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01. Jan. 2004

(Ver)fassungslose EU

Die europäische Verfassung ist gescheitert. Doch ein Scheitern birgt immer auch die Chance eines
Neuanfangs und der sei allemal besser als ein fauler Kompromiss wie der Vertrag von Nizza. Die
Hoffnung, bis Ende 2004, wie Bundeskanzler Schröder es möchte, eine Einigung zu erzielen, teilt
Ulrike Guérot nicht, sie setzt eher auf Luxemburg, das mit seinem Ministerpräsidenten und überzeugten
Europäer, Jean-Claude Juncker, die EU-Präsidentschaft im Jahr 2005 übernimmt.

Am 13. Dezember 2003 ist die europäische Verfassung gescheitert, aber der öffentliche Aufschrei ist interessanterweise ausgeblieben. Dabei war es – nach Maastricht, Amsterdam und Nizza – nunmehr schon der vierte Versuch in zehn Jahren, endlich eine politische Union zu begründen, die so dringend notwendig ist, um die Währungsunion zu flankieren und das Demokratiedefizit der EU zu beheben. „Durchwurschteln“ wird weiterhin das Gestaltungsprinzip der EU bleiben, wenn jetzt die Osterweiterung ohne Vertiefung und Stärkung, sondern lediglich auf der Grundlage des schlechten und völlig unzureichenden Vertrags von Nizza stattfinden wird. Denn der Vertrag von Nizza mit seiner komplizierten „dreifachen Mehrheit“ wird bei Abstimmungen kaum konstruktive Mehrheiten möglich machen: Einige Simulationen haben errechnet, dass Nizza vielleicht nur in zwei Prozent aller Entscheidungen eine Einigung erlauben wird.

Der 13. – das Schicksalhafte der Zahl ist bekannt – war also ein Unglückstag für Europa, den unsere Kinder uns vielleicht einmal als verpasste Chance vorhalten werden. Die Zivilbevölkerung, die über anderthalb Jahre in einen Konventsprozess eingebunden wurde, weil die EU „bürgernäher“ gemacht werden sollte, muss sich auch betrogen vorkommen: Jetzt gibt es keine Grundrechtecharta, keinen Außenminister, weder „Gesicht“ noch „Stimme“ für die EU in Form eines gewählten Europäischen Ratspräsidenten. Es heißt Abschied nehmen von Vergleichen mit „Philadelphia“ und den „Federalist Papers“ – Europa ist eben nicht so etwas wie die USA!

Aber vielleicht war der 13. auch ein Glückstag? Denn ein fauler Kompromiss hätte ebenfalls keine tragfähige Grundlage für das erweiterte Europa dargestellt, und es war insofern gut, dass sich die beiden ventilierten Kompromissvorschläge – die Anhebung des Bevölkerungsquorums von 60 auf 64 oder 65 Prozent oder die Vertagung der Frage der Stimmengewichtung um vier oder fünf Jahre – schließlich nicht durchgesetzt haben. Jenseits von Schuldzuweisungen für das Scheitern war es daher richtig, dass sich Frankreich und Deutschland klar auf die Grundlage des Verfassungsentwurfs gestellt haben, der eine doppelte Mehrheit von 50 Prozent der Staaten und 60 Prozent der Bevölkerung vorgesehen hat. All denjenigen, die im Nachgang Jacques Chirac unterstellt haben, er habe den Gipfel platzen lassen, um die Osterweiterung zu torpedieren und „Kerneuropa“ durchzusetzen, sei in Erinnerung gerufen, dass sich Frankreich mit der Akzeptanz dieser Regelung klar auf die Seite der Integrationsbefürworter gestellt hat. Das war in Nizza noch nicht der Fall. Chirac mag cholerisch sein, aber er hat keinen „Metaplan“. Und es war richtig, den Polen ein klares Signal zu setzen, dass sich in der EU nicht derjenige die Meriten verdient, der aufbegehrt, sondern derjenige, der Kompromisse ermöglicht. Die Lektion, die die Polen lernen müssen, ist, dass reale Einflussnahme in der EU letztlich nicht über Blockade zu erreichen ist, die nur in die Isolation führt, sondern im Gegenteil über das Herbeiführen von Gestaltungsmöglichkeiten.

