisch eingesetzt werden. Ihre besten „Zukünfte“ zu Quantentechnologie oder Kryptowährungen behält die Regierung natürlich für sich.
Zum anderen können sich Trends umkehren. Die Gefahr, gängige Meinungen einfach zu akzeptieren, weil sie von vielen Multiplikatoren wiederholt werden, ist groß. Was plausibel klingt und den eigenen Annahmen entspricht, wird gerne aufgenommen, und alles andere wird als unrealistisch abgetan.
Wer aber jemals an einem professionellen Szenarien-Workshop teilgenommen hat, kann bestätigen, dass mögliche Zukünfte allein durch das bildliche Ausformulieren der Details auf einmal viel plausibler erscheinen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man sie ernst nimmt. Aktive, angewandte Vorausschau ist keine Magie, aber sie fühlt sich manchmal so an, denn mit ihrer Hilfe lassen sich die Fehlschlüsse im Denken austricksen.
Eine Vielzahl unterschiedlicher Vorausschaumethoden erfüllt dabei unterschiedliche Ziele – von der Vorhersage bis hin zur Planung für fundamentale Unsicherheit, denn alle Optionen werden sich nicht vorhersagen oder erdenken lassen. All das lässt sich nicht durch die Lektüre der Zusammenfassung eines Megatrend-Reports ersetzen. Passgenaue Zukunftsmethoden für den jeweiligen Zweck zu finden, ist ebenfalls Aufgabe angewandter Zukunftsforschung.
Wirklich innovatives Denken über die Zukunft hat es schwer – aber es lohnt sich. 1992 hat der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson in seinem Roman „Snow Crash“ zum ersten Mal das Metaverse beschrieben – und seine Beschreibung ähnelt dem tatsächlich entwickelten Metaverse des Unternehmens Meta stark.
Hat Stephenson aufgrund seiner tiefen Kenntnis von technologischen Entwicklungen das Metaverse vorhergesagt? Oder hat er es in seinem Roman erdacht und dafür gesorgt, dass die virtuellen Interaktionen der gesamten Weltbevölkerung bald seiner Vorstellung entsprechen? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen; und genau deshalb engagieren Organisationen wie das französische Verteidigungsministerium Science-Fiction-Autoren, um die Zukunft aktiv mitzugestalten, bevor es andere in ihrem Interesse allein tun.
Wer die Möglichkeit bekommt, die Zukunft zu erdenken, ist ultimativ auch eine politische Frage, denn Zukunftsbilder prägen unser Gestalten und Handeln. In der kritischen Zukunftsforschung beschreiben Forscherinnen wie Pupul Bisht das Bevölkern der Zukunft mit den eigenen Ideen durch Personen in Machtpositionen und das gleichzeitige Unterdrücken alternativer Zukünfte als „Kolonialisierung“ der Zukunft. Organisationen wie SUPERRR in Berlin helfen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf Basis solcher Ansätze dabei, alternative Zukünfte zu Themen wie Künstlicher Intelligenz zu gestalten.
„In Zeiten von ChatGPT übernehmen immer bessere Algorithmen die Aufgabe der präzisen Vorhersage“
Ja, allerdings in Grenzen. Vorhersagemodelle sind auf Basis großer Datenmengen und Algorithmen dazu in der Lage, Eintrittswahrscheinlichkeiten für bestimmte Phänomene zu berechnen. ChatGPT etwa trifft Vorhersagen für die am wahrscheinlichsten richtige Antwort auf eine Frage auf der Basis von Sprachlernmodellen.
Ein ähnliches Prinzip wird in der Politikwissenschaft angewandt, um beispielsweise Nachrichten aus Tageszeitungen auszuwerten und damit die Wahrscheinlichkeit für Krieg und Konflikteskalation in Ländern zu berechnen. Regierungen und internationale Organisationen investieren in diese Forschung, um bestmöglich informiert zu sein. Lagebilder und Zukunftsanalysen so zu ergänzen und an den neuesten Entwicklungen dranzubleiben, ist wichtig – zumal sich auch Technologiekonzerne und autoritäre Staaten all das zunutze machen. Die Kompetenzen, algorithmische Vorhersageergebnisse richtig einzuordnen und zu verwenden, sind in den relevanten sicherheitspolitischen Strukturen rar und sollten weiter ausgebaut werden.
Das Ganze hat aber Grenzen. Je nach Methode lässt sich etwa aus dem „Black Box“-Algorithmus nicht herauslesen, welche Informationen oder Annahmen zu einem Vorhersageergebnis führen. Das macht es schwierig, an den richtigen Stellen anzusetzen, um unerwünschte Entwicklungen zu verhindern. Je weiter in die Zukunft eine Vorhersage getroffen werden soll, desto unzuverlässiger sind datenbasierte Vorhersagemodelle – denn je weniger der Vorhersagezeitpunkt dem Heute ähnelt, desto ungenauer sind die Vorhersagen. Zu viele Annahmen und Interaktionseffekte stimmen dann im Zweifel nicht mehr.
Besser eignen sich aufwändige Simulationen, bei denen die Annahmen über veränderte Bedingungen wiederum mit anderen Zukunftsmethoden entwickelt werden müssen. Und menschliche Expertise ist auch weiterhin vonnöten, um Ergebnisse einzuordnen und Schlüsse für Handlungsoptionen zu ziehen. Die Modelle sind zudem auf eine verlässliche Datenbasis angewiesen und auf einen begrenzten Phänomenbereich optimiert. Wenn plötzlich nicht mehr Bürgerkriege in der südlichen Nachbarschaft Europas die größte Gefahr sind, sondern ein Großmachtkonflikt, dann hilft das Modell kaum. Der richtige Methodenmix ist gefragt.
„Sehr seltene, aber höchst relevante Ereignisse wie der Mauerfall, der 11. September oder der Arabische Frühling lassen sich auch mit Zukunftsforschung nicht vorhersagen“
Das stimmt nur teilweise. Natürlich, der genaue Umstand und Zeitpunkt der genannten Ereignisse lassen sich kaum verlässlich vorhersagen. Wie der Fall der Berliner Mauer folgen auch andere Großereignisse aus einer Kaskade an Entwicklungen, die auf unterschiedlichen Faktoren beruhen. Drei zentrale Fragen können dennoch helfen, vorbereitet zu sein.
Erstens: Wie können die richtigen Signale beobachtet werden, um Kipp-Punkte für Trendwenden und Großereignisse abschätzen zu können? Die wirtschaftliche Situation und das Level der Repression in der DDR vor dem Mauerfall gehören genauso dazu wie die in Ägypten und Syrien vor den Massenprotesten.
Dabei ist auch wichtig zu hinterfragen, welchen Informationen Gehör geschenkt wird. Auf Basis von Regionalexpertise gab es sowohl zu Ägypten als auch zur russischen Vollinvasion der Ukraine entsprechende Warnungen, die nicht ernst genug genommen wurden. Selbst wenn Szenarien entwickelt werden, sitzen alternative Blickwinkel und relevante Expertise oft nicht mit am Tisch.
Hinzu kommt, dass es mit der Analyse der Eintrittswahrscheinlichkeit von Ereignissen nicht getan ist. Wirklich interessant wird es, wenn es um die richtige Einschätzung von Folgereaktionen und Auswirkungen geht – wie die jeweiligen Erfolgsaussichten der afghanischen und der ukrainischen Armee stehen, die Taliban oder die russischen Streitkräfte auf ihrem Weg nach Kabul oder Kyjiw aufzuhalten und auf Basis welcher Faktoren.
Zweitens: Welche Verzerrungen fördert ein bestehendes System und wie kann dem – auch entscheidungsseitig – entgegengewirkt werden? Mangelnde Vorstellungskraft, eine Präferenz für Informationen, die der eigenen Meinung entsprechen sowie blinde Flecken sind bekannte Analyseprobleme. Nachrichtendienste arbeiten deshalb mit strukturierten Analysetechniken, die auch in der strategischen Vorausschau eingesetzt werden.