Jetzt lautet die Frage: Was passiert nun? Die Antwort ist: nichts. Jedenfalls zunächst einmal. Europa muss sich beruhigen und neu sortieren. Für den zweiten Anlauf, über die Verfassungshürde zu springen, müssen jetzt Kräfte gesammelt und einige Parameter neu abgesteckt werden. Das wiederum braucht Zeit. Die irische Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2004 wird hier nichts ausrichten können, allein schon, weil in Spanien Wahlen anstehen, im Juni ein neues Europäisches Parlament gewählt wird und im Juli eine neue Kommission eingesetzt wird. Der „Prodi-Faktor“ wäre damit auch beseitigt.

Frühestens unter niederländischer Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte wird sich eine neue Dynamik entfalten. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat zwar den Wunsch geäußert, dass der Verfassungsprozess bis Ende 2004 abgeschlossen sein soll, ob das gelingen kann, ist jedoch alles andere als sicher. Viel wahrscheinlicher ist das Datum 2005, wenn die EU unter luxemburgischer Präsidentschaft steht. Diese Vorstellung ist allein deshalb verlockend, weil dann ein Großmeister der europäischen Integration, Jean-Claude Juncker, Ratspräsident sein wird. Denn die Aufgabe, die es dann zu bewältigen gilt, wird nicht geringer; im Gegenteil sogar noch größer. Es steht zu befürchten, dass die Verhandlungen über die institutionelle Reform dann nicht mehr zu trennen sein werden von den Verhandlungen über den neuen Finanzrahmen der EU, der 2006 verabschiedet werden muss. Wie hier die Stimmungslage ist, hat der jüngste Brief der sechs größten Nettozahler gezeigt: jedenfalls stehen die Zeichen nicht auf Großzügigkeit. Damit ist die Alternative für 2005 klar: Entweder gelingt der EU dann der große Wurf, sie sichert sich zugleich Verfassung und Finanzverfassung und macht damit endlich den Weg in die europäische Zukunft frei; oder aber beides fliegt uns um die Ohren. Dann allerdings hätten wir eine richtige Krise!

Bis dahin wird zwischen Taktik und Strategie zu unterscheiden sein. Die Strategie muss sein, bestmögliche Bedingungen für erfolgreiche Verhandlungen über die Verfassung à 25 herzustellen. Das Projekt Europa für und mit allen ist zu wichtig, als dass nicht ein letzter Versuch gewagt werden müsste. Taktisch können hierfür Plänkeleien über „Kerneuropa“ hilfreich sein. Chirac mag solche forcieren; er mag sogar perfide genug sein, den Beitritt noch ein bisschen zu verzögern, denn die französische Ratifikationsurkunde der Osterweiterung ist noch nicht hinterlegt.

Aber (noch) ist „Kerneuropa“ keine Lösung. Erstens, weil es außer den Belgiern keiner will und auch Deutschland – zu Recht – etwas weniger Eile hat als Frankreich; zweitens, weil es außerhalb der Verträge passieren müsste, mit großem, inhärenten Risiko für den Binnenmarkt und den Euro, und überhaupt die Frage der (verdoppelten?) Institutionen in einem solchen Szenario gar nicht geklärt ist; und drittens, weil überhaupt nicht klar ist, welche Politikbereiche – außer der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der wiederum ohne Großbritannien gar nichts passiert – sich denn überhaupt für „Kerneuropa“ eignen. Die Antwort ist: keine! Für das Herzstück der Europäischen Union, den Euro und den Binnenmarkt, brauchen wir alle an Bord.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2004, S. 72‑74

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