Drittens: Gibt es auch für die Entscheidungsebene Anreize, auf Basis von Warnungen zu handeln und aus Fehlern zu lernen? Beim genaueren Hinsehen gab es für alle großen Überraschungen in der Sicherheitspolitik Hinweise, die nicht an der richtigen Stelle zur nötigen Handlung geführt haben. Im Fall von terroristischen Attacken wie 9/11 oder dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz sind wichtige Informationen in einem fragmentierten Geheimdienstsystem nicht zusammengelaufen.
Im Abstrakten wollen alle Prävention, aber die Einleitung konkreter Schritte wird nicht ausreichend belohnt – und dem Ausbleiben von Vorbereitungen folgen keine ausreichenden Konsequenzen, etwa durch Untersuchungsausschüsse und Kommissionen zur Aufarbeitung in Parlamenten.
In der inneren Sicherheit und bei der Terrorismusabwehr sind die Gefahren für die eigene Bevölkerung groß genug, um, wenn auch schleppend, Reformen einzuleiten. Wenn es dagegen – wie im Fall des hastigen Abzugs aus Afghanistan – um Konsequenzen für Menschen in anderen Weltregionen geht, lässt man sich in Deutschland mit der Aufarbeitung mehr Zeit als alle anderen Partner und zieht nur zögerlich Konsequenzen.
Die angewandte Forschung zu Vorausschau und Entscheidungsprozessen hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Analysen immer besser geworden sind. Aber für die Entscheidungsfindung bleibt zu viel Spielraum und zu wenig Konsequenz. Das ist die gravierendste Herausforderung in der deutschen Sicherheitspolitik, weshalb es Reformen in den sicherheitspolitischen Entscheidungsstrukturen braucht.
Anstatt politisch gefärbter Hausmeinungen einzelner Ministerien – wie Gerhard Conrad vom Gesprächskreis Nachrichtendienste e.V. es nennt – sind aktengesättigte, integrierte Lagebilder gefragt. Strategische Vorausschau und strukturierte Zukunftsanalyse müssen nach dem Vorbild von Ländern wie Finnland, Kanada, den USA oder Singapur Teil politischer Planung und Kern integrierter Analyseeinheiten sein. Wenn die sicherheitspolitische Zukunftsforschung auch hier weiterhelfen soll, braucht sie den Zugang zu und Austausch mit der Schnittstelle von Analyse und Entscheidungsfindung.
Die Forscherinnen und Forscher um Christoph Meyer am King’s College London haben durch die Analyse von Warnprozessen zu Kriegen herausgefunden, wie sich der Kassandra-Effekt minimieren lässt, um gehört zu werden. Es bedarf nicht nur eines Vertrauensverhältnisses zur Entscheidungsebene, sondern auch der Benennung konkreter Handlungsoptionen. Vorgesetzte wiederum müssen über Hierarchieebenen hinweg kritischen Widerspruch einfordern und belohnen, anstatt abweichende Meinungen abzustrafen.
Unsere Forschung zu Erfahrungen mit strategischer Vorausschau zeigt, dass sich Vorausschau an den Bedarfen von Entscheidungsträgern orientieren und in bestehende politische Entscheidungsprozesse fest eingebunden werden muss. Aber gleichzeitig braucht sie genügend Unabhängigkeit, um ihre Aufgabe als „kritischer Freund“ und Korrektiv wahrnehmen zu können – und sie muss sich flexibel auf methodische Weiterentwicklungen und Bedarfe anpassen können.
All das ist politisch unbequem – entscheidet man doch am liebsten in vertrauter Runde mit Gleichgesinnten. Doch die Macht zu entscheiden, muss in einer Demokratie mit der Pflicht einhergehen, aus Fehlern zu lernen und es besser zu machen.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Zukunftsforschung und Sicherheitspolitik" erschienen.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 112-117
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